Knochenfeuer. Jenny Pieper
versuchte ich ihn zu bremsen. »Die anderen wollten sich hier mit uns treffen.« Ich würde nicht ohne sie gehen. Nicht ohne meine Familie. Noch immer hegte ich die Hoffnung, dass sie den Fluten nicht zum Opfer gefallen waren.
Es konnte doch nicht schon vorbei sein! Das ruhige Leben, für das wir so lange durch das Gezeitenreich geirrt waren.
»Die anderen werden nicht kommen«, stellte Saki traurig fest. »Das Wasser steigt. Kindra, sie dürfen dich nicht finden.« Wie gebannt verharrte mein Blick auf den dunkel schimmernden Fäden, die sich mit dem Wasser verbanden. Wenn mich die Magier fanden, was würde geschehen?
Spielte das überhaupt eine Rolle? Jetzt, da mein Zuhause zerstört, meine Familie tot war?
Der Druck in meiner Brust hinderte mich beinahe am Atmen.
Saki zog mich an der Hand mit sich. Stumm gehorchte ich, trottete hinter ihm her und weinte. Ich beweinte Noba und Kork. Sakis Eltern und seinen Bruder Neor. Die gutmütige Gastwirtin und ihren Mann. Ich beweinte meine verlorene Heimat. Die schönen Hügel und saftigen Wiesen. Die üppigen Felder und die Dämmerung am Hayes. Jetzt hatte ich nur noch Saki. Und er mich. Ging es ihm wie mir? Wie konnte er angesichts dieser Katastrophe noch auf den Beinen stehen?
Je höher wir stiegen, desto unebener wurde der Pfad. Nach etwa einer Stunde erreichten wir eine große Plattform, von der aus wir das Dorf überblicken konnten. Es lag immer noch unter Wasser, versunken unter einem von Magie beherrschten See. Von hier oben wurde ich mir erst richtig der Zerstörung bewusst, die die magischen Fluten angerichtet hatten. Ich schluckte und krallte mich an der Mauer fest, während ich nach unten sah. Meine Blicke wanderten über die im Wasser treibenden Holzteile und Splitter. Bruchstücke von Häusern und Möbelstücke, die noch vor wenigen Momenten Zeugen von glücklichen Leben gewesen waren, schwankten verloren in den Wellen. Zitternd verstärkte ich den Griff um das Gestein.
Saki trat neben mich. Er strich mir eine Haarsträhne hinters Ohr und fixierte mich mit einem ernsten Blick. »Ich bin für dich da«, flüsterte er. »Der König der Eisendynastie wird dich nicht bekommen.«
Dankbar hob ich die Hand und verwob meine Finger mit seinen. Eine Berührung, die mich heute Morgen noch so viel Überwindung gekostet hatte. Doch jetzt sehnte ich mich nach der Geborgenheit, die ich zu Beginn des Tages verspürt hatte.
Saki lächelte traurig, doch der Schmerz in seinen Augen hielt mich in der Gegenwart fest. Wir hatten alles verloren.
Bevor ich es mir anders überlegte, schmiegte ich mich an ihn. Es dauerte zwei Herzschläge, bis er aus seiner Überraschung erwachte und die Arme um mich schlang. Seine Körperwärme hüllte mich ein, während sich seine Brust unter seinen Atemzügen hob und senkte.
Wir gönnten uns einen Moment, der viel zu schnell vorbei war.
»Kannst du weiter?«, fragte er.
Ich nickte und er löste sich aus unserer Umarmung. Meine Hand hielt er dennoch fest. Der Weg bog sich wie eine Brücke über den Abgrund, zu dünn und zu gebrechlich. Erst ein paar Fuß weiter verschmolz der Pfad wieder mit der Felswand. »Ich hasse es, dass sich unter uns nichts befindet.«
Der Ausdruck in Sakis Augen wurde weich. »Nicht mehr lang, dann sollten wir den Tunnel erreichen.«
»Warst du schon mal dort?«, fragte ich.
»Mein Vater hat mir davon erzählt. Er führt durch den Berg auf die Hochebene.«
Ich schluckte und ließ mich von Saki einige Schritte ziehen. Meine Tränen waren mittlerweile versiegt, doch mein Körper schüttelte sich immer wieder in stummen Schluchzern. Saki strich mir über die Wange. »Wir sollten uns beeilen, wenn wir über die Brücke gehen. Nicht dass uns jemand sieht.«
Wir positionierten uns im Schutz der Außenmauer und sahen einander an. Mit einem Nicken gab ich Saki zu verstehen, dass ich bereit war.
