Christsein und die Corona-Krise. George Augustin
dieser Zuversicht liegt es begründet, dass die Heilige Schrift bei aller Respektierung der Natur großes Vertrauen auf die Gnade Gottes setzt und uns deshalb immer wieder zu inständigem Gebet einlädt, und zwar in der Überzeugung, dass das innerste Wesen des Gebetes der SOS-Ruf um Hilfe im ursprünglichen Sinn Save our Souls ist. In dieser Grundhaltung mutet uns die Heilige Schrift zu, dass wir Menschen alle unsere Nöte und Leiden vor Gott tragen, es dabei aber ihm überlassen, was er mit unseren Gebeten anfängt, dass wir also ihm weder etwas vorschreiben noch etwas verbieten. Diese Gebetshaltung wird uns in exemplarischer Weise mit Maria und ihrem Verhalten bei der Hochzeit zu Kana vor Augen geführt. Maria bittet hier nicht um irgendetwas Bestimmtes; sie bittet Jesus auch nicht darum, er solle Wein produzieren und damit ein Wunder wirken. Maria sieht ihre Aufgabe vielmehr darin, die Sorgen der Hochzeitsleute Jesus anzuvertrauen und es dann ihm zu überlassen, was er daraufhin tun will.
In dieser biblischen Grundhaltung versteht es sich für gläubige Christen von selbst, dass sie die schwere Not, in die uns die Corona-Krise gebracht hat, in großem Vertrauen vor Gott tragen und seinen Segen, auch und gerade den eucharistischen Segen, wie ihn Papst Franziskus in eindringlicher Weise auf dem leeren St. Petersplatz gespendet hat, empfangen in der Hoffnung, dass Gott mit unseren Gebeten und Bitten das Beste für uns anfangen wird. Solches Vertrauen auf Gottes Gnade und das Ernstnehmen der Weisungen der Experten der Natur sind keine Gegensätze. Natürlich ersetzt das Gebet nicht die notwendige Suche nach einem wirksamen Impfstoff. Aber auch alle hygienischen und gesundheitlichen Vorkehrungen ersetzen nicht das Gebet. Wer hier in Alternativen oder Gegensätzen denkt, erweist sich als ebenso fundamentalistisch wie diejenigen, die der aufgeklärte Theologe heute ansonsten als solche zu bezeichnen pflegt.
In dieser ganzheitlichen Sicht sollte man auch die religiöse Frage, ob man in der Corona-Krise eine Strafe Gottes sehen kann oder gar muss, nicht vorschnell verbieten und auf die Seite legen. Natürlich ist Corona keine Strafe Gottes in dem Sinne, dass Gott das Virus erfunden und in die Menschheit geschickt hätte, um sie für ihre Sünden zu bestrafen. So kann es sich bereits deshalb nicht verhalten, weil auch die Corona-Krise, wie so viele andere Katastrophen, die Armen und ohnehin schon Leidenden und damit Gottes besondere Lieblinge am schwersten trifft. Dennoch redet die Heilige Schrift von Gottes Strafe, freilich in dem Sinne, dass Gott die Menschen den Konsequenzen ihres eigenen Fehlverhaltens preisgegeben sein lässt. Insofern strafen Menschen sich selbst, wenn sie Lebensweisungen Gottes nicht beachten, und werden von daher zur Umkehr gerufen. In diesem Sinn ist es nicht nur angebracht, sondern sind wir verpflichtet, auch in religiöser Sicht danach zu fragen, was Gott uns wohl mit dieser Krise sagen möchte und was wir aus ihr für die Zukunft zu lernen haben.
3. Was wir in der Krise lernen sollten
An erster Stelle darf man dankbar feststellen, dass während der Corona-Krise auch viel Gutes und Positives ans Tageslicht kommt. Im Allgemeinen ist deutlich bewusst geworden, dass wir Menschen alle aufeinander angewiesen sind, dass wir gleichsam in demselben Boot sitzen und dass wir angerufen sind, einander und vor allem den besonders von der Corona-Krise Betroffenen beizustehen. Gerade weil wir Menschen voneinander genügend Abstand einnehmen müssen, spüren wir, wie nahe wir einander verbunden sind und dass wir zu mehr Solidarität untereinander gerufen sind. Ein besonderer Dank gilt allen Ärzten und allen Pflegern und Pflegerinnen, die sich bis zur Erschöpfung um die kranken Menschen kümmern. Dankbar dürfen wir auch sein für die Priester, die viel Phantasie dafür aufwenden, wie sie in dieser schwierigen pastoralen Situation den Menschen in ihrem Leben und Sterben nahe sein und ihnen das Kostbarste geben können, das der katholische Glaube für uns bereithält, nämlich die liebende Nähe Gottes, die er uns in den Sakramenten, vor allem in der Eucharistie, in der Buße und in der Krankensalbung, schenkt.
