NALA - Der Hexenberg. Gabriela Proksch Bernabé

NALA - Der Hexenberg - Gabriela Proksch Bernabé


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den Mädchen jedoch nicht klar. Der Sprung hatte sie

      in eine andere Wirklichkeit katapultiert. Unbedarft ritten sie den Pfad entlang. Wie aus dem Nichts tauchten plötzlich Schatten und flimmernde Gestalten auf. Unheimliche Klänge ertönten. Gandalf erstarrte, und selbst die Vögel hörten auf zu singen. Überwältigt von den furchteinflößenden Vorgängen zog sich Nalas Herz zusammen. Rosalie, die normalerweise stets einen Scherz auf den Lippen hatte, blieb stumm. Sogar Tendo legte den Kopf schief und hielt seinen Schnabel. Alle warteten ab. Nur ihr Atem und das gespenstische Wispern und Zischen waren zu vernehmen. Eine gefühlte Ewigkeit lang wagte es niemand, sich zu bewegen. Irrlichter tanzten durch die Luft und verformten die Baumrinden zu seltsamen Wesen. Atemlos sahen sie zu und ließen sich von ihrer Angst lähmen.

      „Plumps! Raschel!“ Das rotbraune Eichhörnchen sprang los und fegte mit erhobenem Schwanz durch die Blätter. Es hüpfte di- rekt auf eine Gestalt zu, die niemand von ihnen zuvor bemerkt hat- te. Da stand wie angewurzelt eine ältere Frau mit weißem, gezopf- tem Haarkranz. Sie trug Bergschuhe und eine blaue Schürze, die mit Edelweißblüten bestickt war. Auf ihrem gebeugten Arm hing ein Korb, gefüllt mit Kräutern und Pilzen. In der anderen Hand hielt sie einen Holzstock, mit allerlei Federn und seltsamen Amuletten geschmückt. Ihr freundliches, faltiges Gesicht und die leuchtenden, blauen Augen blickten den Mädchen erwartungsvoll entgegen.

      „Habt ihr euch also doch getraut!“ Mit diesem Satz begrüßte sie die jungen Medizinlehrlinge. „Ich warte schon eine ganze Weile. Die meisten Wanderer sind umgekehrt. Sie fürchten sich zu sehr, um durch das Tor zu treten. Das tapfere Pferd hat euch hierher geführt, nicht?“ Dem Eichhörnchen, das sich flugs in den Korb gesetzt hatte, strich sie sanft übers Fell. „Fini, lass die Schwammerl in Ruhe! Du kannst dir deine Nüsse selber sammeln“, sagte sie streng, aber lie- bevoll. Die Kräuterfrau setzte sich auf einen abgeschnittenen Baum- stumpf und seufzte ein wenig. „Nun, was sucht ihr denn hier?“

      Nala nahm all ihren Mut zusammen. „Wir suchen einen magi- schen Ort. Wahrscheinlich ist es ein Steinkreis. Wissen Sie, wo es so etwas gibt?“

      „Ich bin die Griseldis und kenn‘ mich aus in der Gegend, sagt man jedenfalls.“

      Rosalie konnte sich nicht mehr zurückhalten und platzte mit ihrem Anliegen heraus: „Wir müssen unbedingt unsere Lehrerin Blaue Feder finden und Wolfsherz und die Mustangs und vielleicht ist ja auch Emanuel im Steinkreis und...“, irgendwann ging ihr bei dem langen Satz die Luft aus.

      Tendo schwebte auf Nalas Schulter und setze sich. Griseldis hob ihren Blick und ließ ihn über Nala und ihr Schutztier gleiten. Fini, das Eichhörnchen hüpfte aus seinem Korb. Mit anmutigen Bewe- gungen sprang es zwischen den Ohren des erstaunten Gandalf hin- durch und kletterte durch die Mähne nach hinten zu Rosalie. Sie sahen fast aus wie die Bremer Stadtmusikanten: ein Pferd, darauf zwei Mädchen, eins mit einem Rabenvogel auf der Schulter, eins mit einem Eichhörnchen.

      Bei diesem Anblick schmunzelte die Frau und stellte fest: „Ster- nenträumerin und Feuerwolf, dann seid ihr es also wirklich. Die Prophezeiung ist wahr!“

      „Gehörst du zur geheimen Medizingesellschaft der Zopfmen- schen?“, fragte Nala wissbegierig.

