Feuerjäger: Sammelband. Susanne Pavlovic

Feuerjäger: Sammelband - Susanne Pavlovic


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Wand, auf dem ein hölzernes Kästchen stand. An der anderen Wand hing zu Liannas Erstaunen ein alter, dunkler Wandteppich. Sonst war der Raum leer.

      Lianna holte ein Taschentuch hervor und tupfte sich das Blut von der Hand. Zumindest hatte sie jetzt das Rätsel des Steins gelöst – entweder ein unwahrscheinlicher Zufall, oder ihr Blut hatte einen Mechanismus oder einen Zauber ausgelöst. Sie konnte nur hoffen, dass es sie auch wieder nach oben bringen würde, denn Ausgänge sah sie bisher nicht.

      »Schweiß oder Tränen hätten es auch getan.«

      Lianna wirbelte herum. Wie aus dem Nichts war ein Mann hinter ihr aufgetaucht, der nun beschwichtigend die Hände in ihre Richtung ausstreckte.

      »Zaubererhumor«, sagte er und grinste schief. »Muss man nicht teilen. Aber immerhin habt Ihr den Weg hier hinuntergefunden, ohne Euch etwas Wichtiges abzuschneiden.«

      »Wer seid Ihr?«

      »Ich bin in Eurem Kopf. Keine Sorge, ich weiß mich zu benehmen. Außerdem bin ich ein Wächter – wobei ich eigentlich erst jetzt anfange, Wache zu halten, denn über die Jahre war niemand hier, und es gibt mich nur, wenn jemand den Zauber auslöst. Vielen Dank hierfür übrigens – es ist doch eine schöne Abwechslung zur Nicht-Existenz.«

      »Und Ihr redet viel, wie mir scheint.«

      »Das ist die Nervosität. Dieses Messer, mit dem Ihr da auf mich deutet – ich habe zwar keinen Körper – glaube ich, nicht im eigentlichen Sinn, schließlich sind wir hier ja im Inneren Eures Kopfes – aber ich bin lebensecht genug, um mich zu fürchten.«

      Lianna ließ das Messer vorsichtig sinken, und der andere atmete auf. Er schien jung, kaum älter als sie selbst, und trug eine geflickte Robe. An seinem Knöchel klingelte leise ein Schellenband, wenn er sich bewegte.

      »Seid Ihr ein Spielmann?«

      »Nein – wie ich schon sagte – ein Wächter. Aber ich wurde nach dem Vorbild eines Spielmannes erschaffen – der, wie ich befürchte, gar nichts von dieser Ehre weiß, und sie womöglich gar nicht zu schätzen wüsste.«

      »Warum?«

      Der Spielmann hob die Schultern.

      »Keine Ahnung. Vielleicht, damit Ihr Euch nicht langweilt, hier im Inneren Eures Kopfes?«

      »Aber ich bin nicht im Inneren meines Kopfes!«

      »Bitte denkt nach. Wer, wenn nicht Ihr, sollte im Inneren Eures Kopfes sein?«

      »Ist das jetzt eine Prüfung? Versucht ihr, mich in den Wahnsinn zu treiben?«

      Der Spielmann winkte ab.

      »Aber nein. Ich bin Euer Fremdenführer.«

      »Na, viel gibt es hier unten ja nicht zu sehen.«

      »Ihr müsst genauer hinschauen.«

      Der Spielmann machte eine einladende Geste. Immer noch verwirrt trat Lianna an den Wandteppich heran.

      »Seht Ihr«, sagte der Spielmann.

      Feuchtigkeit und Schimmel hatten die Farben des Teppichs ihrer Strahlkraft beraubt. Lianna erkannte einen großen Umriss, der ein Baum sein musste, und schemenhafte Gestalten unter seinen Zweigen.

      Weiches Gras war unter ihren Füßen, als sie einen Schritt machte. Von irgendwoher drang Vogelgezwitscher. Die Luft roch süß nach Frühling.

      »Jetzt nehmt doch endlich das Messer runter«, sagte der Spielmann. »Oder wollt Ihr damit den Teppich aufschlitzen?«

      »Wo bin ich?«

      Der Spielmann seufzte.

      »Im Inneren Eures Kopfes. Wie ich bereits sagte.«

      Lianna streckte die Hand aus und berührte den Baumstamm zu ihrer Linken. Zarte Blütenblätter rieselten wie Schnee auf sie hinunter.

      Der Spielmann schwang sich auf einen niedrigen Ast und ließ die Beine baumeln. Ein braunes Huhn flatterte aus den Zweigen zu ihm hinunter und setzte sich auf seine Schulter. Mit dem Zeigefinger streichelte er das Gefieder, und das Huhn verdrehte den Kopf und gluckste wohlig.

