P wie Pole. Ein Roman aus Schwaben. Elsbeth Schneider-Schöner

P wie Pole. Ein Roman aus Schwaben - Elsbeth Schneider-Schöner


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auf jedem Hof geben. Er dachte daran, wie gern er immer mit Holz gearbeitet hatte; es war so befriedigend gewesen, am Ende des Tages mit den Händen das greifen zu können, was man selbst hergestellt hatte. Je weniger er geschrieben hatte, desto mehr hatte er sich mit Holz beschäftigt, hatte Löffel geschnitzt, kleine Schalen, einmal sogar eine Kasperfigur, die Agnieszka bunt angemalt und Tarzan getauft hatte. Er fragte sich, wie lange Tarzan wohl gebrannt hatte.

      »… seit Lincoln!«

      »Lincoln? Wieso Lincoln?«

      »Du hörst mir nicht zu! Weil Lincoln die Sklaverei abgeschafft hat. Ich dachte, seitdem gibt es keine Sklaverei mehr, aber wenn das heute Morgen kein Sklavenmarkt war, dann bin ich ein Hitlerjunge. Wie die uns angeglotzt haben! Als wären wir irgendwelche Wilde aus dem Kral.«

      Untermenschen, dachte Tomasz. So heißt das: Untermenschen. Aber er hielt den Mund.

      »Als dieser Obernazi angefangen hat, den Leuten in den Mund zu schauen und ihre Zähne zu prüfen, wäre ich ihm am liebsten an den Hals gegangen – «

      »Und dann? Was hättest du dann gemacht? Tot im Dreck gelegen wahrscheinlich. Vergiss das, Janek. Dieses ganze verlogene Geschwafel von Heldentum und Edelmut bringt dich schneller unter die Erde als Pest und Cholera zusammen. Freu dich lieber, dass wir aus dem Lager raus sind, dass es gleich etwas zu essen gibt – «

      » – dass wir hier neben dem Schweinestall eingesperrt sind und wie Ungeziefer behandelt werden, meinst du?« Jan spuckte aus.

      »Kuhstall, Junge. Eindeutig Kuhstall.« An dem Schloss draußen klimperte es, Kinder kicherten, die Tür schwang auf. Jan griff nach seiner Wolldecke und zog sie sich hoch bis zum Hals. Das schmale blonde Mädchen kam herein und stellte ein Tablett auf die Holzkiste, hinter ihr drängten sich die Zwillinge. Einer von ihnen trug schwer an einem Eimer Wasser, der andere streckte Tomasz ein Stück Seife, einen Lappen und ein Handtuch entgegen.

      »Euer Abendessen«, sagte das Mädchen. »Und Wasser zum Waschen.«

      »Ist aber kalt«, krähte der eine Junge strahlend. »Aus der Pumpe. Wir müssen uns auch immer mit kaltem Wasser waschen.«

      »Nur am Samstag nicht«, setzte sein Bruder hinzu. Er war der Zurückhaltendere von den beiden, sprach so leise, dass man ihn nur schwer verstehen konnte, hob den Blick kaum vom Boden. »Am Samstag gehen wir in die Waschbütte zum Baden.«

      »Ich kann schon schwimmen«, teilte jetzt der Erste mit und blähte sich. »Aber der Emil nicht. Emil ist ein Schisser.« Der Emil genannte kleine Junge knuffte seinen Bruder unsanft in die Seite, die große Schwester packte ihn an den Schultern und schob ihn zurück.

      »Schluss jetzt, Emil, Hans! Stellt die Sachen hier ab und lasst die Leute in Ruhe.« Sie wandte sich an Tomasz. »Der Abort ist gerade über den Hof, das kleine Häuschen. Verstehst du?« Tomasz nickte, deutete dann auf das Schloss und zog fragend die Schultern hoch. Das Mädchen wurde rot.

      »Ich weiß auch nicht … Jetzt wascht euch erst mal.« Sie schob die kleinen Jungs vor sich her nach draußen. »Gute Nacht.«

      Tomasz sah sich an, was auf dem Tablett stand: zwei tiefe Teller mit Kartoffeln und Kraut, Brot, ein Krug, zwei Becher. Er nahm das Brot, riss es in zwei Teile und warf eins davon Janek zu.

      »Nehmet und esset alle davon …«

      Janek warf ihm einen wütenden Blick zu. »Über die heilige Eucharistie macht man keine Witze!«

      »Wenn du meinst.« Tomasz hob den Krug hoch und roch daran. »Most«, stellte er fest und nahm einen Schluck. »Hübsches Mädchen, stimmt’s? Und abgeschlossen hat sie auch nicht. Hatte wahrscheinlich Sorge, wir würden in ihren Eimer scheißen.«

      Jan kaute auf beiden Backen. »Dir ist gar nichts heilig, oder? Die Kirche nicht, die Heimat, die Ehre …«

      »Doch, doch. Wahnsinnig heilig. Ich glaube nur einfach nicht daran. Hier, nimm deinen Teller, das Essen wird kalt. Schmeckt fast ein bisschen wie Bigos, bloß das Fleisch fehlt.«

