Christsein und die Corona-Krise. George Augustin

Christsein und die Corona-Krise - George Augustin


Скачать книгу
auf sich nimmt und mir nachfolgt, ist meiner nicht wert« (Mt 10,38 und Lk 14,27). Wer den gekreuzigten Jesus liebt und ihm nachfolgt, kann sich unmöglich nicht dazu berufen fühlen, jenen, die leiden, ihr Kreuz zu erleichtern, durch tätige Hingabe an die anderen, durch tatkräftiges und wachsames Bemühen, jedes Golgota in einen Ort der Auferstehung und Lebensfülle zu verwandeln. Genau das tun die vielen Menschen – Ärzte, Krankenschwestern, Pfleger, medizinische Fachkräfte, Priester, Arbeiter –, die sich in diesen Zeiten der Pandemie für das Gemeinwohl einsetzen und dafür, dass die wesentlichen Dienste auch weiterhin geleistet werden können. In denen, die sich bemühen, so zu leben und zu handeln, ist das Kreuz Christi nicht um seine Kraft gebracht worden (vgl. 1 Kor 1,17). Durch sie erreicht uns die Berührung der göttlichen Gnade, die vergibt, heilt, tröstet und erneuert, und durch sie wird der Sieg des zum Leben wiederauferstandenen Herrn greifbar. Auch das ist eine Weise, wie Gott in dieser dramatischen Pandemie zu uns spricht. In einem Gedicht von Emily Dickinson – einsamer Ruferin im Amerika des 19. Jahrhunderts – heißt es: »Wer nicht den Himmel fand – hier unten – / Der geht auch oben fehl – / Denn Engel mieten nebenan, / Wohin wir auch verziehn«.27 Man muss also die Augen des Glaubens bemühen, um »die Heiligen von nebenan« zu erkennen, wie Papst Franziskus sie nennt, und sich an ihnen ein Beispiel zu nehmen.

      Auch noch in anderer Hinsicht lässt die Tragödie der Pandemie die Berührung Gottes erkennbar werden: Viele haben erfahren und oft entdeckt oder wiederentdeckt, welche große Hilfe ihnen in diesen schmerzlichen Zeiten aus dem Glauben erwachsen ist. Der Glaube gibt uns Augen und Herz, um zu verstehen, dass Gott nicht der Rivale des Menschen, sondern sein aufrichtigster und treuester Verbündeter ist. Wer an Jesus Christus glaubt, der weiß, dass der ewige Sohn am Kreuz unseren Tod und unsere Sünden auf sich genommen hat, weil er uns helfen wollte, unser Kreuz zu tragen. Gott, der Liebe ist, wird den, der auf ihn vertraut, niemals verlassen. Dank des Glaubens an Gott kann die Furcht durch Hoffnung, egoistische Verschlossenheit durch neuen Schwung im Einsatz für andere, Einsamkeit durch tätige Solidarität mit den Bedürftigsten besiegt werden. In diesen Zeiten der von außen auferlegten Einschließung fand bei vielen die Besinnung auf das, was unsere engen Alltagshorizonte übersteigt, mehr Raum ebenso wie das Gebet, das als Quelle des Lichts und des Friedens erfahren oder wiederentdeckt wurde. Für etliche war es ein Gewinn, über das nachzudenken, was wir durchgemacht haben und wie wichtig es ist, Entscheidungen zu treffen, die von dem klaren und mutigen Willen inspiriert sind, die noch bis vor kurzem vorherrschende Logik des Konsumismus und Hedonismus zu überwinden. Sich dem Dienst am Gemeinwohl zu verschreiben und auf Gott, der Liebe ist, zu vertrauen, befreit von der Angst, weil es uns die Wahrheit erfahren lässt, die in den Worten des ersten Johannesbriefs ausgedrückt ist: »Die vollkommene Liebe vertreibt die Furcht« (1 Joh 4,18).

      5. Für einen Neuanfang

      Die durch Covid-19 hervorgerufene Pandemie hatte verheerende – und oftmals leider tödliche – Auswirkungen auf das Leben vieler unserer Weggefährten, Männer und Frauen, und hat auch in den Köpfen und Herzen nicht minder negative Folgen gezeitigt: Angesichts dieser Geißel, die die Menschheit getroffen hat, hat sich ein Gefühl der Panik, eine pauschale und diffuse Angst ausgebreitet, die Menschen dazu treiben kann, den Feind, den es zu fürchten gilt, vorschnell zu identifizieren und anderen gegenüber Gefühle der Ablehnung zu hegen. Frucht dieser Angst war für viele die Erfahrung einer tiefen Einsamkeit, in der sie dazu neigten, sich zu verschanzen – als wäre der andere Mensch lediglich eine Gefahr, vor der man fliehen, oder ein Feind, vor dem man sich schützen muss. Gleichzeitig hat diese furchtbare Erfahrung am eigenen Leib oder in der Person geliebter Menschen, die im Kampf gegen das Übel nicht alle siegreich waren, vielen neue Horizonte des Denkens und Fühlens erschlossen. Was wird all das für die Zukunft der Gewissen und der ganzen Menschheit bringen? Nach einer so weitreichenden und tiefgreifenden Bewährungsprobe Prognosen zu stellen, ist sicherlich gewagt, doch eines steht fest: Die verordnete Einschließung in den Häusern und die Bilder unzähliger Särge mit Leichen, die auf die Friedhöfe gebracht wurden, um dort verbrannt oder begraben zu werden, werden in uns allen unweigerlich tiefe Spuren hinterlassen. Es sind vor allem einige Impulse, die es für morgen aufzulesen gilt: Botschaften des Lebens und der Hoffnung, Botschaften, die eher durch Gesten als durch Worte zu uns sprechen.

