NALA - Der Hexenberg. Gabriela Proksch Bernabé

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Das Gezwitscher der Vögel,

      die vorbeiziehenden Wolken, all das wirkte auf magische Weise. Mit ruhigen, langsamen Atemzügen ließen sich die Träumer in die An- derswelt sinken, um eine Antwort auf ihre Frage zu finden. Die Fra- ge: Wie können wir Lilou, die weiße Araberstute, retten?

      Blaue Feder erschien am Horizont. Die Schamanin ritt auf der Fuchsstute Tanzendes Feuer über die Lichtung. Die Mustangher- de mit Mondlicht, dem gescheckten Mustang, den beiden Fohlen und Wave, der grau-schwarz gepunkteten Stute, folgte. Am Schluss trabte Wolfsherz auf dem Hengst Wakanda. Dieses außergewöhnli- che Pferd war schokoladenbraun. Mit seinen unterschiedlichen Au- gen, eines hellblau und eines dunkelbraun, besaß es die Fähigkeit, gleichzeitig in verschiedene Welten zu schauen.

      Greta, Emanuel, Paul und Claire sprangen auf und begrüßten die Medizinfrau und deren Lehrling überschwänglich. Besonders die zwei Jungen strahlten und umarmten sich brüderlich. Doch die Freude auf ihren Gesichtern wich bald besorgten Mienen. Sie spra- chen über das Problem mit Lilous Besitzern.

      „Wie wir es gelernt haben, beantworten wir Fragen auf unsere eigene Art. Wir erträumen ein Ritual im Medizinrad und lösen Pro- bleme nicht durch bloßes Nachdenken“, erinnerte Blaue Feder ihre Freunde.

      Emanuel mischte sich in die Unterhaltung der erfahrenen Zopf- menschen ein, indem er sein Wissen heraussprudelte: „Das Medi- zinrad, das wir benutzen, besteht aus den vier Himmelsrichtungen. Ihnen ist jeweils ein Element zugeordnet. Im Süden des Rades ist das Wasser, wie zum Beispiel Bäche, Quellen und Meere. Es steht für die Gefühle und das Herz. Man nennt diese Richtung den Fluss des Le- bens. Zum Westen hingegen gehört die Erde und alles, was Körper oder Materie ist. Hier geht es um Heilung, unser Zuhause und das, was wir berühren, also angreifen können.“

      ImageClaire ergänzte: „Ich als Köchin möchte sagen, dass auch die Nahrung hierher passt. Der Westen ist der Ort, an dem Magie er- fahren wird. Auf dem Platz von Großmutter Erde kann sich alles verwandeln, körperliche Heilung ist möglich.“

      Gleich fügte Greta hinzu: „Im Norden finden wir das Element Luft. Das steht für unseren Geist, die Gedanken, die Philosophie und den Humor. Hier öffnen wir uns für die verrücktesten und des- halb stärksten Ideen. Nichts ist so unaufhaltsam wie eine Idee, deren Zeit gekommen ist.“

      Paul, der bis jetzt abgewartet hatte, sagte in seiner besonnenen Art: „Das Element Feuer im Osten des Medizinrades unterstützt die spirituelle Seite von uns Menschen, die Vision. Wir fragen hier nach dem Weg unseres Herzens. Dann gehen wir auf das Licht, das am hellsten leuchtet, zu. Was bringt langfristig das größte Glück ins Le- ben? Starke, klare, wichtige Themen werden im Osten beleuchtet.“

      „Aber eigentlich gibt es fünf Elemente, denn im Zentrum des Rades befindet sich die geheimnisvolle Leere. In manchen Kulturen wird sie auch Liebe oder Äther genannt. Hier ist der Platz, wo alle Elemente sich begegnen und vermischen können. So werden sie zur Weisheit. Wenn wir das ganze Medizinrad befragt haben, setzen wir hier, in der Mitte, die Antworten zusammen. Das Besondere an der Philosophie des Rades ist, dass die Elemente und somit auch alle Teile des Menschseins gleichwertig auf einem Kreis angeordnet sind. Der Geist des Menschen ist nicht wichtiger als seine Emotionen, sein Körper oder sein Spirit.“ Es war die Schamanin Blaue Feder, die gesprochen hatte. „Setzt euch in die Himmelsrichtung, die ihr be- schrieben habt und lasst uns den Weg der Freiheit für Lilou erträu- men.

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      Die Träumer saßen in den vier Himmelsrichtungen des Steinkrei- ses. Blaue Feder hatte sich direkt unter der alten Eiche auf ihre wundervoll gemusterte Satteldecke gesetzt. Wolfsherz blieb bei der Mustangherde und spielte mit den Pferden. Auch das war wichtig. Die Tiere sollten in der Nähe bleiben und dadurch die Zeremonie unterstützen. Ruhig atmend versenkten sich die Träumer in eine meditative Stille. Alle suchten nach der Antwort auf die Frage, wie sie Lilou helfen konnten. Es dauerte eine Weile, bis die ersten Worte ausgesprochen wurden.

