STECKSCHUSS. Ernst Rabener
zweite hatten die noch immer bei sich und konnten nach Herzenslust dran herummanipulieren! Was für ein eklatantes Versäumnis! Jetzt konnte er sich was einfallen lassen, wie er an dieses zweite herankam! Allerdings hatte er auch die Computer der WG-Insassen vor Ort lassen müssen. Ob die der Erkennungsdienst kassiert hatte? Es war einfach zu lange her, dass er das ganze Verfahrenszeug in der Polizeischule gelernt hatte.
In ein paar Minuten musste er die Lena wecken und konnte sie gleich mal befragen.
Gefahr, dass er doch noch einnicken könnte, bestand nicht: Zu wirbelig ging’s in seinem Kopf zu, zu spannend war’s, was Karl und vor allem die Profikommissare von der Kripo in Rosenheim zu seiner brillanten Ermittlungsarbeit und seinem nicht weniger brillanten Bericht sagen würden.
Um nicht unbeschäftigt zu sein, machte er sich nochmals über die Smartphones her und sah die Speicher durch. Der einzige Name, der neben denen der vier WG-Mitglieder, Gustis und Jackies in allen dreien erschien, und das gehäuft, war Rosi. Der war bei der Befragung der Mädchen seltsamerweise nicht gefallen.
Einen entsprechenden Nachtrag brachte er in seiner Bericht-Datei unter. Dann ging er die Lena wecken.
Gut aufgelegt war sie nicht, als er sie stupste und ihr die Uhrzeit nannte. Immerhin reichte es zu einem knapp bemessenen, eher lustfreien Küsschen, das auch für ihn wenig Erregungspotential hatte, weil sie gestern im Quattro Fontane mit ihrem Antipasto di Mare merklich mehr an Knoblauch verzehrt hatte als er.
»Stell dir vor: Komm ich zum Tatort…«
»Was für ’n Tatort?«
Ihren Grant schob er auf die frühe Stunde. Unbedingt wollte er nun, wenn auch viel zu gehetzt, in zusammenhängender Rede berichten, was sich seit dem schmerzlichen Abbruch ihres fortgeschrittenen Liebestreibens ereignet hatte, kam aber zunächst nur bis zu seinem Eintreffen in der Schießstättstraße, weil sich die Lena wortlos ins Bad entzog und dort eine Weile saß. Währenddessen setzte er zwei Töpfe auf, fürs Teewasser und die Eier.
»Vier oder fünf Minuten, dein Ei?«, fragte er durch die Badtür, erhielt aber keine Antwort.
Nachdem sie endlich die Spülung bedient hatte, zweimal kurz hintereinander, hoffte er schon, mit seinen wichtigen Nachrichten fortfahren zu dürfen, hörte aber, wie unmittelbar danach die Dusche anging. Er schlich zurück in die Küche, um das, was der Kühlschrank hergab, aufzutischen, brühte den Tee und legte die Eier ins Wasser.
Wieder dauerte es eine gefühlte Ewigkeit, bis sie die Dusche abdrehte. Sofort wagte er’s, die Tür einen Spalt zu öffnen, um mit seinem Bericht fortzufahren, und kam immerhin bis zur Entdeckung der Hallstein. Jetzt begann der Fön zu lärmen – Zeit für ihn, den Tee in die Tassen zu gießen und die Eier abzuschrecken.
Abermals wartete er geduldig. Als Lena den Fön abschaltete, sprang er vom Tisch auf und war auch schon am Bad, fing mit der Schilderung der Hallstein an und hörte nach eineinhalb Sätzen wieder auf, weil das Haaretrocknen nur kurz unterbrochen und noch längst nicht beendet war.
Für eine ausgedehntere Erzählpassage – von der Unterhaltung mit der Hallstein bis zum Betreten des Mädchenzimmers – reichte es, als Lena sich mit den Requisiten ihres kleinen Notnecessaires schminkte. Ihrem Verhalten am Spiegel, das er durch die zur Hälfte geöffnete Tür verfolgte, konnte er aber nicht entnehmen, ob die Jungkollegin das alles überhaupt interessierte, zu lustlos und missgelaunt schaute sie drein.
Als sie den Lippenstift auftrug, berichtete er vom scharfen Verhör der Mädchen und wollte eben die Verfrachtung Fritzens ins Bett etwas farbiger als nötig ausgestalten, als Lena die Lippen aufeinander rieb, das verschlafene Gesicht für einen Moment sehr nah an den Spiegel schob und ein verhauchtes »Aha!« von sich gab.
Sie gingen gemeinsam zurück ins Schlafzimmer. Lena zog sich an, Paul erzählte nebenher von Alfred, den Erkennungsdienstlern und seiner Rückfahrt hierher. Aus seinem Blätterbündel vorzulesen versuchte er schon gar nicht mehr, obwohl er ständig damit herumwedelte.
