STECKSCHUSS. Ernst Rabener
Paul dämmerte, als er den unverkennbaren Mangel an Hörvermögen der beiden in Rechnung zog, dass Ottl und Luggi vermutlich die gängige Formulierung Wir kommen auf Sie zu verwendet hatten, die durch die vier gebrechlichen Ohren hindurch in den Köpfen entstellt und verzerrt angekommen sein musste.
Jäh überkam ihn noch tiefere Müdigkeit. Er gähnte, die Hand vor dem Mund, großmäulig und gedehnt, schüttelte den Kopf und meinte, erneut in überzogener Lautstärke, im Augenblick sei niemand verfügbar, man habe gerade mit einem höchst komplizierten Fall zu tun, und die Herrschaften sollten bitte so freundlich sein und gehen, er müsse zu einer dringenden Zeugenbefragung.
Er konnte nicht sehen, wie dem Gusti, als er das mitbekam, ein paar verlorene Tränen in die Augen traten.
»Und ich…« Sicherheitshalber zeigte er mit dem Zeigefinger auf seinen Brustkorb. »…oder einer meiner Kollegen wird sich an Sie wenden, wenn Ihre Hilfe gebraucht wird.«
Noch einmal hatte er stimmlich so zugelegt, dass es sogar Frau Binswanger hinter verschlossener Bürotür hätte mitbekommen können.
Die Friedl schimpfte in heftiger Erregung: Sie hätten überhaupt keine Hilfe nicht nötig und würden auch nie mehr in der Ruf-Notzentrale anrufen, man hab’ ja gesehen, wohin das führe!
Paul konnt’s nicht glauben, aber offensichtlich hatte er noch immer zu leise geredet. Das neuerliche Missverständnis entnervte ihn endgültig, er gab’s auf.
Als er abdrehen wollte, zog Alfons zwei Hefte aus der Innentasche seines Jacketts und gab sie der Friedl weiter. Die legte los, ehe Paul weg war:
»Den Herrn Nachtpolizisten heut’ Nacht, den zweien, denen konnten wir sie ja nicht mehr geben, verstehen S’, unsere Zeitschrift! Die wollten jeder ein Exemplar, aber dann konnten sie die doch nicht nehmen, wegen den Bestechungsvorschriften! Da durften sie die natürlich nicht nehmen, unser Machmal!, die zwei Hefte da, die neuesten! Und jetzt geb’ ich sie halt Ihnen, damit Sie’s an die Kollegen von der Nacht weitergeben, oder legen Sie’s meinetwegen bloß hier aus, dann können sie’s ja auch lesen, die zwei Kollegen, wo sie’s doch nicht haben nehmen dürfen heut’ Nacht, nicht?«
Paul fühlte sich schlagartig restlos erschöpft und endgültig unfähig, weiteren Widerstand zu leisten. Wortlos nahm er die zwei Machmal!-Exemplare, rollte sie zusammen und zeigte mit dem so entstandenen Rohr, ein mattes »Wiedersehn!« murmelnd, Richtung Ausgang.
Offenbar war für Schiedmüllers jetzt, wo sie ihre Heftchen hatten an den Mann bringen können, alles andere unwichtig geworden. Sie schlichen den Flur entlang davon, während Paul sich Gusti zuwandte.
So entging ihm, dass draußen vor der Tür ein jüngerer, etwas aufgeregter Mann mit Handy, der seine Kleinwüchsigkeit mit der Baseballmütze nur unzulänglich kaschieren konnte, die beiden abfing und in ein längeres Gespräch verwickelte, an dessen Ende alle drei zusammen davongingen.
Gustis Befragung war denkbar kurz und verlief so gut wie ergebnislos. Paul war einfach zu müde. Wissen wollte er nur, wo er, der Gusti, gestern Abend gewesen sei, hörte nicht hin, als er sagte, allein daheim, verbat ihm, heut’ zum Studieren nach München zu fahren, er müsse sich zur Verfügung halten, und kassierte, schon im Halbschlaf sein Handy.
Dann schlief er von einer Sekunde auf die andere auf dem Stuhl ein und sank in so tiefen Schlaf, dass er nicht einmal Sissilissi wahrnahm, als sie tuschelnd an ihm vorbei zum Büro der Binswanger Loni am Flurende trippelten.
VIII
Nachdem Lena eine Weile mit wachsender Wut vergeblich am Kaffeeautomaten herumhantiert hatte, holte sie die Frau Binswanger zu Hilfe, die aber auch nicht weiterwusste.
Sie zog sich verärgert wieder in Pauls Büro zurück und tat im Vorbeigehen, als gehe sie dessen Wortgefecht mit den gruseligen Alten nichts an.