      „Ja, deshalb weiß ich von euch. Ich bin eine Hagazussa, eine Zaunreiterin. Hier in den Alpen nennt man uns meist Hexen. Ich sitze also am HAAG, das ist ein ursprüngliches, fast vergessenes Wort für Zaun. Hier sieht man nicht nur eine Seite der Welt. Sich vorzustellen, es gibt eine einzige Wahrheit, ist eine Falle. Wie ihr

      wisst, gehören nicht nur Schamanen zur Gruppe. Hexen sind Heil- kundige, die sich mit Pflanzenmedizin und allerlei anderem Zauber auskennen. Wir Zopfmenschen sind Bewahrer von altem Wissen aus verschiedenen Traditionen auf dem ganzen Planeten und haben seit langer Zeit erkannt, dass es keine bessere oder schlechtere Kultur gibt. Es geht uns um die Heilung von Menschen, Tieren und Pflan- zen auf dieser Erde. Blaue Feder ist mit Tiermedizin vertraut und versteht deren Sprache. Sie liest Gedanken und kennt unsere Fragen, bevor uns selbst klar ist, was wir wissen wollen. Meine Medizin ist die Kräuterkunde. Ich kenne die Heilkraft der Pflanzen. Heute habe ich, außer den Pilzen, zum Beispiel Arnika, Beinwell und Johan- niskraut bei mir. Jeder und jede Einzelne der Zopfmenschen trägt mit speziellen Fähigkeiten dazu bei, dass wir glücklicher und weiser werden. Wir lehren Respekt vor allem, was lebendig ist. Ein tiefes Verständnis vom Träumen und Heilen erreichen wir nur, wenn wir voneinander lernen. Die Jungen von den Alten und umgekehrt, die Alten von den Jungen. Deshalb, seid willkommen!“

      Rosalie und Nala waren still geworden. Die Worte der Hagazus- sa Griseldis erinnerten sie an die tiefe Verbundenheit und die innere Ruhe, wie sie im Steinkreis zu spüren war. Auch in innigen Momen- ten der Verbindung mit den Pferden gab es diese Art von Einssein. Iyuptala (ee-yoo-P’TAH-lah), so nannte es das Volk der Lakota. Das hatte sie Blaue Feder gelehrt. Es gehörte zum größten Glück, dass man diese intensiven Augenblicke der Stille empfinden konnte. Nichts anderes war mehr wichtig, wenn das Gefühl von Einssein entstand.

      „Dann gehen wir doch gleich zum Steinkreis, los?“ Nala dräng- te zum Aufbruch.

      Griseldis blickte sie ruhig an, lächelte und fragte: „Die wispern- den und zischenden Schatten und Irrlichter hast du aber schon be- merkt, oder?“

      Das Mädchen nickte.

      Die alte Zauberin fuhr fort: „Wie jeder magische Ort ist dieser Steinkreis in Tirol einzigartig. Rosalie hat im Sommer den richti- gen Zeitpunkt abwarten müssen, um einzutreten. Damals war der Vollmond notwendig dafür, dass sich für Feuerwolf das Portal in die Anderswelt geöffnet hat. Es gibt verschiedene Tore und ihre Hüter, um einen heiligen Ort zu bewachen. Hier existieren Hüterinnen des Raumes und der Zeit. Zu mir, in diesen Raum, seid ihr durch das Tor des Sprunges gekommen. Die Spiegelungen der Ängste, das sind die Schatten und Irrlichter, verschwinden, sobald die Zeit reif ist.“

      An diesem Abend lümmelten die beiden Hexenschwestern bequem auf dem breiten Himmelbett in ihrem gemeinsamen Zimmer.

      „Außer deinen Stiften und Zeichenblöcken hast du doch wohl auch das Buch mitgebracht?“, fragte Rosalie.

      „Ich hab jede Menge Bücher dabei.“ Nala wusste genau, welches geheimnisvolle Nachschlagewerk ihre Freundin meinte und zwin- kerte ihr zu.

      „Was frag ich auch so blöd?“ Feuerwolf knuffte ihrer Medizin- schwester in den Arm.

      „Ich ahnte gar nicht, dass du derart romantisch bist“, feixte Nala und zeigte auf den weichen Stoff des Baldachins, der sich über das Bett spannte.

      „Als kleines Mädchen habe ich mir gewünscht, dass ein Ster- nendach meinen Schlaf bewacht, und ich finde das immer noch ge- nial. Damals hat mir Papa dieses tolle Himmelbett gebaut. Ich war so glücklich. Heute bin ich natürlich viiiiel cooler“, erklärte Rosalie.

      „Jetzt sehe ich sie auch, die winzigen, silbernen Sterne auf dem Himmelszelt, zu denen du vor dem Einschlafen hinaufschaust“, be- merkte Sternenträumerin.

      „Normalerweise ist das eher dein Ding, oder?“, zog die tempe- ramentvolle Rosalie ihre Freundin auf. „Aber genauso wie du, habe

      auch ich eine träumerische Seite. Deine wilde und entschlossene Kraft hat sich erst vor Kurzem in Südfrankreich entwickelt. Sonst würden wir uns vielleicht gar nicht so gut verstehen. Und jetzt her mit dem roten Buch!“, forderte die rothaarige Hexenschwester.

      Nala zog endlich das alte Werk aus ihrem Rucksack. In den Sommerferien hatten sie darin gelesen und wie von Zauberhand wa- ren ihre Medizinnamen, als Widmung auf der ersten, leeren Seite erschienen. Seither gehörte ihnen das mysteriöse Buch gemeinsam. Das hatten sie jedenfalls beschlossen. Sternenträumerin und Feuer- wolf lehnten sich zurück und widmeten sich genüsslich der Lektüre.

      Krafttiere

      und ihre Bedeutung in der Mythologie

Das Eichhörnchen
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