Knochenfeuer. Jenny Pieper
Blick wanderte über die Felswände, die sich unüberwindbar hoch zu beiden Seiten erstreckten, so weit wir sehen konnten.
»Ziehen wir weiter!«, rief uns Noba zu. Der Regen wurde stärker und eine Windböe peitschte die Tropfen in unsere Gesichter. In Strömen floss das Wasser den Weg runter, den wir heraufgekommen waren.
»Seht, dort.« Kork deutete auf eine Stelle an der Felswand, die uns den Weg zu unserem Ziel versperrte.
Wir kämpften uns näher heran und erkannten eine Öffnung.
»Vielleicht eine Höhle?«, fragte Noba und zwängte sich hinein. Wir warteten einige Herzschläge, bis sie uns zurief, dass wir ihr folgen sollten. Hatte ich mir vor Tagen noch über Korks abgemagerten Zustand Sorgen gemacht, so war ich nun froh, dass er durch die Felsspalte passte.
Ich rollte mich in der kleinen Höhle zusammen, während Noba und Kork noch einmal loszogen, um Feuerholz und etwas zu essen zu suchen.
Sie kehrten mit leeren Händen zurück.
Als die Nacht kam, erlosch auch das letzte diesige Licht, das durch die Spalte in die kleine Höhle gefallen war.
»Wieso?«, jammerte ich. »Wieso ist es so schwer?«
»Es heißt nicht umsonst das Versteckte Dorf.« Noba regte sich, strich über meine Schulter und suchte nach meiner Hand. Als sie sie gefunden hatte, drehte sie die Handfläche nach oben. »Stell dir vor, deine Hand ist Odre, unsere Welt.«
Ihre Fingerspitzen kitzelten, als sie mir über meine Haut strich.
»Odre ist eine Scheibe wie deine Hand. Am Rand befindet sich ein Gebirge, hinter dem das Ende der Welt liegt.« Mit ihrem Finger zog sie einen Kreis um meine Handfläche, malte die Bergkette in meinen Gedanken, um dann anzudeuten, vom Rand zu fallen. Was sich hinter dem Gebirge und unter der Scheibe befand, wusste keiner. Bis dahin war noch nie jemand vorgedrungen – oder zumindest nicht lebend zurückgekehrt. Während Noba weitersprach, strich sie mit einem Finger mittig über meine Handfläche. »Der Grenzfluss Hayes trennt unser Reich von der Eisendynastie.«
Noba ließ ihren Finger über den Teil meiner Handfläche wandern, der das Gezeitenreich darstellte. Sie zeichnete das Gebiet des Tiefen Winters im Norden ein, den Beständigen Herbst im Nordwesten, gefolgt vom Keimenden Frühling in Südwesten. »Und hier ist der Immerwährende Sommer.« Mit ihrem Finger strich sie über meine Handfläche, wo der Süden lag.
»Ich mochte die Wüste«, flüsterte ich.
»Die Wüste ist nicht alles, was der Sommer zu bieten hat«, mischte sich Kork ein.
»Ist sie nicht?«
»Nein«, stimmte ihm Noba zu. Mit ihrem Finger wanderte sie vom Süden ein Stück hinauf. »Das Versteckte Dorf soll sich hier in einer Senke befinden. Man sagt, es ist im Osten vom Hayes, im Norden und Westen von einer Bergkette und im Süden von der Wüste umgeben.«
Mit ihren Worten und dem Finger malte Noba ein Bild vor meinem inneren Auge. Ich versuchte mir das Dorf vorzustellen, das direkt am Grenzfluss lag. Die Strömung riss angeblich jeden unter die Oberfläche, der versuchte, ihn zu überqueren.
»Warum gehen wir nicht von Süden durch die Wüste?«, fragte ich und Hoffnung keimte in mir auf. Dann könnten wir endlich diesen Regen verlassen.
»Über dem der Wüste zugewandten Teil des Ortes liegt ein Zauber. Wenn man von dort aus das Dorf aufsuchen will, würde man immer weiter und weiter durch den Sand wandern, ohne jemals ans Ziel zu kommen.« Mit ihrem Finger fuhr sie auf meiner Handfläche ein Stück nach Westen und verharrte in der Mitte des Gezeitenreiches. »Hier ist die Tiefebene, der Ewige Regen. Hier befinden wir uns. Nur von hier kann der Zugang gefunden werden. Die Berge entscheiden, wer auserwählt ist und wer nicht, da sie der Sonne am nächsten stehen.«
Ich schluckte, als mir bewusst wurde, dass wir schon viel zu lange danach suchten. Zu lange schon zogen wir an versperrten Straßen und steilen Felswänden vorbei, ohne eingelassen zu werden.
