Feuerjäger: Sammelband. Susanne Pavlovic
sie bei den Göttern ruhen – habt Ihr mit Arik Verstecken in den Kornfeldern gespielt. Ihr habt ihn auf den Mund geküsst und dabei gestrahlt wie die liebe Sonne. Mit neun Jahren habt Ihr von Pferd zu Pferd seine Hand gehalten, und mit elf oder zwölf habt Ihr die kleine Jula verprügelt, die es wagte, seine schönen blonden Haare zu streicheln. Ihr habt ihn ausgesucht. Ihr wisst es nur nicht mehr.«
Lianna nickte zögernd. Erin nahm die Hand von ihrem Mund und zog sie an sich.
»Armes Mädchen. Euch fehlt eine Mutter. Ich tue, was ich kann, aber sie ist nicht zu ersetzen.«
Lianna legte die Wange an Erins Schulter und ließ sich sanft wiegen.
Mit welcher Lücke würde sie leben können? Sollte sie sich das linke oder das rechte Bein abhacken lassen?
»Ich muss raus hier«, sagte sie und schob Erin von sich. »Ich brauche Bewegung.«
»Draußen herrscht Schneetreiben!«
»Macht nichts. Ich bin bald zurück, keine Sorge.«
In aller Eile hüllte Lianna sich in ihre Winterausrüstung: Pelzmantel und Kappe, hohe, gefütterte Stiefel, schafswollene Handschuhe und ein langer Schal, den sie sich übers Gesicht ziehen konnte, wenn der Wind zu heftig blies. Erin sah zu und wagte noch einige Einwände, die Lianna an sich abprallen ließ. Wie sollte sie einen klaren Gedanken fassen, wenn sie bis zum Hals im Durcheinander steckte? Wenn man andauernd auf sie einredete? Rund um die Uhr gab es jemanden, der etwas von ihr wollte. Niemand fragte, was sie wollte. Sie brauchte Abstand, Luft zum Atmen, oder sie würde nie einen klaren Gedanken fassen können.
Sie stürmte aus dem Wagen und über den flach getrampelten Schnee hinüber zu den Weiden. Einen sehr überraschten Pferdejungen wies sie an, den Schwarzen zu satteln, und fasste selbst mit an, als es ihr nicht schnell genug ging. Der Schwarze fing ihre Unruhe auf, keilte aus, als sie den Sattelgurt anzog, und zwickte den Pferdejungen unsanft in die Jacke.
Behindert durch ihre dicke Kleidung, ließ Lianna sich in den Sattel helfen. Kaum saß sie, trieb sie den Schwarzen vorwärts, und mit gewaltigen Sätzen, als sei ein wildes Tier hinter ihm, hielt er auf die Straße zu.
Er wurde von selbst langsamer, als er sich durch eine Schneewehe hinauf zu einer Linie von Bäumen pflügte, die den Verlauf der Straße markierten. Zu dieser Jahreszeit verlief zwischen den Bäumen nicht mehr als ein verwehter, eisiger Trampelpfad im Schnee, hauptsächlich von den Sidarthi getreten, die am nahen Waldrand Feuerholz besorgt hatten. Die Sesshaften machten ihrem Namen alle Ehre und saßen in ihren Häusern, vermutlich, bis der Frühling kam. Wenn sie dann ins Freie krochen und feststellten, dass in ihren Wäldern einige Bäume fehlten, wäre die Ranessa-Sippe längst über alle Berge.
Frühling. Bis dahin wäre sie mit Arik verheiratet. Die Varellan würden damit zur zweitwichtigsten Familie aller Sidarthi aufsteigen, Arik zum zweitwichtigsten Mann gleich nach Van Ranessa, und nach dessen Tod würde er die Geschicke aller Sidarthi in Abrantes leiten. Er, nicht sie.
Warum musste sie überhaupt heiraten? Warum konnte sie nicht alleine die Sidarthi anführen? Eine Kriegskönigin, schön und stark und mutig und niemandem Rechenschaft schuldig. Die Vorstellung gefiel ihr. Probeweise spürte sie die süße, heroische Einsamkeit dieser Rolle. Es war ein starkes Gefühl.
Sie erreichte die ersten Bäume, die ein wenig Schutz vor dem dichten Schneefall boten. Lianna zügelte den Schwarzen, der unwillig mit dem Kopf schlug. Wenn sie ihn zu sehr rennen ließ, würde er ins Schwitzen geraten und sich mit durchnässtem Fell den Tod holen. Sie klopfte seinen Hals. Ihr edles, blankschwarzes Ross sah mit seinem dichten Winterfell aus wie ein zotteliger Bär, aber sein wildes Temperament war alles andere als im Winterschlaf.
Sie lenkte ihn bergauf, zwischen schneebepackten Tannen hindurch, die aussahen wie massive weiße Kegel, vorbei an hohen alten Buchen, an deren Wetterseite der Schnee klebte. Es war still. Der Schnee schluckte die Schritte des Schwarzen. Unablässig rieselten die Flocken auf Pferd und Reiterin herunter.
