Christsein und die Corona-Krise. George Augustin

Christsein und die Corona-Krise - George Augustin


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      Als solches Kontingenzproblem haben wir die Corona-Krise philosophisch und theologisch zu diskutieren. Die Frage lautet: Wie können wir als Menschen mit solcher wie mit vielen anderen Formen unvermeidlicher Kontingenz der Wirklichkeit und des Lebens fertig werden? Das ist keine abstrakte, das ist eine sehr konkrete existentielle und – wie zu zeigen sein wird – eine weit ins Politische wie ins Kirchliche hineinreichende Frage.

      Das Problem ist nicht neu. Die Griechen waren von der Ordnung und Schönheit des Kosmos fasziniert, und heute wissen wir noch viel mehr von der wunderbaren Ordnung sowohl im Ma­kro- wie im Mikrokosmos bis hinein in den atomaren und subatomaren Bereich, bis in die kleinsten Zellstrukturen und Gene des Lebens. Doch schon Aristoteles wusste um die Kontingenzproblematik, und heute wissen wir spätestens seit der Relativitäts- und der Quantentheorie (Albert Einstein und Werner Heisenberg), von der Chaostheorie erst gar nicht zu reden, dass die Wirklichkeit nicht, wie im 17./18. Jahrhundert Isaac Newton meinte, nach der Art eines großen mechanischen Uhrwerks abläuft und die Evolution des Alls vom Urknall und von der Amöbe bis zum homo sapiens nicht linear verläuft, sondern nach dem Gesetz von Zufall und Notwendigkeit (Jaques Monod) zu denken ist.

      Im Anschluss an Aristoteles hat Thomas von Aquin das Kontingenzproblem weiter und zu Ende gedacht. Er stellt das Kontingenzproblem grundsätzlich und das heißt im Blick auf die Wirklichkeit insgesamt als Grundfrage der Metaphysik, wie sie später Leibniz, Schelling, Heidegger formuliert haben: »Warum ist überhaupt etwas und nicht lieber nichts?« Alles Wirkliche ist offensichtlich möglich, aber nicht notwendig; es könnte auch anderes und es könnte auch nicht sein. Warum also ist es nicht nicht, warum ist etwas? Das ist nach Thomas nur möglich, wenn es etwas gibt, das nicht nicht sein kann, das also notwendig ist. Das nennen alle Gott.2 Man nennt das den dritten der fünf Gottesbeweise des Thomas von Aquin. Doch Thomas selbst war klug genug, um nicht von fünf Beweisen, sondern von fünf Wegen zu Gott zu sprechen, das heißt fünf Wege, um den damals allgemein vorausgesetzten Gottesglauben als intellektuell verantwortbar und insofern als vernunftgemäß zu erweisen.

      Gott ist der letzte Grund allen Seins; er ist in allem, was ist und was geschieht, anwesend, aber er ist zugleich über alles erhaben. Indem er allem, was ist, Sein schenkt und es sein lässt, will er es in seinem Eigensein, seinem Eigenwirken und seiner Eigengesetzlichkeit.3 Darum ist es unmöglich, eine Naturkatastrophe unmittelbar auf Gott zurückzuführen und sie als Gottes Strafe anzudrohen oder zu verkünden. Ebenso wenig dürfen wir Erfolg und Wohlstand als Gottes Belohnung für moralisches Verhalten oder als Zeichen von Gottes besonderer Erwählung deuten, wie es die prosperity theology mancher Freikirchen tut.4 Das Elend solcher pseudotheologischer Argumentation wird uns schon im alttestamentlichen Buch Hiob vor Augen geführt. Sosehr alles, was ist und was geschieht, letztlich in der Vorsehung Gottes begründet ist: Gottes Gedanken sind nicht unsere Gedanken; so hoch der Himmel über die Erde erhaben ist, so Gottes Gedanken über unsere Gedanken (Jes 55,8f).5

      Auch um Platz für den Glauben zu machen, hat Kant die Gottesbeweise und mit ihnen das ganze Gebäude der Metaphysik einer grundsätzlichen Kritik unterzogen, von der sich die Gottesbeweise nie mehr ganz erholt haben. Denn wie immer man Kants Kritik beurteilen mag, sie hat deutlich gemacht, dass die Gottesbeweise von vielen erkenntnistheoretischen und ontologischen Voraussetzungen abhängen, die man begründen kann, die viele aber auch bestreiten. Ihre Schwäche ist, dass sie abstrakt formallogisch etwas begründen, was von grundlegender existentieller Bedeutung für Sinn und Ziel des Lebens und der Welt und damit eine Frage ist, die jeden Menschen in seiner Gesamtexistenz betrifft und darum in Freiheit entschieden werden muss.

      Das ist der Punkt, von dem her Kant die Frage neu aufgriff. Er geht von der Freiheit des Menschen aus und macht klar, dass meine Freiheit nur dann sinnvoll sein kann, wenn die Welt, in der ich lebe, ein möglicher Raum der Freiheit ist. Das wiederum ist nur möglich, wenn die Freiheit des Menschen und die Natur von einer beide umgreifenden größeren Freiheit bestimmt ist. Gott ist darum ein Postulat der Freiheit. Das hat nach Kant bei Fichte, Schelling, Hegel zu den großen idealistischen Systementwürfen geführt, die ausgehend von einer absoluten Freiheit die Welt und die Geschichte als eine große Freiheitsgeschichte verstehen.

