Unerfüllte Träume einer jungen Liebe. Marie-Claire de Bergér
Bei diesem Durchstieg habe ich festgestellt, dass sie gut zu klettern ist, technisch bei guten Verhältnissen ein vierter Grad. Bei schlechtem Wetter kann aus einem vierten Schwierigkeitsgrad auch schnell ein fünfter Grad werden, wenn die Kletterstelle mit Eiswasser überzogen ist. Du schaust so skeptisch drein, Schatz, das brauchst du nicht, da ich die Wand und die Route, welche ich gehen werde, kenne. Das ist für mich eine normale Bergtour. Aber mach dir bitte keine Sorgen, bei schlechtem Wetter werde ich erst gar nicht in die Wand einsteigen. Drittens: Eine Freundin habe ich nicht, war bis jetzt immer nur mit den Bergkameraden in den Bergen unterwegs. In der Steiermark, dem Gesäuse, der Rax und in den Westalpen. Meistens mit Peter und Toni. In diesem Kletterrevier der Wiener Bergsteigerelite haben wir schon viele Touren unternommen. In den Hohen Tauern, der Großglockner Nordwand, der Grand Capucin Ostwand, der Drue Westwand und der Torre Trieste Südwand mit Claudio Barbier 1957. In den Westalpen noch die Lyskamm Nordwand, die Breithorn Nordwand und jetzt die Matterhorn Nordwand. So, das sind im Moment eigentlich meine wichtigsten Schandtaten im Gebirge. Meine Hobbys sind: das Theater, Musik, wie du weißt, Literatur und im Winter Skilaufen. Dabei habe ich mit Peter die Überschreitung des Gosaukammes mit Skiern im Frühjahr 1956 durchgeführt. Nun, das war’s bis heute. Und was wirst du mir mitteilen, Kleines?“
Nun war sie an der Reihe, ihm ihr bisheriges Leben zu erzählen. „Also, ich wohne in Trostberg an der Alz im schönen Chiemgau. Wir wohnen fünfundzwanzig Kilometer vom Chiemsee entfernt. Ich gehe in Wasserburg am Inn auf die Realschule für Mädchen, in die Förderklasse für Haushaltswesen und Sozialpädagogik, und bin zurzeit in der fünften Klasse – auf dem Gymnasium ist das Untertertia. Mein Berufsziel ist vielleicht Konzertsängerin. Wenn ich keine Möglichkeit sehe, meine Stimme auszubilden, werde ich einen sozialen Beruf erwählen. Meine Mutter hat ein Trachtengeschäft mit Landhausmoden, Trachtenaccessoires, Stoffen für Dirndlkleider und Zubehör. Einen Teil der Geschichte unserer Familie hast du ja bereits mitbekommen. In meiner Freizeit gehe ich gerne ins Theater, wir haben ein Abo für die klassischen Konzerte der Münchener Symphoniker. Ich liebe, wie du weißt, die klassische Musik und die amerikanischen Songs. Außerdem bin ich in zwei Kirchenchören, spiele leidlich Klavier, gehe in die Berge, mag die Alpenflora und das Fotografieren. Wir singen mit dem Chor viele Konzerte, die hier in einigen bekannten Kirchen stattfinden. Ich mache gerne Handarbeiten und besitze eine kleine Rauhaardackelhündin mit Namen Walburga, genannt Burgel. So, Bub, jetzt weißt du a wengerl von mir und meiner Familie, gell.“
„Ach, weißt, mit deiner Familie zu leben, ist ganz schön aufregend. Was ich in den letzten vierundzwanzig Stunden so mitbekommen habe, ist schon eine Geschichte wert. Wenn ich das erzählen würde, wären ein paar Tage nötig. Aber du hast vieles von mir erfahren, was gute Freunde oft nicht von mir wissen“, erwiderte Diether lachend.
„Ich glaube, wir haben genug getratscht, ich bekomme allmählich Hungergefühle. Gehe nun ins Bad, hoffentlich ist es nicht besetzt?“, meinte Uschi schmunzelnd. Diether ließ sie aufstehen und sie huschte aus dem Schlafstüberl. Gott sei Dank, das Badezimmer war frei.
Es roch bereits nach frisch aufgebrühtem Kaffee. „Also ist Mariele schon in der Küche“, dachte Ursula. Sie beeilte sich mit ihrer Morgentoilette, damit Diether anschließend ins salle de bains konnte. Flink kehrte sie ins Zimmer zurück. Rasch beendete Diether ebenfalls seine Morgenwäsche. Unterdessen hatte sich Ulli angekleidet und über ihr Dirndl eine Trachtenstrickjacke gezogen. Sie sah in diesem Ensemble hinreißend aus. „Burli, i geh derweil hinunter in die Kuchl und helfe Mariele ein wenig beim Tischdecken, gell. Du kannst dich ja in der Zeit in Schale werfen, pfüet di.“
„Ja meine Kleine, dies werde ich tun, dann kimm i auch herunter, gell“, lachte er verschmitzt. Ulli sauste wie ein Wirbelwind das Treppengeländer herab und landete unsanft vor der Küchentüre.
