P wie Pole. Ein Roman aus Schwaben. Elsbeth Schneider-Schöner
hier im Ort, ich war selbst in seiner Klasse …«
Eigenartigerweise fiel es ihr leichter, über Charlotte zu sprechen als über sich selbst. Über sie gab es eben auch nicht viel zu sagen, dachte sie. Zwischen Stall und Küche passierte nicht viel. Janek antwortete nicht, sondern starrte die ganze Zeit stur auf den Boden vor seinen Füßen. »Du verstehst kein Wort, stimmt’s? Ich könnte dir jedes Geheimnis erzählen, und du würdest es nicht verstehen?« Abgesehen davon, dass es keine Geheimnisse zu erzählen gab außer denen, die Charlotte ihr anvertraut hatte. Plötzlich wurde sie wütend, wütend auf den Jungen, der so stumm an ihrer Seite trottete. »Deutsche, seid zu stolz, Euch mit Polen einzulassen!«, wiederholte sie laut und klar einen Satz, der ihr von gestern noch in Erinnerung war.
Der Junge wendete den Kopf und lächelte sie schüchtern an. »Guten Dank«, flüsterte er, und Eva schoss die Röte ins Gesicht.
Den Rest des Wegs legten sie schweigend zurück, sorgfältig darauf bedacht, dass ihre Hände sich an der Wagendeichsel nicht berührten.
»Achtundvierzig Liter.« Agnes Scheller trug den Betrag in ihr Wachstuchheft ein und nickte Eva zu. Früher hatte ihr Mann für die staatliche Molkerei hier die Milch entgegengenommen, gewogen und quittiert, aber Erich Scheller war gleich zu Beginn des Kriegs eingerückt und irgendwo im Süden Russlands verschollen. Seine Frau war dankbar gewesen, dass sie die Stelle übernehmen konnte – das Reich ließ seine opferbereiten Bürger in der Stunde der Not eben nicht im Stich. Die Schellers hatten sich als eine der ersten Familien im Ort für die Bewegung engagiert; Agnes Scheller leitete immer noch die Ortsgruppe der NS-Frauenschaft. Im ersten Kriegsjahr hatte Eva bei ihr eine Hauswirtschaftsschulung besucht, bei der es im Wesentlichen darum gegangen war, wie man sparsam und ausschließlich mit heimischen Erzeugnissen kochen konnte. Eigentlich hatte sie gar nicht hingehen wollen, weil sie die Scheller nicht mochte, aber alle anderen Mädchen waren auch da gewesen, selbst Charlotte. Die Vorträge über Eintopfsonntag und Krautverwendung waren zwar entsetzlich langweilig gewesen, aber danach hatten sie gemeinsam gesungen und einmal sogar im Kartoffelfeuer Kartoffeln und Stockbrot gebacken. Neben Charlotte hatte sie gesessen, in die Flammen geschaut und sich frei und erwachsen gefühlt wie selten. Das Leben war groß und bunt und voller Möglichkeiten und konnte auch sie aus ihrem kleinen Dorf hinaus in die aufregende Welt führen! Wie ihr die zwanglose, fröhliche Kameradschaft gefallen hatte, das Lagerfeuer und natürlich die Möglichkeit, der nie endenden Arbeit auf dem Hof zu entwischen und den Eltern gegenüber sogar einen unwiderlegbaren Grund zu haben, warum sie erst abends um zehn wieder zurück sein konnte. Schön war das gewesen. Um das wieder zu erleben, war sie bereit, sich noch viele Vorträge über Ersatzkaffee, die Aufgabe der deutschen Frau im Nationalsozialismus und die Wiederverwertung aufgezogener Sockenwolle anzuhören.
»Ordentlich, Eva! Und jetzt habt ihr also auch eine tüchtige Hilfe auf dem Hof?« Die flinken Augen der Scheller wanderten über den Polen hinweg wie Ameisen, registrierten das zerstochene, aufgequollene Gesicht, die struppigen Haare, die abgerissene Kleidung. »Schade, dass es keine Franzosen mehr gab!«
»Der Jan hier ist schon recht. Muss noch ein bisschen Deutsch lernen und sich eingewöhnen, aber dann wird es gehen.«
Agnes Scheller lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und lächelte ein wenig schief. Eine Kuh hatte ihr vor Jahren beim Melken einen Schneidezahn ausgeschlagen, und sie tat alles, damit man die Lücke nicht bemerkte.
»Aber trotzdem seid ihr vorsichtig, ja? Vor allem ein junges Mädel wie du! Der Rössle hat euch ja sicher Bescheid gesagt.«
Eva war ein bisschen verwirrt. »Er hat uns eine Bekanntmachung vorgelesen. Wie wir umgehen sollen mit den Polen auf dem Hof.« Sie reichte ihr Milchbüchlein über den Tisch, um sich die Lieferung quittieren zu lassen. Die Scheller nahm ihren Stift und zwinkerte verschwörerisch, während sie den Betrag abzeichnete.
