STECKSCHUSS. Ernst Rabener
du!, in der Sache drinsteckt?«
Das nahm Karl sofort sehr viel von seiner amtsautoritären Sicherheit. Paul setzte nach: »Guter Bekannter des Mordopfers, anscheinend oft genug mit ihm zerstritten, sonst wär’ er ja gestern mit den andern zweien saufen gegangen! Ohne Alibi, weil der Vater aushäusig gesoffen hat…«
Karl begann blasser zu werden und schnappende Mundbewegungen zu vollführen, brachte aber nichts Verständliches heraus.
»…und ist angeblich daheim gehockt, Filme glotzen! Wer’s glauben will: Ich nicht! Pharmaziestudent, also Giftkundler! Könnt’ auch sagen: Giftmischer! Spechtet schon seit zwei Jahren aufs dritte WG-Zimmer, damals war der Herr Vater ja zu geizig, es ihm zu finanzieren! Brauchst noch mehr an Motiven, um ihn zum Hauptverdächtigen zu machen, du Mordshirsch?«
Die Keulenschläge trafen Karl unvorbereitet und mit schmerzlichster Heftigkeit. So verdattert stand er da, dass Lena, die nebenan alles mit angehört hatte und jetzt, vom Hallstein-Telefonat halbwegs erholt, durch die Tür kam, den stillen Wunsch verspürte, ihm aus purer Menschenliebe zu Hilfe zu kommen und Paul zu beschwichtigen.
Wie schon in der Früh, nach dem Schlüsseltelefonat mit Kriminalrat Beyschlag, liefen in Karls Kopf, als Paul den Namen seines Buben fallen ließ, ein paar Dutzend Bildsequenzen in rasend schneller Folge ab, die das meist hochprekäre Verhältnis der Fernsehkommissare zu ihren Kindern zum Inhalt hatten: Diese Kollegen waren auch, wie er selbst, größtenteils alleinerziehend! Und zu jedem der Punkte, die Paul ihm an den Kopf warf, fielen ihm einschlägige Beispiele ein: Wallander und Kommissar Beck! Jedes Mal, wenn der Sprössling wieder auf Abwege geraten war, mussten sie sich und anderen gegenüber eingestehen, was für miserable Väter sie bis dato gewesen waren! Keine Soko-Reihe, in der sich nicht ein vernachlässigtes Polizistenkind mit falschen Freunden umgab und auf die schiefe Bahn geriet! Nichts als zerworfene Kinder-Eltern-Verhältnisse! Schon vor zwanzig Jahren, Die Kommissarin: Mama kümmert sich zu wenig um den Buben, und der scheitert sogar als Barkeeper!
Nach und nach versank Karl, trotz Lenas Willen zum Beistand, nicht nur unter den Schimpftiraden Pauls, sondern auch in den Sümpfen der Schwermut, die ihm das schlechte Gewissen verursachte.
Paul war noch immer nicht fertig:
»Was willst du eigentlich in einem Ermittlerteam zu diesem Fall, wenn du so hochgradig mit drinhängst und befangen bist, wie man befangener gar nicht sein kann?«
Das geriet abermals sehr zornig und laut, worauf ihn Lena endlich am Arm nahm und mit ein paar charmanten Worten zu beschwichtigen versuchte: »Ich hab’ dich schon vorhin, noch bevor der Karl abgehauen ist, darauf hinweisen wollen, dass diese Ernennung zum kommissarischen Ermittlungsleiter nur hat passieren können, weil dort, in Rosenheim, keiner was von der persönlichen Nähe Karls zu einem der Verdächtigen hat wissen können! Und somit, Herrschaften, stehen wir alle drei vor der Alternative, den Karl ganz einfach auszuklinken, indem wir, was wir letztlich müssen!, entsprechende Meldung nach Rosenheim schicken. Dann ist der Kollege Karl von einem Augenblick auf den andern weg vom Fenster. Oder wir vereinbaren hier und jetzt untereinander…«
Sie setzte eine ganz und gar durchtriebene, beiden Kollegen bislang unbekannte Miene auf.
»…dass ab sofort der Paul die Sache als Chef beziehungsweise als vorläufiger diensthabender Vorgesetzter…«
Hier musste sie kurz kichern.
»…übernimmt, und dass wir zwei, du, Karl, und ich, ihm zuarbeiten. Ist dann nur so, dass der Karl, wenn ein Anruf aus Rosenheim kommt oder so, vorm hohen Haus weiter die offizielle Führungsrolle übernehmen muss. Andere Möglichkeiten seh’ ich grad nicht.«
Die beiden Herrn waren baff, Lena lächelte sie holdselig an. Paul legte ihr den Arm um die Schulter und wollte ihr einen Schmatz auf die Wange drücken, dem sie sich geschmeidig entzog.
Karl war ratlos. Er machte eine wegwerfende Handbewegung, die »Von mir aus!« meinte, und ging Richtung Verbindungstür der beiden Büros, um sich schmollend zurückzuziehen.