      Emanuel, der im Süden, am Platz des Wassers, saß, hatte die Vision, wie er mit seinem Medizintier, dem Delfin durch die Wellen schoss. Spielerisch sprang das elegante Tier durch die Luft. Dann tummelte es sich wieder im klaren Blau des Meeres. Emanuel fühlte sich leicht, frei und beweglich.

      Er sprach: “Lilou braucht jemand, der mit ihr spielt. Ihr Herz schließt sich, wenn man eine Leistung von ihr verlangt, die sie über- fordert. Sie sehnt sich nach Nala. Die hat mit ihr gespielt! Sternen- träumerin hat dem Pferd Zeit gelassen. Es konnte wieder vertrauen. Wir müssen einen Weg finden, wie sie zu dem Mädchen, das ihr endlich zugehört hat, kommt. Selbst hier bei uns wird Lilou niemals glücklich.“ Seine Stimme klang, als käme sie von weit her, aus einem fernen Land, jenseits des Ozeans.

      Claire, die im Westen des Medizinrades träumte, murmelte kryptisch: „Eine Botschaft aus der Zukunft taucht auf. Ich sehe die weiße Araberstute. Sie ist verletzt. Ich fühle ihren Schmerz und ihre

      Angst. Nicht nur Lilou sehnt sich nach Nala. Es ist auch umgekehrt so. Um zu verstehen, wie Heilung geschieht, braucht das Mädchen ihr Herzenspferd in ihrer Nähe. Sternenträumerin hat eine starke, natürliche Kraft. Sie wird ihren Weg zur Heilerin gehen, wenn wir sie weiter unterrichten und das Pferd zu ihr zu bringen.“

      Aus dem Norden meldete sich Greta. Sie saß am Platz des Win- des und des Geistes. „Das Schwert meines Verstandes kündigt eine Reise an. Ich sehe Nala auf Lilous Rücken über hohe Berge reiten. Die Araberstute braucht ein spezielles Training, um ihre volle Leistung im Distanzreiten zu erbringen. Das wird den Besitzern einleuchten. Das Höhentraining in den Alpen ist die beste Voraussetzung für den Erfolg des Pferdes, vor allem jedoch für seine Erholung und Hei- lung. Wie die schnellsten Läufer oft aus den Hochländern Afrikas stammen, könnte die sauerstoffreiche Luft in den Bergen das zu- künftige Rennpferd zum Sieg führen. Was später passiert, sehe ich nicht mehr klar. Die Bilder verschwimmen...“

      Jetzt fehlte noch die Vision aus dem Osten. Dort saß Paul. Sei- ne Art zu träumen war sehr speziell und oft schwer zu verstehen. Wie ein Orakel klang seine Stimme. Sie war tief und rau, fast flü- sternd. „Feuer, ich sehe Feuer. Es verletzt und reinigt. Aber es führt auch zum Weg des Herzens. Die beiden müssen durch die Flammen springen und ihre eigene Vision finden.“ Bisher waren Pauls Bot- schaften äußerst rätselhaft gewesen und hatten sich stets als wichti- ger Schlüssel zur Lösung entpuppt.

      Blaue Feder meldete sich aus der Mitte, dem Platz der Leere. Sie hatte alle Bilder auf sich einwirken lassen. Dabei beobachtete die Medizinfrau die Bewegungen eines zierlichen Tieres in der Krone der Eiche. „In den Blättern des Baumes springt ein rotbraunes Eich- hörnchen von Ast zu Ast. Es verbindet und vernetzt durch seinen emsigen Tanz die Träume, von denen ihr berichtet habt. Aber vor allem ist es verspielt und flink. Durch das Eichhörnchen als Ver-

      bündeten werden Geist und Körper wendiger. Es bereitet auf außer- gewöhnliche Herausforderungen vor. Dieses Medizintier gehört zur Heilung der beiden.“

      Eine frische Brise wehte über die Lichtung. Der Wind weckte die Träumer aus ihrer Trance. Die Mähnen der Mustangs flatterten. Das lange Haar von Wolfsherz wurde vom Luftzug zerzaust. Der Me- dizinlehrling beobachtete die Zeremonie von seinem Platz bei den Pferden. Er spitzte die Ohren bei jedem Satz, der von den Träumern erzählt wurde. Der Junge dachte an Rosalie, das Mädchen mit dem Wolfsgesicht und Nalas beste Freundin. Bei ihrer einzigen Begeg- nung in der Vollmondnacht hatte er eine tiefe Verbindung gespürt. Waren sie sich so ähnlich durch die Wolfsmedizin? Sehr deutlich hatte auch er Bilder vor den Augen. Der Junge sah Rosalie und Nala, Emanuel und sich bei einem ungestümen, fröhlichen Ritt über einen gewaltigen Bergrücken! Selbst wenn er nicht direkt an dem Ritual beteiligt gewesen war, seine Träume verwebten sich längst mit denen der Träumer im Medizinrad.

      Voller Zuversicht lehnte er sich an Wakanda. Die beiden unter- schiedlichen Augen des Hengstes wirkten auf ihn nicht beängsti- gend, wie das


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