Drachengabe - Halbdunkel - Diesig - Finster. Torsten W. Burisch

Drachengabe - Halbdunkel - Diesig - Finster - Torsten W. Burisch


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Noch bevor er sich wieder auf das Wesentliche konzentrieren konnte, trat er gegen etwas Hartes, was ihm das Gleichgewicht nahm, und fiel ins weiche Moosbett. Nachdem er sich wieder aufgesetzt hatte, schaute er sich nach der vermeintlichen Stolperfalle um. Er staunte nicht schlecht, als er erkannte, dass es sich anscheinend um ein Grab handelte. Der Erdhügel war zwar vom übrigen Waldboden nicht zu unterscheiden, hatte aber eine rechteckige Form, die für einen Menschen von Dantras Statur Platz bot. An einem der beiden Enden ragte etwas in die Luft, das Dantra zusammenzucken ließ.

      Das Stück eines Unterarms und die dazugehörige Hand, die so geformt war, dass die Handfläche eine Kuhle ergab, ragten aus dem Boden empor. Auf allen vieren näherte sich Dantra vorsichtig dem unheimlich aussehenden Bild. Zu seiner Erleichterung stellte er fest, dass das Objekt aus Ton gefertigt war. Was aber verwunderte, war die Blume, die in der Hand wuchs. Es war ein einzelnes Schneeglöckchen. Und das, obwohl die Jahreszeit für solch eine Pflanze nicht weiter entfernt liegen konnte. Sie sah aus wie ein winziges rebellierendes Wichtelkind, das sich vorgenommen hatte, den von der Natur gegebenen Gesetzen zu trotzen.

      Dantras Grübeln über das Blumenphänomen endete abrupt, als er etwas hinter sich knurren hörte. Er schnellte herum und blickte in das Augenpaar eines ausgewachsenen Wolfes. Er war ihm bereits so nahe gekommen, dass Dantra das Auf und Ab seiner Nasenflügel erkennen konnte. Sein anhaltendes Knurren wurde durch ein totes Kaninchen, dessen schlaffer Körper links und rechts aus seinem Maul hing, gedämpft. Dabei waren die weißen Zähne des Raubtiers tief in das Fleisch seines Opfers versenkt. Jedoch war immer noch genug von ihnen zu sehen, um Dantras Vorstellung anzuregen, wie es wohl wäre, ebenfalls in die Fänge des Wolfes zu geraten. Dies und sein angeborener Überlebensinstinkt trieben ihn auf seine Füße. Er drehte sich um und rannte, so schnell er konnte, in die Richtung, aus der er gekommen war. Die Angst hinderte ihn daran, sich umzusehen, sie verblendete seinen Verstand, sodass er es nicht einmal annähernd in Betracht zog, sich dem Wolf zu stellen und ihn mit seiner magischen Kraft zu bezwingen.

      Erst auf dem von der Hexe vorgeschriebenen Weg riskierte er einen Blick nach hinten. Sein Verfolger war nicht mehr zu sehen. Der Wald war hier zwar nur spärlich mit Sträuchern und Büschen bewachsen. Es reichte aber aus, damit sich der Wolf unbemerkt an ihn heranschleichen konnte. Dantra hielt es daher für besser, sich nicht lange damit aufzuhalten, die Gegend mit seinen Augen abzusuchen, sondern schnellstmöglich zur Hütte zurückzukehren.

      Während er dem Trampelpfad im Laufschritt folgte, ärgerte er sich maßlos über sich selbst. „Ich hätte nicht die Nerven verlieren dürfen“, tadelte er sich. „Ich hätte das Untier einfach mit meiner Magie durch die Luft befördern sollen. Ich hätte ihm ganze Bäume entgegenschleudern können. Stattdessen bin ich weggelaufen. So wie es das Kaninchen, das in seinem Maul ein blutiges Ende fand, sicher auch versucht hatte.“

      Bei der Hütte angekommen stand E’Cellbra bereits vor der Tür. Es schien, als hätte sie ihn erwartet. Was seltsam war, da er stets zu unterschiedlichen Zeiten von seinen Übungen zurückkehrte. Er rang nach Luft, um ihr das Geschehene zu erzählen, aber noch bevor ihm das glückte, sagte sie: „Meinen Anweisungen trotzen, aber dann nicht einmal einem Wolf die Stirn bieten können. Typisch!“ Dantra wusste nicht, was ihn mehr verwunderte. Die Tatsache, dass sie über den Vorfall Bescheid wusste, oder aber, dass sie nicht verärgert klang. „Wir werden morgen versuchen, deine Nerven in Extremsituationen zu festigen“, fügte sie noch hinzu. Dann ging ihr Blick an ihm vorbei und mit einem Lächeln sagte sie: „Danke, Grey, dass du wieder einmal unseren Tisch reich deckst.“ Dantra drehte sich um. Der Schreck ließ ihn einen unkontrollierten Satz nach hinten machen, wobei er E’Cellbra fast zu Boden stieß.