Das Ärgerlichste war, dass er nach dieser brutalen, aber unumgänglichen Degradierung nicht mal mehr einen der beiden zum Brotzeitholen schicken konnte.
Paul hielt ihn auf:
»Übrigens, vorhin… Da war noch was: Zwei Alte, die wirres Zeug schwätzten, von wegen ’nem Schuss heut’ Nacht, und…«
»Hab’s gelesen, auf dem Bericht vom Ottl. Ist wohl alles nicht ernst zu nehmen.«
Lena mischte sich ein, mit frischem Selbstbewusstsein: Damit man heut’ überhaupt noch weiterkomme, geb’ sie der Frau Binswanger jetzt mal die Telefonnummern von denen, die man zur Befragung herzitieren müsse, vor allem diese Rosi Hurlach und den Jakob Bausemann. Den Fritz, falls vernehmungsfähig, müsse man auch nochmal herbitten, »und leider auch deinen Gusti, fürcht’ ich. Es sei denn, du hast vorhin schon alles geklärt, was ihn betrifft, Paul.«
»Ging nicht, der war viel zu mitgenommen. Und sah aus, als müsst’ er jeden Augenblick losheulen. Hab’ ihn deshalb nach ein paar Minuten heimgeschickt.«
Lena nickte. Mit einem Zettelchen ging sie zu Frau Binswanger, danach eine Weile aufs Klo.
Karl hatte inzwischen die erste Schockstarre überwunden und sich demütig in die neue Rolle gefügt. Jedenfalls legte er versöhnungswillig eine sanfte Hand auf Pauls Schulter und flüsterte im Grabeston:
»Paul, weißt, mir wär’s ganz recht, wenn du das mit meinem Gusti allein übernehmen könnt’st. Mit Frauen, weißte, also so ’ner jungen Frau wie der Lena gegenüber, da isser immer ein bissl unfrei und aufgeregt und so. Nicht, dass er sich bei all dem Schlamassel auch noch verplappert und selber belastet. ’s reicht schon so!«
Paul nickte bedeutend:
»Geht in Ordnung, Karl. Klar.«
Mit gönnerhaftem Blick und jovialem Klaps auf die Schulter entließ er den Kollegen als gleichberechtigten Untertan in dessen Büro.
Da saß Karl nun, Ottls Bericht über den nächtlichen Einsatz vor sich auf dem Bildschirm, lange in schweren Gedanken: Sein Bub! Hatte er noch eine väterliche Beziehung zu ihm? Erreichte er ihn noch, seinen Gusti, oder war er ihm längst entglitten, hinein in bedenkliche Bereiche und Kreise? Die ersten Jahre, nachdem die Helga, seine Mama, an Krebs gestorben war, ging’s ja noch ganz gut mit Vater und Sohn.
Aber spätestens seit dem Abitur: Wusste er denn, wo er sich in München herumtrieb? Was er in seinem Zimmer anstellte, mit wem er chattete oder per Mail und Whatsapp verkehrte? Wie weit mochte die Rolle des Vaters als Polizist belastend, ja seelisch deformierend auf ihn gewirkt haben, den armen Kerl, und noch immer wirken? Hatte er einen Mord begangen, um endlich wieder die Aufmerksamkeit des Vaters zu erregen? Gusti, der Mörder aus Liebesbedürfnis! Seine Tat als verzweifelter Schrei nach Zuwendung! Himmel, ja! Wie oft war das nicht, von der Soko Wien über den Spreewaldkrimi bis zu Morden im Norden, Motiv für grässlichste Untaten!
Fürchterliche Möglichkeiten taten sich auf: Wenn sich in Gusti über die Jahre hin eine Form der Schizophrenie entwickelt hatte? Hier der brave, noch immer ein bisschen pubertäre, weinerliche Bub mit merkwürdiger Scheu vor dem anderen Geschlecht, jedenfalls brachte er nie ’n Mädl nach Haus. Und dort der rachelüsterne, von grausamen Machtphantasien beherrschte Unmensch. In Gusti – ein Doktor Jekyll und Mister Hyde? Entsetzlich, entsetzlich! Schnellstens musste er sich Zugang zu Gustis Zimmer verschaffen, in dem er seit ewigen Zeiten nicht mehr gewesen war, weil’s dem Buben nicht recht war und er verständlicherweise auf Wahrung seines kleinen Privatbereichs bestanden hatte. Nur die Frau Huber durfte einmal die Woche zum Putzen rein. Junge Junge! Ein verkapptes Sado-Maso-Kabinett, wie beim Schuldirektor Höpfl im Dampfnudelblues? Oder eine Materialiensammlung zu den bestialischsten Frauenmorden der Kriminalgeschichte? Gusti, Gusti! Wohin hat dich dein Weg geführt, wohin das Schicksal fehlgeleitet? Er durfte gar nicht dran denken, welch furchtbare Eindrücke schon die Jüngsten ein für allemal unwiderruflich prägen, ja bestimmen konnten: Vor kurzem, der neugeborene Sohn von Jana Winter:
Schon als Säugling im Kinderwagen begegnet er,