Irgendwo dort oben im Wald verlief die Straße nach Wiesenheim, vermutlich nur erkennbar an einem flachen Einschnitt zwischen den Bäumen. Die konnte sie als Orientierung nehmen und, wenn ihr nichts anderes einfiel, auf ihr nach Wiesenheim reiten. In ihrer Tasche hatte sie einige silberne Halbkronen. Genug, um eine Mahlzeit, ein Bett und einen Stallplatz zu bezahlen, falls sie keine Lust hatte, bis heute Abend ins Lager zurückzukehren.
Nach einiger Zeit gelangte sie an den Fuß eines felsigen Abbruches, der sie zwang, nach Westen abzubiegen und seitlich zum Hang weiterzureiten. Der Abbruch wuchs sich zu einer respektablen Klippe aus; sie musste den Kopf in den Nacken legen, um die Bäume am oberen Rand erkennen zu können, und unablässig schneite es. Dann begann das Gelände am Fuß des Felsens, langsam, aber stetig abzufallen. Dichtes Gebüsch und niedrige Tannen drängten sie vom Fels ab und weiter den Berg hinunter.
Der Schwarze dampfte mittlerweile in der kalten Luft, obwohl Lianna behutsam ritt. Auch ihr war unangenehm warm unter ihren Pelzen. Von Weg oder Straße war keine Spur, und je weiter sie ritt, desto unwegsamer wurde das Gelände. Alte, gelbe Tannennadeln hatten sich in der Mähne des Schwarzen verfangen, und er stapfte unwillig durch den tiefen Schnee.
Doch Lianna wollte nicht umkehren. Sie wollte die Straße nach Wiesenheim finden, in die Stadt reiten und sich unter die Sesshaften mischen, und sie hatte nicht die geringste Lust, sich das Gekletter und den Kampf mit schneebeladenem Gebüsch erneut anzutun. Nach vorne musste es einfacher und schneller gehen. Sie trieb den Schwarzen den Hang hinunter, einem Dornengestrüpp ausweichend, bis sich endlich eine Schneise bot, die es ihr erlaubte, über felsiges Gelände wieder bergauf zu reiten.
Sie erreichte das Ende des Felsabbruches und gelangte zwischen verschneiten Findlingen endlich hinauf in ebenes Gelände. Die Bäume standen weniger dicht und ließen sie bereitwillig passieren.
Die Straße sah sie erst, als der Schwarze mit einem Satz den Straßengraben übersprang. Er blieb stehen und spitzte schnaubend die Ohren. Frostiger Dampf stieg von seinen Nüstern.
Lianna sah sich um, doch der wirbelnde Schnee, der sie umgab, ließ wenig erkennen. War das überhaupt die richtige Straße? Alles sah fremd aus. In welche Richtung musste sie reiten? Konnte sie sich etwa so verirren, dass sie vor Einbruch der Dunkelheit nicht mehr aus dem Wald herausfand?
Sie atmete tief durch und wischte sich geschmolzenen Schnee aus dem Gesicht. Dies musste die richtige Straße sein – wie viele davon sollte es geben in einem Wald am Ende der Welt, der sich zwischen zwei bedeutungslosen Kleinstädten erstreckte? Und das wiederum bedeutete, dass sie jedenfalls unter Menschen landen würde, wenn sie dem Weg nur lange genug folgte.
Sie trieb den Schwarzen an und wandte sich nach rechts. Nach geraumer Zeit meinte sie, etwas vage Bekanntes in der Umgebung aufzufangen: der Baum mit dem dicken, abgebrochenen Ast, die sanfte Wegbiegung, die über eine Hügelkuppe führte. Wenn sie sich nicht täuschte, war sie ganz in der Nähe des merkwürdigen Steins. Hier war sie zuletzt gewesen, als kaum eine Puderschicht Schnee die matschige Schicht aus vermodernden Blättern bedeckt hatte.
Sie kniff die Augen zusammen und musterte die Bäume zu ihrer Rechten, und bald sah sie ein schwaches Aufschimmern der metallenen Opfergaben zwischen den Ästen. Sie saß ab und versank augenblicklich bis zum Knie im Schnee. Den Schwarzen am Zügel, näherte sie sich der Stelle, wo der Stein unter dem Schnee begraben war. Zu ihrem Erstaunen war kürzlich jemand hier gewesen: Der Schnee war aufgewühlt, Fußstapfen führten rund um den Stein und in Richtung Wiesenheim davon. Der Besucher hatte Schnee vom Rand des Steins gewischt und seine Gaben hinterlassen: ein Schälchen mit Milch, zwei kleine, flache Brote und eine Lederschnur mit einem grob geschnitzten Holzsymbol. Lianna streifte einen Handschuh ab und tauchte einen Finger in die Milch. Sie war noch warm. Lianna nahm einen Schluck davon und brach sich ein Stück von dem Brot ab. Es war grob und enthielt jede Menge Spelz und offensichtlich keinerlei Salz. Sie spie den Bissen aus und spülte mit Milch nach.
Mit der behandschuhten Hand strich sie die dicke Schneehaube beiseite und suchte nach dem achtzackigen Stern. Wie schon so oft, fuhr sie die Linien nach.
Sie war sicher, Thork würde sehen, was sie übersah.
Mit