Unter diesen Vorschlägen muss man allerdings auch Ideen zur Kenntnis nehmen, denen ich als Theologe und Bischof widersprechen muss. Es ist für mich nicht verständlich, dass man die Feier einer Heiligen Messe, die ein Priester in der heutigen Situation allein, aber für die ihm anvertrauten Gläubigen feiert, infrage stellen oder gar als »Geistermesse« diskriminieren kann. Ist denn Liturgiewissenschaftlern nicht mehr bewusst, dass diese Art der Feier in einer Notsituation nur sichtbar macht, was ohnehin zum Wesen christlicher Liturgie gehört, dass sie nämlich immer auch in Stellvertretung für die Menschheit, ja für die ganze Schöpfung gefeiert wird? Es ist für mich nicht nachvollziehbar, wenn ein Bischof dem Bedauern von vielen Gläubigen, dass sie während der Corona-Krise die Eucharistie nicht mitfeiern und den Leib Christi nicht empfangen können, eine »Fixierung auf die Eucharistie« und deshalb eine »Engführung« vorhält – zumal während der Heiligen Woche, in der wir am Hohen Donnerstag der Einsetzung der Heiligen Eucharistie gedenken und im Mittelpunkt des wichtigsten Gottesdienstes in der Osternacht die Ostereucharistie steht. Als völlig verfehlt und dem katholischen Glauben widersprechend muss ich den Aufruf von Theologen verstehen, während der Corona-Krise die Eucharistie zu Hause ohne Priester zu feiern und auf diesem Weg eine sogenannte »Reform« voranzubringen.
Notsituationen sind nicht dazu da, das Lebensnotwendige im menschlichen Leben (wie das alltägliche Brot in Kriegszeiten) und im Leben des Glaubens (wie das Brot des ewigen Lebens) zu relativieren oder gar infrage zu stellen. Sie sind vielmehr vitale Anlässe, es sich neu bewusst zu machen, gerade weil man es schmerzlich vermisst. Krisenzeiten sind deshalb immer auch Stunden der Wahrheit, die es an den Tag bringen, wie es um die Prioritäten in unserem menschlichen Leben und im Leben des Glaubens steht. In dieser Hinsicht erlaube ich mir noch einige Hinweise, was wir aus der Corona-Krise für unsere Zukunft lernen könnten und sollten, wobei ich die Hinweise bewusst in Frageform formuliere.
Haben wir uns in den vergangenen Jahrzehnten aufgrund der großen Fortschritte in Wissenschaft und Technik bis in die digitale Welt hinein nicht selbstsicher daran gewöhnt, dass alles machbar ist und dass wir unser Leben und die Gestaltung der Welt in der Hand haben? Nun aber treibt in der ganzen Welt ein winzig kleines Virus sein Unwesen und schlägt uns vieles und vor allem Elementares aus der Hand, so dass wir auf uns selbst zurückgeworfen sind und in neuer Weise danach fragen müssen, wie es um unsere condition humaine steht. Um nur ein besonders gravierendes Beispiel zu erwähnen: Unmittelbar vor Ausbruch der Corona-Krise in unseren Breitengraden, genauer am 26. Februar 2020, hat der oberste deutsche Gerichtshof das bisherige »Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung« als Verstoß gegen das Grundgesetz beurteilt, es außer Kraft gesetzt und entschieden, dass der Mensch ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben hat. Der katholische Theologe und Bioethiker Ralph Weimann hat diesen Entscheid des Bundesverfassungsgerichts mit Recht als »totalen Dammbruch« und dementsprechend den 26. Februar als »dunklen Tag für die deutsche Rechtsprechung« bezeichnet. Die von diesem Gericht gepriesene Autonomie des Menschen im Blick auf sein eigenes Sterben ist kurz danach von der Corona-Krise, die so vielen Menschen den Tod bringt, massiv infrage gestellt worden. Wäre die Corona-Krise nicht ein vitaler Anlass, uns neu auf die Verletzlichkeit unseres Lebens und damit auch auf die konstitutionellen Grenzen unserer Autonomie zu besinnen?
Haben wir uns nicht auch selbstverständlich angewöhnt, uns in unserem Leben auf das zu verlassen, was sichtbar, materiell und greifbar ist? Nun aber zeigt ein für unsere Augen und selbst mit herkömmlichen Mikroskopen nicht sichtbares Virus, welche zerstörerische Folgen es auf der ganzen Welt zu entfalten vermag. Wäre es da nicht angezeigt, uns auch in positiver Hinsicht vermehrt am Nicht-Sichtbaren und Nicht-Materiellen zu orientieren? Denn auch viel Gutes ist in unserem Leben und in der Welt nicht sichtbar und möchte doch in uns weiterwirken. Dies gilt in erster Linie vom unsichtbaren Gott selbst, der in unserem Leben gegenwärtig ist und von uns wahrgenommen werden möchte und der zu uns auch durch seine Schöpfung spricht, die eben nicht stumm ist, sondern nur als stumm wahrgenommen wird, wenn der Mensch für ihr Sprechen taub ist.
Die Corona-Krise stellt auch Fragen an die Art und Weise, wie wir unseren christlichen Glauben heute verstehen und leben und welchen Prioritäten wir besondere Achtung schenken. In den vergangenen Jahren ist mir beispielsweise immer wieder die Aussage begegnet, Gott habe keine anderen Hände als die unseren. Dieses Wort ist in der Tat sehr wahr; denn Gott will und kann in unserer Welt – zumal in der gegenwärtigen Corona-Krise – durch uns Menschen an anderen Menschen handeln. Dennoch ist dieses Wort – Gott sei es gedankt! – nur die halbe Wahrheit. Der Trost des Glaubens besteht doch in der