Palliativ & Zeiterleben. Группа авторов

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Bewusstsein oder subjektives Erleben ist konstitutiv an das Erleben von Zeit gebunden (James 1890). Nur das Erleben von Zeit erlaubt es uns, ein Bewusstsein von Objekten zu haben, die über die Zeit andauern:

      »Consciousness of temporal objects as temporal […] a special kind of awareness of temporal objects – an awareness of them as enduring« (van Gelder 1999, S. 245)

      Natürlich muss Bewusstsein die Zeit nicht als psychologische Kategorie enthalten, eher existieren und erleben wir gewissermaßen in der Zeit:

      »We exist within a transparent web of time« (Varela 1999, S. 266)

      Zeit ist stets eine implizite Kategorie. Das Erleben von Zeit kann aber auch explizit werden, wenn wir beispielsweise den Verlauf der Zeit oder eine Zeitdauer einschätzen sollen. Dies geschieht häufig nur implizit als eine Art Fehlersignal, wenn wir nämlich bemerken, dass etwas zu schnell vorüber ist (z. B. ein spannender Film) oder aber zu langsam vergeht (z. B. ein langweiliger Vortrag). In den letzten Jahrzehnten hat eine Fülle von Studien auf psychologische Prozesse und ihre neuralen Korrelate fokussiert, die Zeit als expliziten Gegenstand der Wahrnehmung hatten, z. B. in Untersuchungen zur Zeitdauerschätzung (Johnston und Nishida 2001; Meck 2005; Meissner und Wittmann 2011; Pollatos et al. 2014; Teki 2016; Wittmann 1999, 2013, 2015). Wir wollen uns in dem vorliegenden Text aber auf die Frage konzentrieren, in welcher Weise zeitliche Prozesse Handlungs- und Lebensvollzüge konstitutieren und bestimmen (Kupke 2009).

      Eine zeitliche Organisation des Verhaltens und Erlebens kann auf mindestens zwei verschiedenen Ebenen zum Gegenstand gemacht werden, die wir hier als »Mikro-Ebene« und »Makro-Ebene« bezeichnen. Auf der Mikro-Ebene entfalten sich unsere konkrete Handlungsplanung und unser Handlungsvollzug in der Zeit in vergleichsweise kurzen Zeitabständen von Sekunden oder auch nur Bruchteilen von Sekunden. Die adäquate zeitliche Abstimmung aller sensomotorisch gesteuerten Tätigkeiten einschließlich sprachlicher und nicht sprachlicher Kommunikation, der Navigation im Straßenverkehr oder der Bewegungsabläufe beim Sport findet auf dieser Mikro-Ebene statt. Zeit wird auf dieser Mikro-Ebene nicht unbedingt bewusst erlebt, sie dient vielmehr der Organisation unseres unmittelbaren Verhaltens, sodass wir die zeitliche Dimension implizit oder indirekt anhand des Ergebnisses von Handlungsvollzügen erleben. Auf dieser Ebene spielt sich auch die von Husserl konzeptualisierte passive Synthese der sogenannten Präsentation während eines aktuellen Augenblicks aus dem Zusammenwirken von Retention und Protention ab (Husserl 1928), so dass ein ständig fließender, kontinuierlicher Übergang von Moment zu Moment entsteht.

      Von dieser Mikro-Ebene unterscheidet sich in verschiedenen Hinsichten die Makro-Ebene. Auf der Makro-Ebene erleben wir Zeit bewusst, nämlich zunächst als das »Vergehen« von irreversibel auf die Zukunft gerichtete Zeit (James 1890; Minkowski 1971). Auf dieser Grundlage werden uns dann auch die Dimensionen von Zeit, nämlich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, bewusst oder explizit zugänglich. Hier handelt es sich um die Ebene, auf der wir unsere eigene Biographie oder Lebensgeschichte erinnern und unseren eigenen Lebensentwurf planen. Prozesse auf der Mikro-Ebene sind konstitutiv für die Prozesse auf der Makro-Ebene, Prozesse der Makro-Ebene können aber nicht auf die Mikro-Ebene reduziert werden (Vogel et al. 2018).

      Interessiert man sich für die zugrundeliegenden neuralen Korrelate der Zeitverarbeitung aus einer wissenschaftlichen Außenperspektive, spricht man am besten von kognitiven Leistungen, die auf der Funktionstüchtigkeit unseres Gehirns basieren. Bewusstsein ist dabei »subjective experience of cognitive function« und wird damit ein »concomitant phenomenon of cognition« (Fuster 2003, S. 249). Daraus ergibt sich bereits, dass die neuralen Korrelate des Bewusstseins als eine Menge verteilter neuraler Prozesse im Gehirn zu verstehen sind (Fuster 2003, S. 256). Welche Rolle die Prozessierung von Zeit für unser Verständnis des Kognitionsbegriffs hat, wird auch an der aktuellen Diskussion von »4e cognition« deutlich. Darunter ist zu verstehen, dass kognitive Prozesse nicht in abstrakter Isolation, sondern sinnvoll nur in Interaktion mit dem Körper, der das kognitive System trägt, sowie einer Umwelt zu verstehen sind im Sinne der 4e cognition: extended, embodied, enactive, embedded cognition (Barsalou 2008; 2010; Clark 1997; Noë 2004).