Sie griff sanft meine Hand, zog mich an sich und drückte mir einen Kuss auf den Haaransatz. Ich war versucht, die Augen zu schließen und diesen kurzen Moment zu genießen. Doch ein Grollen ließ Noba aufspringen.
Bevor ich begriff, was passierte, hörte ich brechenden Stein. Die Höhle erbebte und Geröll löste sich irgendwo über unseren Köpfen. Das Geräusch kam aus der Richtung des Höhlenausgangs. Ich schnappte nach Luft und wimmerte: »Sind wird eingesperrt?«
Als das Gepolter verstummte, brach Unruhe in unserer Höhle aus. Mein Wimmern vermischte sich mit Nobas und Korks Stimmen. Sie eilten durch die Höhle, inspizierten vermutlich den Ausgang, doch es war viel zu dunkel, um etwas zu erkennen.
Während Noba und Kork durcheinanderredeten, wich ich zurück. Wir waren eingeschlossen. Würde unsere Suche hier enden? Würden wir hier sterben?
Noba und Kork versuchten, die verschüttete Felsspalte freizulegen. Doch ihre verärgerten Rufe nahmen mir alle Hoffnung. Ich krabbelte noch ein Stück weiter zurück an das hintere Ende der Höhle. Doch die Erschütterung schien mehr gelöst zu haben als nur das Gestein am Höhleneingang.
Der Boden unter mir erzitterte und gab nach. Mit einem spitzen Schrei rutschte ich rückwärts in die Tiefe. Einige Herzschläge lang hielt ich die Luft an, dann prallte ich mit dem Rücken gegen eine Felswand, die mich stoppte. Sternchen tanzten vor meinen Augen. Ich schnappte nach Luft und konzentrierte mich auf Nobas Stimme, die meinen Namen rief.
»Ich bin hier«, keuchte ich und hoffte, dass sie mich hörte. Ein Luftzug streifte meine Wange. Zitternd richtete ich mich auf und mein Herz stolperte, als ich mich weiter vorantastete. Hinter einer Biegung entdeckte ich einen Spalt in der Felswand, der groß genug war, um hindurchzupassen. Der Tag brach an und hieß uns willkommen. Wir durften das Dorf betreten.
Nachdem wir uns aus der Höhle gekämpft hatten, standen Noba, Kork und ich auf einem grünen Hügel. Das Gras reichte mir bis zu den Waden. Zu unseren Füßen breiteten sich weitere Hügel aus, die ein kleines Dorf umrahmten. Das Versteckte Dorf. Wir hatten es gefunden. Ich war mir sicher.
Ich breitete die Arme aus und drehte mich ein paar Mal im Kreis. Dieser Moment war wie ein Traum.
Als ich stoppte, wurde mir ein bisschen schwindelig, aber das machte nichts. Denn das erste Mal seit Langem spürte ich ein Lachen in meiner Brust erwachen und ich ließ es ohne Bedenken frei. Noba und Kork stimmten ein.
Der Fluss glitzerte und wand sich am östlichen Dorfrand entlang. Hinter uns im Westen zog sich eine Felswand Richtung Norden und gipfelte in einem riesigen Berg mit weißer Kuppe. Im Süden verlief sich das Grün und sosehr ich mich auch streckte, die Wüste konnte ich nicht erkennen. Funktionierte der Zauber aus dieser Richtung ähnlich? Würde man von hier ewig über satte Wiesen wandern und nirgendwo ankommen?
Goldene Schlieren bedeckten wie flüssige Sonnenstrahlen den Himmel. Sie waberten in der Luft und bildeten eine Kuppel über der Senke.
Ich legte den Kopf in den Nacken. »Die Magie der Sonne?«, hauchte ich. Es gab sie wirklich.
»Sie ist wunderschön«, raunte Noba.
Sie verschränkte ihre Finger mit meinen. Gemeinsam gingen wir den Hang hinunter und Richtung Dorf. Je näher wir kamen, desto getrübter wurde meine Freude. Zurück blieben nur die gewohnten Bedenken. Ich griff nach Nobas Ärmel, der immer noch klamm war. »Was, wenn sie mich doch verkaufen?«
»Kindra.« Noba seufzte mit einem Lächeln, doch mir konnte sie nichts vormachen. Auf ihrem Gesicht lag der übliche Schatten der Unsicherheit. »Das Dorf hat uns hereingelassen. Es wird uns beschützen.«
»Aber der Fluss«, raunte ich. »Hält die Magie uns wirklich vor Blicken und Übergriffen aus der Eisendynastie verborgen?«
»Das werden wir herausfinden!« Noba drückte