Tabulose Seitensprünge. Lulanda
uns denn hin verfrachtet?“, murmelt sie, da ihre Namen auf keinem Kärtchen zu lesen sind.
„Immer noch laangweilig!!“
Eine der zahlreichen Kellnerinnen reicht uns ihr Tablett freundlich an und wir bedienen uns mit einem Glas Champagner. Nippend meint Rieke: „Na, ich schau dann erstmal, an welchem Tisch ich mich zu benehmen habe.“ „Mach das. Wir setzen uns dann später gemeinsam ab.“, so mein Plan. Als eine sehr vertraute Hand meine Schulter streichelt, drehe ich mich um und schaue in das zufrieden lächelnde Gesicht meines Partners. „Fertig debattiert?“, frage ich. „Nur pausiert.“, grinst Stefan. Es wird bedächtig still, ein leises Raunen verdrängt das wirre Durcheinander der Stimmen. Alle Gäste begeben sich zu ihren vorgesehenen Tischen und auch bei uns gesellen sich zwei Paare dazu. Wir kennen uns alle nicht. Dafür sehen sie jedoch einigermaßen umgänglich aus. Lediglich die vermeintliche Altlast, die keiner haben will, ist noch nicht anwesend. Sitzt vielleicht noch im Bus, vorne beim Fahrer und völlig überfordert so weit weg von Mutti…
Nach einem kreischenden Piepton wissen nun alle Anwesenden, dass das Mikrofon angeschaltet ist. Zwar verfügt der Saal nicht über eine Bühne, dafür wurde jedoch ein recht ansehnliches Podest aufgebaut. Ein Herr in einem teuren aber langweiligen Anzug geht zielsicher auf das Mikrofon zu. Jetzt also kommt die Begrüßungsansprache mit Lobhudelei, Anbiedern, schlechten Witzen und tausend Mal gehörten Anekdoten. Breit lächelnd holt der Redner tief Luft: „Sehr geehrter Herr Aufsichtsratsvorsitzender Prof. Dr. Hartmann, sehr geehrte Damen und Herren des Vorstands, sehr geehrte Herren Geschäftsführer Dr. Spatenbrink und Dr. Retz. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, liebe Angehörige und Freunde. Im Namen der Imperial Global AG möchte ich Sie recht herzlich zu dieser Veranstaltung begrüßen. Eine besondere Freude ist es, dass wir heute Abend eine großartige, vereinte Familie sind. Einige von Ihnen haben sich ja schon angeregt ausgetauscht, manche werden sich heute Abend vielleicht auch erst kennenlernen. Wir möchten Sie mitnehmen auf eine Reise in die Vergangenheit. Stolz blicken wir auf 50 Jahre Imperial Global - eine Erfolgsgeschichte.“ Die Stimme da vorne wird in meinen Ohren immer leiser. Stattdessen wandern meine Augen die Anwesenden ab. Ich könnte ja schon wieder Gedanken zitieren von so manchem nach vorne starrendem Gast. Einige Frauen zupfen gelangweilt ihre Kleider zurecht. Wieder andere scheinen nur wegen des Buffets gekommen zu sein. Was für eine Qual dieses Warten auf den Eröffnungsgong für sie sein muss.
„Aufregend!“
Ich drehe mich mit meinem Oberkörper wieder dem Tisch zu, da ich mir einen großen Schluck Champagner aus meinem Glas genehmigen möchte. Selber schon fast träumend greife ich mein Glas, setze an um den Champagner genüsslich herunterzuschlucken und - zack! Ich verschlucke mich ordentlich an dem prickelnden Nass. Nein, nicht etwa, weil ich zu blöde zum Trinken bin. Der Grund ist die „Altlast“, die zwischenzeitlich unbemerkt am Tisch Platz genommen hat. Ich habe das Gefühl, ersticken zu müssen, wenn ich diesem kratzenden Hustenreiz nicht sofort Raum gebe. Also räuspere ich mich in möglichst angemessener Lautstärke. Der Blick des Gastes wechselt vom Redner am Podest zu mir. Auch Stefan dreht sich zu mir: „Brauchst Du Hilfe? Soll ich Dir mal auf den Rücken klopfen?“ „Nein danke, mein Schatz. Geht schon wieder. Habe mich nur verschluckt.“, flüstere ich und streichle dabei seinen Handrücken. Der Mann mir gegenüber grinst mich frech an und macht mich damit verlegen. „Komm Carla!“, sage ich zu mir. „Fang Dich wieder.“ Warum bin ich eigentlich so irritiert? Vielleicht weil hier gerade das Gegenteil eines Muttersöhnchens Platz genommen hat?