Geduckt hechteten wir den Weg hinauf. Nach nur wenigen Schritten war mir Saki ein Stück voraus und der Zug seiner Hand nahm zu.
Ich blieb mit dem Fuß in einer Kuhle hängen und schlug der Länge nach hin. Bei meinem Sturz lösten sich unsere Finger voneinander und Saki taumelte. Drei Fuß entfernt landete er auf den Knien.
Er richtete sich auf, als ein mir vertrautes Grollen brechendes Gestein ankündigte. Der Boden brach unter Saki weg. Mit einem schnellen Satz nach vorn rettete er sich, bevor das Gestein unter ihm in die Tiefe stürzte und schließlich in den Fluten versank.
»Alles in Ordnung?«, rief ich.
Er rappelte sich auf und klopfte sich Staub und kleine Kiesel von den Kleidern. »Nichts passiert«, krächzte er und trat näher an den Spalt, der nun zwischen uns klaffte.
Ich stützte mich an der Felswand ab und wagte mich ebenfalls vorsichtig näher. Wie groß war die Lücke? Sechs Fuß?
Unter mir knackte es.
»Spring!«, schrie Saki. Seine Stimme klang verzweifelt und in seinen Augen blitzte Furcht auf.
Eiseskälte kribbelte unter meiner Haut. Ich schüttelte den Kopf. »Das schaffe ich nicht!«
»Du musst!«
Ich sah nach unten. Wie lange würde der Boden mich noch tragen, bevor er weiter einbrach? Für einen kurzen Moment schloss ich die Augen und atmete zweimal tief ein und aus. Dann straffte ich die Schultern und erfasste meine Situation.
Der Abgrund vor mir gab den Blick auf das tosende Wasser frei. Weiße Gischt schlug gegen den Berg. Und auf der anderen Seite des Flusses standen die Männer, die für diese Katastrophe verantwortlich waren.
Dabei hatte der Tag so friedlich begonnen.
Tränen rannen aus meinen Augen, suchten sich einen Weg über meine Wangen und sammelten sich an meinem Kinn. Ich biss die Zähne zusammen und ging ein paar Schritte rückwärts, nahm Anlauf. Dann rannte ich los, drückte mich mit den Füßen am Rand der Klippe ab und sprang. Nicht weit genug. Ich riss die Hände nach vorn und versuchte, meine Finger in die Felswand zu graben. Der raue Stein riss mir die Handflächen auf. Meine Fingernägel zersplitterten am harten Fels. Dreck kam in die Wunden und brannte. Augenblicklich setzte das Kribbeln und Jucken ein, das meine Selbstheilungskräfte ankündigte.
Der Aufprall gegen die Felswand hatte die Luft aus meiner Lunge gepresst. Ich keuchte, versuchte zu atmen. Lichtflecken tanzten vor meinen Augen, ließen die Bilder und Geräusche um mich herum irrational erscheinen, als wäre alles nur ein Traum.
Das musste es sein, oder? Nur die kranke Fantasie eines Albtraums. Wenn ich erwachte, lebte meine Familie noch und wartete nur darauf, dass ich auf den Feldern half. Wir würden unserer Routine nachgehen und unser friedliches Leben weiterführen.
Ich hörte Saki meinen Namen schreien. Hörte, wie er mich anflehte, nach seiner Hand zu greifen.
Doch ich sah keine Hand.
Mühsam zog ich mich näher zur anderen Seite des Spalts. Zu Saki. Doch wieder grollte der Fels und ich verlor den Halt, rutschte weiter nach unten. Ich schürfte mir die Knie auf und mein Körper reagierte wieder mit einem Jucken.
Ich hob den Kopf, konnte Sakis Gesicht in dem wirren Gemisch aus Bildern und Licht erkennen. Ein letztes, ein trauriges Lächeln breitete sich auf meinen Lippen aus, dann verlor ich den Halt und fiel und fiel und fiel.
3
Saki
Ein Schritt in den Schnee
Meine Lunge brannte, während ich ihren Namen schrie. Wie hypnotisiert starrte ich auf das tosende Wasser, das unter dem weggebrochenen Weg gegen den Berg wogte. Hatte sie den Sturz überlebt? Mir blieb keine Zeit, um weiter nachzudenken. Ich richtete mich auf, nahm Anlauf und sprang über den Spalt, in den Kindra gestürzt war. Keuchend rannte