STECKSCHUSS. Ernst Rabener
vom Bodensee? Nein, zu Unter anderen Umständen gehörte die Jana Winter, genau!
Oder doch nicht?
Manchmal geriet ihm das Selbstverständlichste durcheinander.
Es war jedenfalls alles andere als ausgeschlossen: Gusti in den Klauen des Bösen! Und das Pharmaziestudium! Nie hatte er, der Vater, sich mit dessen Inhalten beschäftigt, nie! Ging’s da, wie Paul vorhin rücksichtslos angedeutet hatte, wirklich um nichts anderes als Gift und nochmals Gift?
Es gab keine Alternative: Heute, sofort nach Dienstschluss, musste er sich den Gusti zur Brust nehmen und knallhart…
Nein, das ging auch nicht! Nicht knallhart! Sonst weinte er gleich wieder. Aber hart! Väterlich streng und ernst: das schon!
Schenk–Ballauf! Wieder überkam ’s ihn mit mächtigem Schauder. Tatort Köln! Ein Obdachloser – vergiftet mit Frostschutzmittel im Wein! Und in irgendeinem Polizeiruf 110: Ein junges Mädl, beim Casting vergiftet! Andernorts, er wusste nicht mehr, wo: Giftiges Lösungsmittel in einer Infusion! Mein Gott, mein Gott, in Ein starkes Team verendete mal jemand an vergiftetem Joghurt! Vergiftete Schokopralinen in einem frühen Derrick, vergiftete Kirschen bei der Soko Köln, ein vergifteter Konditor bei der Soko Wien! Sogar bei den Rentnercops waren in einer eindrucksvollen Szene mal Schwiegervater und Schwiegersohn vergiftet miteinander ins Grillfleisch gefallen! Gift, Gift, Gift, so weit die Krimilandschaft sich erstreckte, Gift an allen Horizonten, Gift, so weit das Auge des Krimibetrachters reichte! Und… Himmel! Gift in einer Trinkflasche! Überdosiertes Schmerzmittel! Rivalinnenzoff bei einem Meerjungfrauen-Wettbewerb, eine vergiftet die andere, die stirbt beim Schwimmen – an Krämpfen! Das musste irgendwann bei der Soko Wismar gewesen sein, letztes Jahr… Welche Parallelen zum Mordfall Schöderlein!
Es nahm kein Ende. Je weiter er nachdachte, je genauer er sich die Gift-Episoden vor Augen führte, desto näher und überzeugender rückte ihm sein Gusti als Täter vor Augen: Gusti, der Student der Pharmazie, Gusti, gewaschen mit allen giftigen Wassern! Ja, an den Vorwürfen Pauls, es war Einiges dran. Vielleicht sogar viel – oder alles? Dass gar alles stimmte?
Es gab keinen anderen Weg: Heute noch musste er, falls nötig mit Gewalt, ins Zimmer seines Sohnes eindringen, um sich endlich, endlich Klarheit zu verschaffen!
Die Tür ging auf. Paul winkte ihn aufgeregt mit geradezu teuflischem Grinsen zu sich und ging ihm voraus ins Kabäuschen, wortlos, aber mit allen Anzeichen, dass der Kollege gleich was ganz Exotisches erleben werde.
Als sie vom Klo zurückkam, fiel Lena ein, dass sie die zwei noch gar nicht über das Telefonat mit der Hallstein informiert hatte. Irgendwann würde sie das vielleicht tun, noch war sie wegen der Streitereien vorhin ziemlich verärgert, viel mehr aber wegen dem, was sie soeben bei ihrem heimlichen Telefonat auf dem Klo erfahren hatte.
Ihr Ärger wurde zur blanken Wut, als sie in der Flurtür zu Pauls Büro sah, was sich im kleinen Nebenraum abspielte: Die Rücken ihr zugekehrt, standen die beiden da, die Köpfe dicht beieinander, leicht vornübergebeugt, als wären sie die innigsten Busenfreunde, und schienen wie die Schulbuben zu feixen. So vertieft waren sie in ihre Beschäftigung, dass sie Lena nicht gleich bemerkten.
Gerade, als sie mal wieder kumpelhaft die Schultern aneinanderstießen und sich verschwörerisch zugrinsten, schoss es der Lena durch den Kopf: Das Handy! Sie hatte, als sie vorhin herausging, um die Schreihälse voneinander zu trennen, Sissis Handy auf dem Schreibtisch liegen lassen! Und den Mädels hatte sie doch versprochen…
»Ich fass’ es nicht, ihr Lustgaffer!« Außer sich keifte sie los.
Paul fuhr vor Schreck derart zusammen, dass ihm das Smartphone aus der Hand glitt und auf den Tisch fiel. Sissilissis Stöhnen hörte sich jetzt an, als käm’ es aus einiger Ferne, während es zuvor geklungen hatte, als würden sich’s Paul und Karl gerade gegenseitig machen.