      „Was ist denn los?“ Nun klang ihre Stimme wieder gewohnt streng. „Es ist doch bloß ein Wolf. Wenn dir jetzt schon der Angstschweiß auf die Stirn tritt, was passiert dann erst, wenn du einem Troll gegenüberstehst?“

      Dantras Blick wechselte zwischen ihr und dem Wolf, der nun so nah herangekommen war, wie er es schon in dem kleinen Birkenwald getan hatte. Er ließ das Kaninchen aus seinem Maul fallen, sah der Hexe noch einmal in die Augen und verschwand in den Tiefen des Waldes.

      E’Cellbra packte den leblosen Körper bei den Ohren, hielt ihn Dantra vors Gesicht und fragte: „Schon mal ein Tier gehäutet?“

      Sein Schrecken beim Kennenlernen von Grey und der Ekel vor der darauffolgenden Bearbeitung von dessen Beute waren überwunden, als er zum Abendessen am Tisch Platz nahm und die gesamte Hütte nach knusperigem Kaninchenbraten roch. Es war überhaupt der schönste Abend, den er bei der Hexe bis dahin verbrachte hatte. E’Cellbra war mit zu ihnen in den Keller hinuntergestiegen und so redselig, wie er es noch nie bei ihr erlebt hatte. Die familiäre Harmonie ging sogar so weit, dass die Hexe Dantra zu seiner Freude anbot, die Förmlichkeit zu beenden und sie mit Du anzusprechen. Tami hatte zum Nachtisch einen Nusskuchen gebacken, dessen Köstlichkeit er nicht in Worte fassen konnte, und der Rabe, sonst scheu wie ein Reh, fraß zum ersten Mal Krümel aus seiner Hand.

      Er erfuhr, dass Magieträger bestimmte Bezeichnungen hatten. Und dabei kam es nicht darauf an, ob sie Menschen, Elben oder einer anderen Lebensform angehörten. Wenn man mit geringen oder mittleren magischen Fähigkeiten ausgestattet war, so war von Hexen beziehungsweise Hexern die Rede. Beim Besitz höherer Magie sprach man von Magierinnen und Zauberern. Aber einen kleinen Unterschied zwischen einem Elb und einem Menschen gab es dennoch. Während der gewöhnliche Mensch ohne jegliche Magie zur Welt kam, war dem Elb eine gewisse Grundmagie genauso angeboren wie das Sehen und Hören. Die einzige Ausnahme stellten die Drachen dar. Denn sie besaßen alle ein hohes Maß an Magie. Und jeder einzelne von ihnen hatte zudem eine einmalige individuelle Fähigkeit: die sogenannte Drachengabe. Die Drachen interessierten Dantra besonders, denn in der Klosterschule wurde dieses Thema prinzipiell totgeschwiegen. Also nutzte er die gute Laune E’Cellbras und bohrte nach. „Um was für Fähigkeiten handelt es sich dabei?“

      „Nun, von den meisten Drachen kennt man sie nicht. Doch der, von dem man es genau weiß, trägt den Namen Condire. Er ist einer der boshaftesten und gefährlichsten Drachen überhaupt. Er hat die Fähigkeit, egal, wo sein Name oder der eines anderen Drachen in Verbindung mit Spott, Fluch oder auch Beleidigung genannt wird, dieses umgehend wahrzunehmen.“

      „Und was passiert, wenn man einen Drachen beleidigt?“

      E’Cellbra schaute ihn skeptisch an. „Du kennst doch sicher das Lied, das Kinder über den Drachenschatten singen, wenn sie anderen Angst machen wollen?“

      „Nein.“ Ihr Blick wurde noch skeptischer. Sie räusperte sich und versuchte, einen hohen Ton zu finden. In einer leichten und zugleich jammernden Melodie fing sie an zu singen.

      Und fliegt er so tief über dir,

      dass du in seinem Schatten stehst,

      ist der Tod ganz sicher dir,

      auch wenn du dich von ihm drehst.

      Für einen Augenblick war es still. Nur das Klackern der Krallen des auf dem Tisch nach Krümeln suchenden Raben war zu hören.

      „Soll das heißen“, fing Dantra unsicher an, „sie würden jemanden wegen einer Beleidigung töten?“

      „Derjenige, der die Worte sprach, und ein jedes Leben, das nahe genug war, um das Unverzeihliche zu hören, würden den Tod finden.“

      Wieder trat Schweigen ein. Dantra konnte nicht glauben, wie schnell man in diesem Land sein Leben verlieren konnte.

      „Mich wundert es, dass die Nonnen euch nichts davon erzählt haben“, sagte E’Cellbra nachdenklich. „Denn weder kindliche Naivität noch die Klostermauern könnten den Betroffenen schützen, wenn ein Drache Vergeltung übt.“

      „Uns war es verboten zu fluchen, Schimpfwörter zu benutzen und vor allem das Wort Drache in den Mund zu nehmen. Und ihre Namen kennt ohnehin keiner im Kloster, zumindest nicht die Schüler. Von daher hielten sie es wohl für überflüssig, uns auf die Gefahr hinzuweisen.“

      „Aber es war sehr verantwortungslos von den Nonnen, es dir nicht wenigstens bei deiner Entlassung zu sagen“, stellte sie leicht erzürnt fest.

      Für


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