Der Streit von vorhin fiel ihr ein, zwischen Paul und Karl. Da für sie momentan sonst nichts zu tun war, bis die zwei Mädels aufkreuzten, entschloss sie sich, ein Telefonat nach München zu führen. Es ging aber niemand an den Apparat, Mailbox gab’s auch keine. Sie wechselte nach nebenan, las auf Karls Computer den Ottl-Bericht und schüttelte den Kopf, aus mehr als nur einem Grund.
Vom Flur her hörte sie verwundert Paul weiterhin Unverständliches schreien, bis auf einmal wieder alles ruhig war.
Kurz darauf klopfte Frau Binswanger: Die beiden jungen Damen seien da.
Als sie sich im kleinen Nebenraum von Pauls Büro am Schreibtisch gegenübersaßen, hier die Lena mit fragendem Blick, dort die Sissi und die Lissi, sahen die sich zunächst schweigend und schüchtern an, als wüssten sie nicht recht, wer’s der Frau Polizistin sagen solle.
Lena leistete Hilfestellung, indem sie freundlich zu verstehen gab, dass sie über die Vorgänge letzte Nacht weitgehend im Bilde sei, und fragte noch ein Stückchen freundlicher, womit sie dienen könne.
»Wir haben…« Lissi gab sich einen Ruck. »Wir sind… also der Polizist heut’ Nacht, der hat uns wahrscheinlich im Verdacht und so, weil er hat uns gar nicht nach ’nem Alibi gefragt.«
Lena verstand diese Logik zwar nicht, nickte aber verständnisvoll und wunderte sich insgeheim, warum Paul, so lange er die beiden auch interviewt hatte, auf diese naheliegendste aller Fragen nicht gekommen war. Andererseits war es bedenklich bis verdächtig, wenn jemand sein Alibi unaufgefordert frei Haus lieferte.
»Und? Was habt ihr für eins?«
Wieder schauten sie sich scheu und zweifelnd an. Endlich holte Sissi zögerlich ihr Smartphone aus der Jackentasche und legte es ebenso zögerlich vor Lena auf den Tisch: »Ist da drauf.«
Sie versteckte ihre Händchen im Schoß und schaute nach unten in denselben, während Lissi der Lena, die sie neugierig fragend anschaute, einen hilfreichen Tipp gab: »Auf der WirDatei, links oben: Da ist’s drauf, unser Alibi.«
»Aha!« Lena war nicht wenig verwundert und nahm das Kästchen an sich. »Wie das?«
Beide schwiegen schüchtern und warfen sich ein paar verstohlene Blicke zu.
»Na, dann schauen wir mal!«
Was Lena schon in den ersten Sekunden sah, gab ihr deutlichen Aufschluss darüber, warum die zarten Dingerchen in dieser Sache unbedingt mit einer Frau hatten sprechen wollen.
»Oha!«, entfuhr es ihr halb belustigt, halb verblüfft, als sie das Filmchen hatte anspringen lassen: Die beiden lächelten und winkten lustig, fasernackt, kurz in Richtung filmendes Phone. Dann legten sie auf dem blanken Betttuch los: Erfrischende Wohllaute, heftiges Rascheln des Bettzeugs, gelegentliches Quietschen des Bettgestells. Lissis Kopf verschwand plötzlich zwischen Sissis zarten Schenkelchen, tauchte zur Hälfte wieder auf, verschwand wieder, kam erneut ein Stück zum Vorschein und machte Bewegungen, als müsse sie ständig was bejahen, während es der Sissi immer besser zu gehen schien, sie das eigene Köpfchen mit halb geöffnetem Rosenmund schön langsam in den Nacken bog und unter süßen Stöhnerchen das der Lissi mit beiden Händen forsch an den Haaren grapschte.
»Oioioi!« Es klang beinah anerkennend. »Und wie lang geht das so weiter da drauf?«
Sissi fing an zu schluchzen und weinte ein bisschen, in ihren Augenwinkeln erschienen zwei schimmernde Tröpfchen.
Als Lissi ihr ein Taschentuch gab, hatte sie selbst keins mehr, um sich zu schnäuzen.
Lena half aus.
»So zwei Stunden«, flüsterte Lissi ins weiße Tempo hinein.
»Ja sauber!« Lena gab sich erstaunt und verkniff sich einen Lacher, weil im Film die Lissi soeben das lächelnde Köpfchen ganz kurz aus der Sissi’schen Schenkelzange hob und listig in Richtung Handy zwinkerte. »Und das ist also euer Alibi?«
»Ja, klar!« Sissi riss sich zusammen. »Weil da läuft doch unten die ganze Zeit die Zeit mit und so, und da kann man uns dann auch drauf sehen, weiß nich, in der Zeit, da wo’s passiert ist mit dem Schorschi, wahrscheinlich.«