      »Wohlan«, sagte der Spielmann, »Seht Euch um.«

      Lianna ließ das Messer sinken. Der Himmel über den Zweigen war blau, und die Sonne legte ein flirrendes Lichtmuster auf das Gras.

      Lianna ging um den Baum herum. In den Zweigen saß ein großer Vogel, wie Lianna ihn noch nie gesehen hatte. Er hatte einen langen, prächtigen Schweif und glitzerte und schimmerte in allen Farben, er war wunderschön, doch seine Augen waren traurig, und große Tränen fielen aus ihnen hinunter ins Gras. Der Anblick war ihr unerträglich, er öffnete eine Wunde in ihrem Inneren, und sie wandte die Augen ab und floh vor dem Schmerz.

      Einige Schritte weiter riss die Wiese ab und stürzte sich in einen Abgrund. Lianna wagte einen Blick hinunter. Tief unten saß ein großes, rotes und goldenes Tier, dessen Kopf von einer Feuerlohe umgeben war und an einen Löwen erinnerte. Lianna sah, wie der riesige Brustkorb sich hob und senkte, und dann öffnete das Tier seine goldenen Augen und sah zu ihr hinauf, doch sein Blick war nicht wild, sondern geduldig und ruhig.

      Lianna machte einen Schritt zurück. Der Spielmann hatte sich inzwischen eine Laute aus den unerschöpflichen Tiefen des Baumes gezaubert und spielte eine süße, traurige Melodie. Über das weiche Gras ging sie hinüber zu ihm, um ihn zu fragen, was nun von ihr erwartet werde.

      Ein leises Schnauben ließ sie innehalten. Hufe auf dem weichen Gras, beinahe lautlos, und ein vertrauter, so vertrauter Geruch. Doch es war kein Pferd, das an sie herantrat, majestätisch, mit dunklem Blick und aufmerksam spielenden Ohren, es war ein Einhorn.

      Sie streckte die Hand aus und ließ es schnuppern, und unendlich sanft legte es die Nase in ihre Handfläche. Sie trat näher und berührte die üppige, schneeweiße Mähne, die durch ihre Finger floss wie Seide.

      Das Einhorn senkte den Kopf, und sie begann, es zwischen den Ohren zu kraulen, wie sie es beim Schwarzen immer tat. Das Einhorn schnaufte zufrieden. Sie lehnte sich gegen den festen, soliden Körper, nahm die Wärme in sich auf, den vertrauten Geruch, betrachtete den geschwungenen Rücken, die runde Kruppe, die grazilen Beine und eisenharten kleinen Hufe. Sie wollte aufsitzen und davonreiten, die Einheit mit diesem großartigen Tier spüren, aufbrechen und nicht zurück schauen.

      »Meinen Glückwunsch«, sagte der Spielmann hinter ihr leise. »Du hast dich entschieden.« Sie sah über die Schulter. Er stand da und lächelte sie an.

      »Und das war alles, was von dir erwartet wurde«, fuhr er fort. »Wie überhaupt im Leben. Es wird nichts von uns erwartet – nur, dass wir uns entscheiden. Kein Richtig oder Falsch, Gut oder Schlecht ... einfach ...« er hob die Schultern und machte eine hilflose Geste, »... eine Entscheidung. Und manchmal ist das mehr, als wir bewältigen können, nicht wahr?«

      Sie nickte und schluckte trocken. Er streckte die Hand nach ihr aus.

      »Komm mit«, sagte er. »Ich will dir erklären, was du gesehen hast.«

      Gehorsam kam sie zu ihm, und er nahm sie mit um den Baum herum.

      »Beginnen wir mit dem Einfachen«, sagte er. »Der Baum steht für das Leben. Aus einem winzigen Samenkorn wächst er hinauf in den Himmel, sein Stamm ist hoch und stark, seine Äste sind voller Saft, und er trägt Früchte und bietet ein Heim für unzählige kleine Lebewesen. Doch wie er entstanden ist, muss er vergehen. Wir sehen es nicht, denn wir vergehen viel schneller als er, aber die Zeit wandelt ihn, sie schwächt ihn und wird ihn irgendwann zu Fall bringen. Du hast auch die Zeit gesehen: Sie ist das Tier im Abgrund. Sie ist geduldig. Sie weiß, irgendwann werden die Wurzeln des Baumes zu schwach sein, um ihn zu halten, und er wird fallen. Es geschieht von selbst. Sie muss nur warten.

      Siehst du den Vogel in den Zweigen des Baumes? Die Gelehrten nennen ihn Phönix. Er steht für die Liebe. Die Liebe ist stark und hilflos zugleich. Sie macht uns zu den Menschen, die wir sind, lässt uns Heldentaten vollbringen, sie begründet und zerstört Königreiche und gebiert die schönsten Lieder, sie ist


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