„Ei, wer fällt mir denn da vor die Füße?“, rief die Baronin.
„Nun ja, es sollte schnell gehen, Urs hat anscheinend das Geländer poliert, so schwungvoll war i noch nie herunten“, grinste Uschi vielsagend.
„Du sollst ja auch nicht das Treppengeländer benutzen, Ursula, das tut eine junge Dame nicht mehr, besonders, wenn sie frisch verliebt ist, du Racker“, schimpfte Mariele belustigt.
„Kann ich dir noch zur Hand gehen?“, fragte ihr Mündel lachend.
„Na warte, du Lümmeline“, rief Mariele und warf ihr einen Topflappen an den Kopf, den Diether geschickt auffing.
„Was ist denn hier los, werden schon die Küchenutensilien zum guten Morgengruß benutzt“, schmunzelte er belustigt.
„Ja, ihr könnt mir noch etwas helfen!“ Mariele zeigte den beiden, was sie noch alles ins Esszimmer hinübertragen konnten. Die zwei halfen gerne und schnell waren die Dinge aus der Küche auf dem Tisch.
Da erschien Urs auf der Bildfläche. „Oh, das ist ja mal ein prächtiges Frühstückszenarium, das lasse ich mir gefallen. Guten Morgen, meine Damen, meine Hübschen.“
„Guten Morgen, mein Bester“, ertönte Marieles Stimme.
Urs wandte sich an Diether. „Auch gut genächtigt, trotz der Höhe?“
„Sehr gut sogar, habe geschlafen wie ein Murmeltier, gell, Kleines?“ Das konnte Ulli nur bestätigen.
„Ach, weißt du, Urs, die Luft und die Liebe lässt uns ruhiger werden“, antwortete Uschi verschmitzt.
„Hör dir dieses Gör an, Urs, gerade mal sechzehn Jahre alt und spricht von der großen Liebe“, lachte Marie-Theres.
„Nun Mariele, heutzutage muss man die jungen Menschen sehr ernst nehmen. Ich finde es großartig, dass unser junger Freund mitgekommen ist. Er hätte auch sagen können: Nö, das ist mir zu kompliziert, ich fahre lieber nach Chamonix oder heim nach Wien. Das bestärkt mich in meiner Menschenkenntnis, dass er Charakter und soziales Empfinden für einen Teenager hat, dem er gerade die erste Liebe erklärt hat. Er ist auch kein Larifari, so wie ich ihn eingeschätzt habe. Diether ist eine Persönlichkeit mit einem gesunden Menschenverstand. Unsere Kleine ist ein bildhübsches, gescheites Madel, das aus gutem Hause kommt. Warum soll er sich nicht in sie verlieben? Die erste große Liebe ist so schön, man wird sie nie vergessen, auch wenn man vielleicht nicht zusammenkommt. Schau uns an, bei uns ist und war es das gleiche Schicksal und: Sind wir auseinandergegangen? Nein, wir sind immer noch beieinander und das seit zehn Jahren. Ich hoffe noch inständig auf eine Heirat, wenn das vermaledeite Hausgesetz derer von Trostburg endlich außer Kraft gesetzt wird“, resümierte Urs am Frühstückstisch.
„Also, Herr Leutnant, ich fühle mich sehr geehrt von Ihren liebevollen Worten und ich werde mich bemühen, niemanden zu enttäuschen, am allerwenigsten Uschi. Die Liebe auf den ersten Blick ist etwas Großartiges. Man kann sie nicht beschreiben, sie ist plötzlich da, wenn man den Menschen vor sich sieht, bei dem es gefunkt hat. Oder wie man so schön sagt: Der Blitz hat eingeschlagen! Egal auch, wenn man weiter weg wohnt, was bei mir der Fall ist: Es gibt Telefone und die Post. Ich weiß nicht, ob wir uns dieses Jahr noch sehen werden oder erst im nächsten Sommer“, erklärte Diether vorsichtig. Bei diesen Worten nahm er Ulli zärtlich in den Arm und küsste sie auf die Wange.
„Warum können Sie Ursula nicht treffen, Diether?“, fragte die Baronin aufgeregt.
„Bitte nicht aufregen, Mariele, du brauchst keine Angst zu haben. Diether muss fürs Examen büffeln“, erklärte Ulli der verdutzten Baronin.
Da unterbrach Diether Uschis Erklärung und meinte: „Vielleicht sehen wir uns dieses Jahr noch zu Weihnachten und vorher im Herbst auf dem Stripsenjochhaus. Mehr kann ich beim besten Willen noch nicht sagen.“
„Also liebe Leute, lasst uns träumen, die Träume weiterspinnen“, meinte Urs. „Träumen dürfen wir ja und Pläne schmieden ebenfalls. Wenn man keine Träume mehr hat, ereilen uns die Depressionen.“ Sprach es und stand auf, da er Bereitschaftsdienst hatte.
„Ihr Lieben, seid ihr fertig mit dem Frühstück?“, fragte die Baronin.
„Ja, wir sind satt und gehen vielleicht bis zum Berghaus Diavolezza hinauf, was hältst du davon, Mariele?“,