Wieder gewährte ihm Lena ein übellauniges »Aha!« und begleitete ihn in die Küche, wo er hoffte, für seine ansehnlichen Frühstücksmühen ein kleines Lob einzuheimsen.
»Machst mir ’nen Espresso?«
Müde klang die Lena, sehr müde und schaute auf das Ei im Becher vor sich, als wolle sie vornüberkippen und gleich wieder einschlafen.
Paul warf die kleine Lavazza an, gab eine Kapsel ins Fach und drückte das Espresso-Symbol.
»Darf dich schon ein paar Dinge fragen, oder?« Sie gähnte das Ei an, machte dann aber einen ersten, wenn auch nicht geglückten Versuch, ihre angeborene Morgenmuffeligkeit wegzulächeln.
»Haste die Sissilissi gefragt, worüber sich die Jungs dauernd gezofft haben? War doch sicher ’n Mädl, was sonst!«
»Kann schon sein.« Paul hatte sofort das untrügliche Gefühl, was Entscheidendes versäumt zu haben. »Vielleicht… diese Rosi, die alle im Speicher hatten?«
Erstmals schaute Lena so, dass man aus ihren Augen eine gewisse geistige Aktivität, die dahinter stattfand, lesen konnte: »Anzunehmen. Und… woher hast du mitten in der Nacht die richterliche Verfügung gehabt, um die Handys konfiszieren zu dürfen?«
Das war, wie er sich selber schon zweimal zugegeben hatte, ein wunder Punkt bei seinen Maßnahmen. Er zuckte aber nur mit den Achseln und meinte: »Ging nicht anders! Und der Fritz…«
»…hat möglicherweise, wenn nicht gar wahrscheinlich, seinen Vollrausch nur simuliert: Schon drüber nachgedacht?«
Für blöd verkaufen wollte Paul sich auch nicht lassen und fing an, Fritz’ Zustand mit schmückenden Details auszumalen, nachdem er ihr das Espressotässchen hingestellt hatte. Mit einem Schwupp war’s leer. Wortlos schob sie’s zu Paul hinüber, was er richtig als »Nochmal dasselbe!« verstand.
»Also, wenn du gesehen hättest, wie der…«
»Ruf doch mal den Karl an, dass der nachher seinen Gusti mitbringt. Der steckt ja allem Anschein nach schwer in der Geschichte mit drin!«
Ihren eigenen Kopf hatte die Oberwieser Lena, das war in den paar Tagen, seit sie an der Hochwieler Dienststelle praktizierte, nicht nur ihm klar geworden. Als ihren Befehlsempfänger sah er sich trotzdem nicht, reichte ihr mit einem indignierten »Bitte!« sein Diensthandy und warf zum zweiten Mal die Lavazza an. Dass er den Karl die Nacht über schon ein halbdutzend Mal zu kontaktieren versucht hatte, musste die Aspirantin ja nicht wissen.
»Geht nicht ran, ich sprech’ ihm was auf die Mailbox! – Lena hier. Karl, hör mal! Wir hatten heut’ Nacht ’nen Mordfall…« ›Wir‹ ist gut!, dachte Paul. Ich schlag mir die Nacht um die Ohren, und sie spielt die an der Ermittlung entscheidend Beteiligte!
» …und dein Bub ist womöglich tangiert. Bring ihn doch bitte mit auf die Dienststelle, der Paul und ich haben ein paar Fragen.«
»Schöner hätt’ ich’s kaum sagen können.« Paul, geradezu säuselnd, wozu er auch noch ganz, ganz schöne Augen machte. Wer weiß: Es war erst sieben und für einen rasanten Quickie allemal noch Zeit! Eine Idee, die augenblicklich zerstob, als er in Lenas todmüde Augen sah.
»Haste diese Hallstein auch in den Kreis der Verdächtigen miteinbezogen?«
Paul wusste nicht, wie er auf diese absurde Idee hätte kommen sollen, fand es aber bei sorgfältiger Abwägung der Möglichkeiten gar nicht so abwegig, die Rechtsmedizinerhexe mit ins Visier zu nehmen: Sie war um einiges vor ihm am Tatort gewesen, und ihr Verhalten merkwürdig und undurchsichtig genug.
»Nach weiteren Bekannten und Freunden der WGler aus Studium und privatem Umfeld haste auch nicht gefragt? Am besten bestellen wir neben dem Gusti alle vier mal zu uns, den Jackie und diese Rosi auch. Und die Eltern von Georg…«
»…muss jemand verständigen, ja.«
Paul ärgerte es, dass sie wie ein ausgebuffter Kripoprofi aus irgendeiner Fernseh-Soko daherredete und auch noch in allem recht hatte.
»Außerdem