Verstohlen betrachte ich den verspäteten Gast. Dieser Mann ist nicht gerade das Paradebeispiel eines schönen Mannes. Er sieht wild und verlebt aus. Die oberen drei Knöpfe seines schwarzen Hemdes sind aufgeknöpft. Um seinem Hals erkenne ich ein Lederband, welches im Hemd verschwindet. Er hat Falten. Freche Falten. Seine Haare liegen wie sie gerade fallen. Ich glaube, so etwas wie einen Kamm braucht der Typ gar nicht. Dieser Zausel-Look steht ihm. Als sei der Stil nur ihm vorbehalten. Er sieht jedenfalls nicht wie ein Angestellter einer Versicherungsagentur aus. Er könnte ein Fischer oder Seefahrer sein. Oh, und was für mächtige Hände er hat. Richtige Männerhände die zupacken können. Der Kerl reizt mich. Ich ertappe mich dabei, wie ich mir den Mann näher vorstelle. Wie er wohl mit freiem Oberkörper aussieht? Ob er stark behaart ist? Ob er überall stark behaart ist? Worauf der wohl so steht? Ich würde gerne mal an ihm schnuppern. Ob ich ihn gut riechen kann? Na, und wenn die Pracht in seiner Hose so kräftig ist wie seine Hände, dann-. Lautes Klatschen holt mich zurück in die Realität. Der Vortrag da vorne scheint ein Ende gefunden zu haben. Leider habe ich nicht gehört, was nun folgt. Hoffentlich ein zweiter unendlich langer Vortrag, damit ich den Kerl gedanklich weiter ausziehen kann. Ob der überhaupt auf Frauen steht? Auf mich steht er jedenfalls nicht. Er schaut mich überhaupt nicht mehr an. Naja, soll mir recht sein. Ich habe ja schließlich meinen Stefan.
„Stefan kennt …?“
Ach, Stefan. Was für ein Gegensatz. Ich liebe ihn, seinen Humor, sein Äußeres, sein Wesen, seinen Körper, seinen Sex. Ich habe rein gar nichts an ihm auszusetzen. Gegen diesen Typ mir gegenüber kommt er mir aber schon beinahe etwas langweilig vor. Stefan ist der klassische Anzugsträger. Und warum auch nicht? Anzüge stehen ihm. Er ist stets wie aus dem Ei gepellt; ein wunderbar gepflegter Mensch. Bei ihm müssen nicht nur die Farben seiner Kleidung exakt zusammenpassen - es ist egal, was es ist. Ob bunte Büroklammern, Briefumschläge in verschiedenen Größen, das Geschirr in unserem Schrank, das Besteck - ach, ich kann das ewig weiter aufzählen. Mir kam es bislang nicht spießig vor. Schließlich profitiere ich von seinem Ordnungsdrang. Aktuell jedoch, hier am Tisch mit diesem „wilden Fremden“ mir gegenüber, wirkt Stefan verklemmt und pingelig. Ich schäme mich geradezu für meinen gedanklichen Abgleich zweier unterschiedlicher Personen.
Die Feierlichkeit sieht offensichtlich keine neue Traumrunde für mich vor. Es bewegt sich niemand in Richtung Podest. Jetzt sollen die essfreudigen Gestalten am Nachbartisch erst einmal Beachtung finden. Kurz bevor sie ihrem Hungertod erliegen, eröffnen die Veranstalter das überaus verlockend bunte, mit allerlei Raffinessen und Kreationen bestückte, liebevoll arrangierte Buffet. Fast wie auf Knopfdruck wird es im Saal wieder unruhig und in Windeseile schwirrt das Durcheinander der Stimmen und Tonlagen um das Buffet herum. Das sind Momente, in denen ich am liebsten draußen auf den Parkplatz verschwinden möchte. Als Erste an die Speisen zu eilen und die Töpfe mit Ellenbogen zu verteidigen ist für mich genauso ein No Go, wie mitleidserregend und beinahe opfergleich als Letzte um das Buffet herumzuschleichen und die Reste der zerfledderten Tafel aufzusammeln. Ich warte üblicherweise einfach ab, bis die erste Hälfte der Anwesenden mit dem Essen beschäftigt ist. Da nutze ich doch die Gelegenheit für einen weiteren Schluck Champagner.
Für einen Moment bin ich davon überzeugt, aus dem Augenwinkel zu erkennen, wie der verlockend verkommene Mann mich anschaut. Dann höre ich ausgerechnet aus Stefans Mund: „Henk!“ zu ihm sagen. Die beiden kennen sich? Soll ich das gut finden? Nein, finde ich nicht. Ich möchte meine versauten Vorstellungen von dem fremden Mann haben und nicht von Henk, Stefans Arbeitskollegen. „Warum sitzt Du denn hier so mittendrin und nicht weiter vorne?“, fragt Stefan. Henk macht eine gleichgültige Geste und meint: „Mit der Aufteilung hier im Saal ist jeder Tisch so gut wie der andere. Ich habe sowieso nicht vor, mich hier lange aufzuhalten.“ Na bitte, ich sage doch: Er steht nicht auf mich. Würde er denn sonst schon wieder gehen wollen? Ich ertappe mich bei dem Gedanken, dass ich seinen frühen Abgang nicht möchte. Er ist einfach zu interessant und seine Nichtbeachtung reizt mich. Seine dunkle, etwas heisere Stimme beschert mir eine Gänsehaut. Wie es wohl wäre, würde er mir mit seinem Bass dreckige Fantasien in mein Ohr flüstern? Mir ist heiß. Ich brauche eine Abkühlung.
„Im Zwiegespräch“
Im Spiegel des großen,