      Eine erste Botschaft kommt gerade von jenen, die sich auf vielerlei Art mutig und großzügig aufgeopfert haben, um die Kranken zu pflegen, den Gemeinschaften – auch im geistlichen Sinne – beizustehen, die Gesunden zu schützen und die wesentlichen Dienstleistungen des zivilen Lebens sicherzustellen. Es wäre zu wünschen, dass ihr Beispiel alle dazu anspornen kann, sich mehr und besser in Sachen Nächstenliebe zu engagieren. Es gilt, den Wert des Gemeinwohls wiederzuentdecken – eine Wiederentdeckung, für die es im Übrigen viele Anzeichen gegeben hat: angefangen mit der Zustimmung, mit der eine breite Mehrheit der einfachen Leute auf die ihnen auferlegten Beschränkungen reagiert hat und die beweist, dass viele Menschen – trotz der Anmaßung und Streitsucht einiger Protagonisten auf der politischen Bühne – unserer Geschichte gerecht geworden sind, die vom christlichen Glauben geprägt ist. Es war eine Übung der Verantwortung für alle: Und wenn Verantwortung bedeutet, eine Last auf sich zu nehmen (das lateinische Wort für »antworten«, respondere, lässt das Wort »Last«, pondus, anklingen), dann ist jeder aufgerufen, nicht nur die eigene Last zu tragen, um sich vor möglicher Ansteckung zu schützen, sondern auch die Last jedes anderen und aller anderen auf sich zu nehmen und alles daranzusetzen, dass sich das Virus – das auch von Menschen ohne Krankheitssymptome übertragen werden kann, die gar nicht wissen, dass sie sich infiziert haben – nicht weiter ausbreitet.

      Sodann war verordnete Einschließung für nicht wenige eine Gelegenheit, die unmittelbaren Beziehungen wieder neu zu würdigen, angefangen mit den Beziehungen innerhalb der Familie. Unter dem Druck von Produktivität und eines übertrieben aktionistischen Konsum- und Karrierestrebens – verbreiteter Lebensstil in einer Gesellschaft des Wohlstands und der angemaßten Überlegenheit anderen gegenüber – waren diese Familienbeziehungen nicht selten vernachlässigt oder geringgeschätzt worden, bis die Ausbreitung des todbringenden Virus dafür sorgte, dass sich alle wieder neu ihrer Grenzen und ihrer großen Verletz­lichkeit bewusst wurden. Womöglich werden diese Erfahrungen vielen helfen, die Bedeutung der kleinen Gesten der Aufmerksamkeit und Güte gegenüber anderen – angefangen beim unmittelbaren Nächsten – sowie den Wert der Zeit wiederzuentdecken, die man damit verbringt, mehr zu beten, mehr nachzudenken, den anderen mehr zuzuhören und sich ihnen mehr hinzuschenken. Wieder zuhören zu lernen, die Kraft und Schönheit des Gesprächs wiederzuentdecken, selbst kleine Gesten des Teilens zu leben, vor allem mit denen, die besonders schwach und benachteiligt sind, aus Liebe zu den anderen »Zeit zu vergeuden« – auch das sind Impulse, die uns aufgrund dessen, was wir erlebt haben und voraussichtlich auf eine noch unabsehbare Zeit weiterhin werden erleben müssen, in den Sinn kommen können.

      Außerdem darf nicht übersehen werden, dass auch die Europäische Union zu einer tiefgreifenden Selbstüberprüfung, révision de vie, gerufen ist: Der Traum ihrer Gründerväter war ausgerichtet auf den unendlichen Wert jeder menschlichen Person und damit auf die Prinzipien der Verantwortung und Solidarität. Mit der Pandemie entstand die Herausforderung, diese Inspiration in die Tat umzusetzen, um dem Schutz des Lebens und der Gesundheit aller, angefangen bei den Schwächsten, zu dienen. Das hat die Frage aufgeworfen, ob auf europäischer Ebene ausreichend Handlungsträger bereit sind, sich bis zum Letzten einzusetzen, um eine solche Herausforderung anzunehmen. Unterdessen darf die Enttäuschung nicht ignoriert werden, die viele angesichts eines Europas empfinden, das den ambitionierten Plan, ein »gemeinsames Haus« für alle Europäer zu sein, nicht einmal annähernd verwirklicht hat: Auch wenn hier keinen übereilten pessimistischen Einschätzungen das Wort geredet werden soll, ist doch unschwer zu erkennen, dass die Gesellschaften vieler ­Industrieländer des alten Kontinents von Zersplitterung und egoistischer Isolation gekennzeichnet sind. Auf die eigene Region begrenzte Interessen kommen auf, die sich gegen jede Solidaritätslogik durchsetzen. Es fehlen eine gemeinsame Seele, eine gemeinsame Identität, ein allgemeiner, von Großzügigkeit angetriebener Schwung, aus denen sich weitgespannte Träume und Projekte für das Gemeinwohl speisen könnten: Europa ist lediglich in wirtschaftlicher Hinsicht nominell geeint, ohne jedoch ein einheitliches und weiter gespanntes politisches Programm zu verfolgen. Deshalb erweist es sich als unfähig, zum richtigen Zeitpunkt die richtigen Antworten


Скачать книгу