      A 2.2 Verhaltensorganisation in der Zeit (Mikro-Ebene)

      Wenn wir auf die Planung des Verhaltens in der Zeit fokussieren, dann greifen wir dabei auf Erinnerungsbestände zurück sowie auf aktuelle Wahrnehmungsinhalte, um auf deren Grundlage Handlungen für die unmittelbare oder spätere Zukunft vorzubereiten. Schon einfache bewusste Wahrnehmungen machen Kontinuität in der Zeit notwendig (Fuster 2003, S. 251). Bei dem Versuch, die funktionale Rolle des präfrontalen Kortex im Gehirn von Säugetieren zu bestimmen (Fuster 1997, S. 2), und nach Durchsicht der einschlägigen Literatur kommt der Neurowissenschaftler Joaquin Fuster zu der Einsicht, dass der präfrontale Kortex genau dieser Funktion der Organisation des Verhaltens in der Zeit dient. Fuster unterscheidet dabei die drei Zeitdimensionen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Der Vergangenheit ordnet er das psychologische Konstrukt des Arbeitsgedächtnisses (working memory) zu, der Gegenwart die Interferenzkontrolle (interference control) und der Zukunft die Handlungsvorbereitung (preparatory set) (Fuster 1997, 2003; Vogeley und Kupke 2007). Es ist die zentrale Aufgabe des präfrontalen Kortex, das Verhalten des Organismus in der Zeit zu organisieren: »Integration across time is a basic function of the prefrontal cortex and the basis of its cardinal role in the temporal organization of behavior.« (Fuster 2003, S. 109).

      Das mit der Vergangenheit assoziierte Arbeitsgedächtnis (working memory) ist dabei retrospektiv tätig (Fuster 1997, S. 230), es weist einen ständig wechselnden Inhalt auf, der gewissermaßen »online« bereitgehalten wird und einen operationalen Charakter hat (Fuster 1997, S. 231). Das Arbeitsgedächtnis ist dabei besonders relevant für die Vorbereitung von konkreten Handlungen (Fuster 1997, S. 230). Die mit der Zukunft assoziierte Handlungsvorbereitung (preparatory set) hat die Aufgabe, Handlungen vorzubereiten (Fuster 1997, S. 232). Im Gegensatz zum Arbeitsgedächtnis ist die Handlungsvorbereitung daher prospektiv tätig. Ein sehr ausführlich in den letzten Jahren diskutierter Beleg ist das sogenannte Bereitschaftspotenzial, das etwa im Zeitraum von einer Sekunde unmittelbar vor einer ausgeführten Handlung beobachtet werden kann (für eine umfassende und kritische Diskussion siehe auch Schmidt et al. 2016). Mit anderen Worten geht Aktivität im präfrontalen Kortex der Handlungsinitiierung im motorischen Kortex voraus. Diese besonders dem dorsolateralen Teil des präfrontalen Kortex zugeordnete Funktion lässt sich sowohl bei nichtmenschlichen Primaten (Hoshi und Tanji 2004) als auch beim Menschen zeigen (Johnson-Frey et al. 2005; Den Ouden et al. 2005). Die der Gegenwart zugeordnete hemmende Funktion (interference control) wird von Fuster als die dritte integrative Funktion des sogenannten präfrontalen Cortex (PFC) angesehen. Sie ist wichtig bei dem Schutz der Struktur oder der »Gestalt« des Verhaltens gegenüber störenden internen oder externen Einflüssen, die in Konflikt zur Handlungsplanung stehen können. Fuster setzt Gedächtnis und Gedächtnisabruf mit einer Form der selektiven Aufmerksamkeit, nämlich der Aufmerksamkeit für interne Prozesse gleich (Fuster 1997, S. 236 f.). Dass die Aufmerksamkeit von der Funktionstüchtigkeit des PFC abhängt, ist gut belegt (Stephan et al. 2004).

      Das resultierende Konzept der Organisation von Verhalten in der Zeit ist im Wesentlichen auf der Möglichkeit der Entwicklung von überzeitlichen Beziehungen (cross-temporal contingencies) wie Schemata, Ziele oder Handlungsintentionen aufgebaut. Die Komponenten des Arbeitsgedächtnisses und der Handlungsvorbereitung gleichen Vergangenheit und Zukunft gegeneinander ab (Fuster 1997, S. 236). Es resultiert eine einheitliche, holistische Struktur im Sinne einer zeitlichen »Gestalt«, ähnlich einer Melodie (Fuster 1997, S. 215). Vermutlich muss aber angenommen werden, dass der PFC zwar zeitliche Abstände bei der Verhaltensplanung überbrücken kann, diese aber nur in einem vergleichsweise kurzen Zeitfenster stattfinden, etwa in einer Kette von Handlungen, im rationalen Diskurs oder bei der Generierung von Sprache (Fuster 1997, S. 4). Das zeigen Studien, die eine Beteiligung des dorsolateralen PFC in einer auditorischen Zeitschätzungsaufgabe belegen (Nenadic et al. 2003). Daneben sind auch andere Regionen beteiligt, unter anderem das Cerebellum sowie der Temporallappen bei einer expliziten prospektiven Zeitintervall-Produktionsaufgabe (Tracy et al. 2000). Zeitliche Informationsverarbeitung im Gehirn auf der Mikro-Ebene ergibt sich damit als ein komplexer verteilter Prozess zwischen modalitätsspezifischen kortikalen Arealen und zusätzlichen präfrontalen Arealen und dem Striatum, die dem Gedächtnis und der


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