      Wenn man alles vernünftig erklärt, fragt sich, woher dann das viele Unvernünftige in der Welt und erst recht woher das zerstörerische Böse in der Geschichte der Menschheit kommt. Unter dem Dauerbeschuss der Kontingenzerfahrung sind die idealistischen Systeme zusammengebrochen. Die kontingente Welt lässt sich nicht in ein System pressen.6 So wollte Karl Marx Hegels System vom Kopf auf die Füße stellen und die Ideen als Widerspiegelung sozio-ökonomischer Verhältnisse deuten, Friedrich Nietzsche Gott als Ausdruck des Ressentiments begreifen. Dass Gott tot ist, war ihm die frohe Botschaft, dass nun der Übermensch lebe.7 Schließlich proklamiert das postmoderne Denken das Ende aller Meta-Erzählungen, des Idealismus wie des Marxismus.8

      Mit der Abschaffung Gottes hat die postidealistische und postmoderne Epoche freilich ein Problem bekommen. Der Mensch findet sich nun allein und verloren in der weiten, ihm bei weitem nicht immer freundlichen Welt vor. Da überkommt ihn, wie schon der alternde Schelling, dann Kierkegaard und Heidegger analysiert haben, die Angst. Sie ist eine Grundbefindlichkeit des modernen Menschen. Wenn Gott ausgedient hat, wenn man ihn nicht mehr braucht oder wenn er gleichgültig geworden ist, dann müssen wir Menschen das Problem der Kontingenz in eigene Regie nehmen und selbst Vorsehung spielen.

      Genau das hat die moderne bürgerliche Gesellschaft unternommen. Sie versucht, die Natur zu beherrschen oder sich zumindest gegen die Unbill der Natur abzusichern. Aus der kontemplativen Vernunft wird die instrumentell-technische Vernunft, die auf das Machbare setzt. Die Natur wird zum Material und als solche ausgebeutet. Dazu kommt die Daseinsvorsorge, das heißt die Ökonomie. Sie ist jetzt nicht mehr nur notwendiges Mittel, sie wird Inhalt, Sinn und Ziel des Daseins. Was zählt, ist Leistung und Erfolg. Die Dinge werden nach ihrer Nützlichkeit und ihrem Tauschwert, letztlich nach ihrem Geldwert bewertet. Damit das funktioniert, muss die Lebenswelt gut organisiert und adminis­triert werden. Es bedarf einer bürokratischen Herrschaftsform, die möglichst alles reguliert und demokratisch kontrolliert. Politik wird auf ein von Sachzwängen diktiertes Planungshandeln reduziert. Höchstes Ziel ist die Sicherheit.

      Es bedurfte nicht erst der Corona-Krise, um zu zeigen, dass diese Rechnung nicht aufgeht. Schon die sich wiederholenden Wirtschafts- und Finanzkrisen zeigten, dass ein ungebremster entfesselter Kapitalismus die Gesellschaft und die Völker in arme und reiche spaltet und Menschen tötet. Die ökologische Krise führt zu der Einsicht, dass der ehrfurchtslose Umgang und die rücksichtslose Ausbeutung der Natur die Erde unbewohnbar macht und die eigenen Lebensgrundlagen zerstört. Die Corona-Krise hat nun zum Beinahe-Shutdown und zum weitgehenden gesellschaftlichen und ökonomischen Stillstand geführt, der am Ende ins Mark der freiheitlichen bürgerlichen politischen Ordnung trifft. Corona hat das bürgerliche Sicherheitsgefühl infrage gestellt. Die Kontingenz hat uns eingeholt.

      Auch die bürgerliche Gesellschaft hat gesehen, dass totale Absicherung nicht möglich ist; ein Restrisiko bleibt. Wir haben das Leben und besonders Sterben nicht in der Hand. Darum ist Religion unverzichtbar. Sie ist zur Kontingenzbewältigung nötig, sie hat nun Trostfunktion.9 Im Glauben weiß man: Die Welt ist nicht schicksalhaft oder deterministisch, sie ist auch nicht reiner Zufall. Man darf auf Gottes Vorsehung vertrauen und kann sich im Letzten von Gott gehalten wissen.10

      Doch diese liberal verbürgerlichte Religion hat nur einen trostlosen Trost zu bieten. Bei ihr haben Religion und Glaube keinen Eigenwert, sie werden funktionalisiert und vereinnahmt. Der Glaube ist ein Transzendieren ohne Transzendenz (Ernst Bloch), eine symbolische Überhöhung dessen, was ohnedies ist. Er verändert nichts an den Bedingungszusammenhängen, im Gegenteil, er stabilisiert sie. So ist die Zivilreligion eine Ideologie der bürgerlichen Lebenswelt. Als Kulturfaktor wird sie nach wie vor geschätzt und gepflegt, weil Technik und Ökonomie allein die seelischen, ethisch-pädagogischen und ästhetischen Bedürfnisse nicht befriedigen können. Als Bedürfnisbefriedigung wird Religion wie alles andere konsumiert. Die Kirche wird zur Service-Kirche.

      Kritik am bürgerlichen Christentum übte schon früh und mit weitreichender Wirkungsgeschichte Sören Kierkegaard. Nach Kierkegaard hat die bestehende Christenheit das Christentum abgeschafft, indem sie das Ärgernis, das Anstößige der christlichen Botschaft abgeschafft


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