»Sagt mal, geht ’s noch, ihr notgeilen Alpha-Kevins!? Spinnt ihr jetzt komplett? Das haben mir die zwei Mädels vorhin im Vertrauen dagelassen, und jetzt… Schämt ihr euch denn für gar nichts, ihr… ihr… enthirnten Rammelböcke!«
Einer Furie gleich stürzte sie zum Schreibtisch, dass ihr Pony nur so flog, stieß die beiden mit den Ellbogen rüde zur Seite, riss das Handy an sich, schaltete es aus und ließ es in der Jackentasche verschwinden. Sie machte auf dem Absatz kehrt und wollte davon.
Paul stellte sich, während Karl, puterrot angelaufen, nicht mehr wusste, wohin mit sich, vor den Türstock und ihr in den Weg: »Reg dich mal ab! Kannst doch hier nicht einfach ’n Beweismittel rumliegen lassen! Und uns verheimlichen und auch noch entwenden wollen! Her damit!«
Den herrischen Ton glaubte Paul seiner soeben bezogenen Führungsposition schuldig zu sein. Stramm hielt er die Hand auf und winkte mit den Fingern.
Lena schaute ihm voller Verachtung geradewegs in die Augen und sagte, ohne den Blick von dem seinen zu wenden:
»Kennste den? Urologe zu Paul: ›Du musst endlich mit dem Wichsen aufhören, Bubi!‹ Paulchen: ›Warum?‹ Der Uro: ›Damit ich dich untersuchen kann.‹«
Nun wusste auch Paul vor abgrundtiefer Verlegenheit nicht mehr, was tun, und war beinah froh, dass Lena ihn mit der Hüfte beiseite rempelte und sich davonmachte.
An der Tür drehte sie sich noch einmal um: »Ist von der Hallstein, ihr Untersuchungsergebnis. Könnt gerne bei ihr rückfragen.«
Damit eilte sie auf den Flur und dem Ausgang zu.
Schwer bedröppelt standen sie da, die zwei, keiner wusste, wie er der Verlegenheit Herr werden könnte. Karl tröstete es kaum, dass er den Witz in leicht variierter Form letztes Jahr schon mal in ’ner Wilsberg-Episode gehört hatte: Bittere Pillen, erinnerte er sich.
Endlich brach Paul das peinliche Schweigen: »Rechts unten ist die Zeit mitgelaufen. Wenn die mit der Tatzeit übereinstimmt, sind die Gören aus dem Schneider.«
Karl nickte, wusste aber nicht recht, was er damit bestätigte. Zu groß war das Durcheinander in seinem Kopf. Was ein Alpha-Kevin sein sollte, konnte er sich auch nicht vorstellen.
Es war gut, dass in diesem Augenblick Frau Binswanger kam, um das Ergebnis ihrer Anrufe mitzuteilen: Bei der Familie Bernhuber hab’ sie den Herrn Vater erreicht, die Familie werde mit Sohn Fritz am Nachmittag auf die Dienststelle kommen, mit Anwalt. Und dieses »mit Anwalt« hab’ sehr bedrohlich geklungen. Der Hurlach Rosemarie hab’ sie, wie dem Bausemann Jakob auch, auf die Mailbox gesprochen, dass sie unverzüglich mit den Herrn Kommissaren Kontakt aufnehmen und zu einer Befragung kommen müssten, sonst würden sie zur Fahndung ausgeschrieben. »Und die beiden Mädchen, die ich auf Wunsch von Fräulein Lena angerufen hab’, die konnt’ ich nicht erreichen, in der Schießstättstraße sieben gibt’s keinen Festnetzanschluss, und beide Handys sind ja schon hier in Gewahrsam, wie ich vorhin mitbekommen hab’.« Aber die Eltern von der einen Elisabeth, von Fräulein Stegmaier, die hab’ sie ausfindig gemacht, und deren Mutter hab’ versprochen, die beiden aufzuspüren und ihnen zu sagen, dass sie sich dringend nochmals melden müssten, »weil, so einfach abhauen, hat das Fräulein Lena gesagt, das geht ja auch nicht.«
Paul und Karl erröteten kurz, als die Smartphones der Mädchen erwähnt wurden, und dankten Frau Binswanger übertrieben herzlich. Dann standen sie schon wieder ratund hilflos herum, weil sie nicht wussten, wie sie ohne Lena weitermachen und, vor allem, wo sie ansetzen sollten: Die war einfach abgehauen, sie wussten nicht, ob und wann sie wiederkam. Das Ergebnis der gerichtsmedizinischen Untersuchung kannte auch nur sie.
Die Hallstein nochmals anrufen?
So viel Schneid hatten sie beide nicht.
Zwei Minuten später kam die Lösung in Gestalt von Lena selbst, begleitet von einem etwas skurrilen Gast.
Den hatten Karl und Paul schon längst erwartet.
»Der hat ’nen Presseausweis gezückt und behauptet, er sei euch vom Erkennungsdienst angekündigt.«
Lena, die mit dem Häberle Flocki noch nicht das Vergnügen