Christsein und die Corona-Krise. George Augustin

Christsein und die Corona-Krise - George Augustin


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Kirche mit versteckter Innerlichkeit geworden, die nicht mehr der streitenden Kirche gleichsieht.13

      In dieser Spur stehen zwei Märtyrer des 20. Jahrhunderts. Dietrich Bonhoeffer kritisiert in seinen Briefen und Aufzeichnungen aus der Haft »Widerstand und Ergebung«, dass Gott aus dem Bereich der mündig gewordenen Welt hinausgeschoben wird und als Lückenbüßer nur noch Antwort auf sogenannte letzte Fragen ist.14 Alfred Delp verkennt im bürgerlichen Lebensstil nicht die Größe, die er einmal hatte, aber nun ist er erstarrt in allen möglichen Sicherheiten und Versicherungen und hat zu einen Menschentyp geführt, »vor dem selbst der Geist Gottes, man möchte sagen, ratlos steht und keinen Eingang findet«. Dieser bürgerliche Mensch hat sich auch in der Kirche breitgemacht mit Besitz, Macht, gepflegtem Dasein, gesicherter Lebensweise. Die bürokratische Kirche ist großenteils das Werk des bürgerlichen Menschen.15

      In der Theologie hat vor allem Johann Baptist Metz im Anschluss an Max Horkheimer und Theodor Adorno die innere Dia­lektik der Aufklärung aufgezeigt16 und die transzendentale und existentiale Theologie als Einzug des bürgerlichen Denkens ins Innere von Theologie und Kirche kritisiert. Sie verfällt der Aufklärung, indem sie diese umarmt und sich von ihr umarmen lässt.17 Kirche und Theologie können ihre Krise nicht überwinden, indem sie den Teufel mit Beelzebub austreiben und sich dem bürgerlichen Bewusstsein verschreiben.

      So steht die Christenheit da wie ein entlaubter Baum nach einem spätherbstlichen Sturm. Sind also die leeren Kirchen, der leere Petersplatz ein äußeres Symbol der inneren Leere? Sind die leeren Kirchen Mausoleen eines toten Gottes, wie Nietzsche spottete? Nein! Petrus stand in der Gestalt seines Nachfolgers da mit der Botschaft von der Auferstehung: Christus vivit. Er ist auferstanden. Auf diesen Grund muss sich die Christenheit besinnen. Auf diesen Fels des Evangeliums kann sie bauen.

      3. Wie können wir die Krise überwinden?

      Es ist nicht Aufgabe und Zuständigkeit der Kirche und der Theologie Vorschläge zu machen für eine Exit-Strategie und für die Bewältigung der ökonomischen, sozialen und politischen Herausforderungen im Gefolge der Corona-Krise. Doch eine Grund­orientierung darf man erwarten. Sie ist in diesem Zusammenhang nur mit wenigen Stichworten möglich.18

      1. Als Christen müssen wir in erster Linie wissen, wer wir sind, woraus wir leben und worauf wir hoffen. Es war für mich mehr als ein Zufall, dass die Krise besonders an Ostern offenkundig wurde. Denn Ostern hat den Stein vor dem Grab weggeräumt und die Botschaft von Gott, der die Toten lebendig macht, gebracht.19 Sie passt in kein Schema. Das Ostergeschehen ist Zeugnis von Gottes souveräner Freiheit, kontrafaktischer Stachel, der jede Anpassung an vorgegebene Schablonen ausschließt und neue Perspektiven aufschließt. Sie ist Kontingenz pur, und doch zugleich Zeugnis von Gottes unverbrüchlicher Treue, in der wir in der Unbeständigkeit der Welt im Glauben festen Stand und Halt gewinnen.

      Wir können vom Reich Gottes nur in Bildern und Gleichnissen reden, aber die Rede vom »Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit« zeigt, dass diese Botschaft nicht gleichgültig ist gegenüber schreiendem Unrecht in der Welt. Sie ist mehr als die Erfüllung von Bedürfnissen, mehr als technokratisch geplante, von Computern gesteuerte Zukunft. Sie ist keine innerweltliche Utopie, kein Hurra, sondern ein Amen,20 ein »Ja, so ist es,« und damit Ruf zur Umkehr von falschen Götzen und zugleich Sendung hinaus in die Welt.

      2. Die neue Schöpfung, die mit Ostern beginnt, verweist uns auf die erste Schöpfung. Bereits in der Genesis erhält der Mensch den Welt- und Kulturauftrag, die Erde zu hegen und zu pflegen. Doch der Auftrag wird sofort weitergeführt und überhöht durch die Grundlegung der Sabbatordnung, welche die Arbeits- und Wirtschaftsordnung unterbricht und den Rhythmus der Zeit begründet.

      Die Heiligung des Sabbats besagt, dass der Mensch nicht nur Arbeitstier und die Sabbatruhe nicht allein Ausruhen von der ­Arbeit und Kraftschöpfen für neue Arbeit ist. Sie ist ein Innehalten, um Zeit zu haben für Gott wie für die Menschen, für Familie, Freunde, Geselligkeit. Gotteszeit ist des Menschen Zeit. Die Ehre Gottes ist der lebendige Mensch (Irenäus von Lyon). Kult und Muse, Kult und Kultur gehören zusammen. Einer Welt, die keine Zeit mehr hat, sondern nur noch rast und rennt, muss man sagen: Es ist Zeit, Zeit zu haben. Um menschlich zu überleben, tut eine neue Sabbatordnung not.