»Die haben eine tierische Natur, diese Ostleute. Polen, Russen, Ukrainer – das sind die reinsten Böcke! Sie können nichts dafür, es liegt in ihrem minderwertigen Blut. Wenn die eine Frau sehen, denken die nur an eins.«
»Und woran?«
Agnes Scheller ließ ihren Stift fallen, griff nach Evas Hand und drückte sie. »Mein Gott, Mädel, du bist so unschuldig! Nimm dich einfach in Acht und sprich kein Wort mehr mit denen, als unbedingt nötig ist. Und frag mal deine Freundin, die Charlotte. Die kann dir sicher mehr dazu sagen.«
Eva hatte das Gefühl, etwas Schmieriges, Widerwärtiges hätte sich im Raum ausgebreitet, ohne dass sie gewusst hätte, was das sein könnte. Sie steckte hastig ihr Buch ein und gab Jan einen Wink, dass er die leeren Milchkannen wieder aufladen sollte.
»Willst du Magermilch mitnehmen heute Abend?«, fragte die Scheller wieder in geschäftlichem Tonfall.
»Gern.« Irgendetwas musste sie sagen, um das unangenehme Gefühl loszuwerden, das wie ein fauler Apfel in ihrem Mund lag. »Gibt es bald wieder eine Schulung, Frau Scheller?«
»Dann hat es dir also gefallen beim letzten Mal? Hast du was gelernt?«
»Sicher, ich – es war ganz lehrreich und außerdem – « Sie wusste nicht, was sie sagen sollte, denn lügen wollte sie nicht. »Es war schön, mit den anderen zusammenzusitzen«, sagte sie schließlich. Die Scheller nickte zufrieden.
»Was kann es Schöneres geben als eine Gruppe gesunder deutscher Mädel, die unter der Hakenkreuzfahne zusammenkommen und lernen, wie sie ihren Beitrag zum großen Kampf des Volkes leisten können … Ich fahre selbst Ende des Monats zu einem Treffen der NS-Frauenschaft nach Stuttgart und freue mich schon darauf! Wahrscheinlich gibt es jede Menge Anregungen für die Arbeit vor Ort, und dann gibt es auch hier wieder einen Kurs für euch Mädels. Also dann, Eva! Bis heute Abend. Heil Hitler!«
Mechanisch streckte Eva den rechten Arm vor. »Heil Hitler, Frau Scheller! Und einen schönen Tag noch.«
Der Pole Jan lehnte draußen an ihrem Karren, wo inzwischen noch andere Milchlieferanten warteten: die alte Röhrig, die Mädchen vom Lindenhof und Hermann Voss. Die Voss selbst hatten zwar keine Kühe, aber Hermann verdiente sich ein paar Groschen dazu, indem er morgens noch vor der Schule und am Abend bei den beiden Nachbarhöfen die Milch holte und zur Sammelstelle brachte. Als HJ-Fähnleinführer galt er als absolut zuverlässig, und auf allen Höfen waren inzwischen die Arbeitskräfte rar geworden.
»Milch gut, Eva?« Eva spürte die Blicke der anderen auf sich zu fliegen wie angespitzte Pfeile.
»Halt doch den Mund«, fuhr sie Jan an und griff nach der Deichsel. »Wir müssen nach Hause.«
»Ist das euer Polacke?« Hermann schob sich näher heran und grinste. »Verdammt mickriges Exemplar, wenn du mich fragst.« Plötzlich griff er nach dem Stoffabzeichen, das traurig an einem einzelnen Fädchen von der rechten Hemdbrust des Jungen baumelte, riss es mit einem Ruck herunter und warf es auf den Boden. »Schlampig angenäht«, stellte er fest. »Kann ja kein Mensch erkennen auf der Straße, dass man es hier mit einem Dreckspolen zu tun hat und sich in Acht nehmen sollte. Wenn ich wollte, könnte ich ihn wegen Gehorsamsverweigerung anzeigen, dann holen sie ihn ab, noch bevor er bei euch den ersten Löffel klauen kann.«
»Lass uns in Ruhe, wir müssen nach Hause.«
Der junge Pole war bleich geworden und biss auf seiner Unterlippe herum. Eva konnte sehen, dass er Angst hatte, und Hermann sah es auch; seine Augen funkelten. Hermann, der kleine Bruder von Charlotte, der ein paar Jahre jünger war als sie und hier versuchte, sie einzuschüchtern! »Das geht dich gar nichts an!«
Aber Hermann vertrat ihnen den Weg. »Klar geht’s mich was an, wenn die Polen frech werden! Der Führer vertraut auf uns von der HJ. Ist ja sonst keiner mehr da, der aufpassen kann.« Er gab dem Jungen einen Stoß. »Los, heb’s auf, aber zackig!«
Jan bückte sich hastig und griff nach der Stoffraute; Tränen liefen ihm über die verpickelten Wangen.
»Lass dir das eine Lehre sein … Wenn ich dich noch einmal erwische, gibt’s eine Anzeige, da kannst du Gift drauf nehmen!«
Als sie endlich auf dem Heimweg waren, brachte Eva es nicht über sich, zu Jan hinüberzusehen. Sie hielt den