      Er schlang das Essen hinunter und sah aus dem Augenwinkel, dass der Junge es nicht anders machte. Wie die Schweine, dachte er. Wir fressen und stinken wie die Schweine. Er wünschte sich, das Mädchen würde noch einmal kommen und einen Nachschlag bringen, aber draußen blieb alles ruhig. Schließlich ging er auf den dunklen Hof, zog sich splitternackt aus, nahm den Lappen und wusch sich den Lagerdreck vom Körper. Es kam ihm vor, als hätte er jahrelang kein Stück Seife mehr in den Händen gehabt oder Schaum auf der Haut, hätte sich jahrelang nicht mehr mit einem Handtuch abgetrocknet. Danach schüttelte er seine Kleidung aus, aber es half nicht viel. Er konnte sich nicht überwinden, sich sofort wieder in die verdreckten Sachen hineinzuzwängen, warf sie stattdessen in die Ecke auf den Boden und legte sich schließlich nackt auf seine Decke.

      »Und du, Dreckspatz? Keine große Wäsche heute?«

      Aber der Junge schlief schon.

      7

      Georg Fahrner bewirtschaftete eine Fläche von rund sechs Hektar; ein Drittel davon war Wiese, auf den restlichen Äckern baute er hauptsächlich Kartoffeln, Zuckerrüben und Getreide an. Er besaß fünf Kühe, zwei Mastschweine, Hühner und Gänse, ein paar Kirsch- und Apfelbäume, einen Gemüsegarten. Sein Land lag im Talgrund, wo die Böden lehmig und so schwer waren, dass man sie nach dem Pflügen und Eggen kaum noch mit einem Gespann bearbeiten konnte; mähen, hacken, ernten, das alles geschah in Handarbeit, und seit die Söhne Karl und Joachim nicht mehr da waren, wusste Fahrner kaum noch, wie er die Arbeit schaffen sollte. Zumal auch seine Frau Marie nicht mehr zupacken konnte wie früher. Es tat ihm weh zu sehen, wie sie immer wieder grundlos in Tränen ausbrach oder minutenlang regungslos an einer Stelle verharrte, den Blick ins Weite gerichtet, die Ohren taub für alles, was er zu ihr sagte, mochte es eine freundliche Bitte sein oder auch ein barsches Kommando. Der tote Karl nahm in ihrem Leben deutlich mehr Raum ein, als es der lebende getan hatte, und es schien inzwischen wichtiger zu sein, Karls Kreuz im Garten mit Blumen zu schmücken, als zum Kartoffelnanhäufeln aufs Feld zu gehen. Dazu kam diese elende Briefeschreiberei, deren Nutzen ihm nicht einleuchten wollte. Und Eva hatte einfach noch nicht genug Übersicht und Erfahrung, um ihre Mutter zu ersetzen, und außerdem (der alte Fahrner kniff verbissen die Lippen zusammen, wenn er daran dachte) sollte das Mädel doch etwas mehr vom Leben haben, als von morgens bis abends in der Landwirtschaft zu schuften. Seine einzige Tochter! Immer hatte er davon geträumt, ihr ein besseres Leben zu ermöglichen, ein leichteres Leben. Deshalb hatte er auch den Weinberg, den er geerbt hatte, vor ein paar Jahren an einen Mitspieler aus dem evangelischen Posaunenchor verkauft und das Geld auf ein Sparbuch für Eva eingezahlt. Nicht einmal nach Karls Tod, als Marie ihm wochenlang damit in den Ohren gelegen hatte, dass sie sich schwarze Kleidung anschaffen müssten, war er an dieses bescheidene Kapital gegangen. Allerdings hatte er sich in letzter Zeit immer wieder bei dem Gedanken ertappt, mit dem Geld, wenigstens mit einem Teil des Geldes, einen Knecht einzustellen. Nur dass es keine Knechte mehr gab, da ja mittlerweile fast jeder junge Mann in Russland, Frankreich, Afrika oder wo auch immer für Führer, Volk und Vaterland kämpfte. Georg Fahrner nickte sich selbst ermutigend zu, als er in der Morgendämmerung über den Hof hinüber zum alten Weberschuppen stapfte. Die Polen waren seine Rettung – sie würden nur einen Bruchteil von dem verdienen, was ein deutscher Arbeiter verlangen konnte, durften weder kündigen noch den Hof verlassen und mussten sich seinen Anordnungen widerspruchslos fügen, wenn sie nicht Bekanntschaft mit einem Arbeitslager oder Schlimmerem machen wollten. Wenn sie sich nicht allzu dämlich anstellten oder krank wurden, konnte er in Zukunft wieder mit leichterem Herzen wirtschaften.

      »He, aufstehen!« Er klopfte kräftig und riss dann die Tür auf, die Tür, die Eva gestern Abend nicht abgeschlossen hatte. Für einen Moment konnte Fahrner im Dunkel vor seinen Augen nichts erkennen und stellte sich vor, die Männer hätten die Vertrauensseligkeit des Mädchens ausgenutzt und wären in der Nacht abgehauen – wie würde er dann vor Rössle dastehen, erst recht vor Maifeld, diesem verkniffenen Oberbauern? Garantiert würde man ihn verantwortlich dafür machen, und Gott weiß, welche Konsequenzen das hätte! Aber dann regte sich etwas vor ihm, und ein nackter Mann kam schlaftrunken auf ihn zu. Fahrner


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