      3. Die neue Schöpfung beginnt nicht erst mit dem Ostermorgen, sie setzt bereits am Karsamstag, dem Heiligen Samstag ein. Der Descensus ad inferos wird in der westlichen Kirche wenig bedacht, in den Ostkirchen steht er im Mittelpunkt des Ostergeschehens.21 Jesus steigt hinab ins Schattenreich des Todes und der Toten. Das ist der Sieg über die Macht und die Mächte des Todes und Solidarität mit den Toten, mit den Ermordeten, den Vergessenen, mit allen, die keine Zukunft haben und im Schatten des Todes leben, weil sie als wenig nützlich gelten und darum ausgemustert werden.

      Das ist mehr als stilles Totengedenken und Erinnerungskultur, das ist memoria, vergegenwärtigende Erinnerung daran, dass wir auf den Schultern derer stehen, die uns vorausgegangen sind. Ihre Namen sind bleibend im Gedächtnis Gottes eingeschrieben, bei dem sie nun leben und im Frieden ruhen. Ohne diese Herkunft haben wir keine Zukunft. Das widerspricht einseitiger Fortschritts- und Zukunftsorientierung, die ohne Herkunft ihren Kompass verloren hat.

      4. Ostern ist das Fest der christlichen Freiheit. Freiheit ist ein großes Wort, sie ist das Schlüsselwort der Moderne. Wir dürfen es nicht aufgeben; wie müssen es verteidigen. Doch christliche Freiheit hat nichts zu tun mit egoistisch kalt rechnender Freiheit, mit dem Kult persönlicher Selbstverwirklichung, die schnell zur Wehleidigkeit wird, schon gar nichts mit individualistischer Willkür. Sie ist befreite, erlöste Freiheit, die in der Liebe wirksam wird (Gal 5,1.6). Sie ist frei von eigener Anhänglichkeit und damit frei für andere. Sie zeigt sich im Teilen, in der Solidarität, in der einer des anderen Last trägt (Gal 6,2). Die Barmherzigkeit nimmt sich der kontingenten konkreten Not an. Sie betrachtet die Not nicht nur als einen in der Sozialordnung vorgesehenen Sozialfall; sie ist auf die konkrete Notsituation bezogene Gerechtigkeit. An seinen Wunden haben die Jünger den auferstandenen Herrn wiedererkannt.

      Es ist das Identifikationskriterium der Christen, Jesus Christus an den Wunden des Leibes Christi, die die Kirche ist, die seit dem gerechten Abel verborgen in der ganzen Menschheitsgeschichte gegenwärtig ist (vgl. Lumen gentium 2), zu erkennen (Mt 25). Die Kirche muss in der Welt als Wagnis für andere präsent sein; sie ist nur Kirche als Kirche für die anderen.22 Ihre Zukunft hat sie in der Rückkehr der Kirchen in die Diakonie.23 Kirche als Feld- und Notlazarett (Papst Franziskus).

      5. Der Auferstandene erschien seinen Jüngern bei Mählern. Ostern und Eucharistie gehören untrennbar zusammen. Das Schlimme beim diesjährigen Ostern war der Ausfall gemeinsamer Eucharistiefeiern und noch schlimmer, dass dies laut Umfragen nur relativ wenige so empfanden. Der Papst setzte auf dem Petersplatz ein Gegenzeichen. Er erteilte den Segen urbi et orbi nicht wie üblich; er erteilte ihn mit der Monstranz und demons­trierte, dass wir Zukunft und Leben nur vom eucharistischen Brot des Lebens haben werden. Die Eucharistie ist ein Mahl, und wir können das eucharistische Brot nicht teilen, ohne auch das tägliche Brot zu teilen. Paulus zeigt uns, dass wir die beiden Tische nicht scheiden, aber dass wir sie doch unterscheiden sollen (1 Kor 11,34).

      Die Eucharistie ist darum nicht nur ein Mahl. So ging auf dem Petersplatz dem eucharistischen Segen die eucharistische Anbetung voraus. Jesus selbst hat das Letzte Abendmahl gefeiert im Ausblick auf das eschatologische Mahl im Reich Gottes. Das führt uns in die Apokalypse, das letzte Buch der Bibel, in dem die Feier der Eucharistie beschrieben wird als Echo und Vorausnahme der himmlischen Liturgie vor dem geschlachteten und erhöhten Lamm, das uns mit seinem Blut zu Königen und Priestern gemacht hat (Offb 5,8–10). Um das zu erfassen liegt noch ein längerer Weg der österlichen Erneuerung der Liturgie vor uns.

      6. Bereits das älteste Osterzeugnis des Neuen Testaments zeigt, dass es das Osterzeugnis nicht ohne die Osterzeugen gibt, allen voran Petrus und die Zwölf (1 Kor 15,3–5). Gewiss, alle Christen erhalten bei der Taufe das Osterlicht und sollen davon Zeugnis geben. Aber es gibt die authentischen apostolischen Zeugen. Wie sie ihren unverzichtbaren Dienst tun sollen, dafür hat Jesus am Abend vor seinem Tod mit der Fußwaschung ein deutliches Exempel statuiert. Er hat die hierarchische Spitze auf den Kopf gestellt. Sie zeigt nach unten; sie soll nicht herrschen, ihr wird der Sklavenrolle des Dienens zugewiesen.


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