P wie Pole. Ein Roman aus Schwaben. Elsbeth Schneider-Schöner
aufhören würde zu schniefen! Sie spürte das Feuer seiner Scham und Wut und den rasenden Schlag seines Herzens und wünschte sich, sie wäre allein zum Milchhäusle gegangen.
»Oh, Charlotte, wie schön, dass du kommst!« Die ganze Familie saß beim Abendessen und löffelte Brotsuppe, die ganze Familie inklusive der beiden Polen. Sie hockten nebeneinander am Ende der Bank und ließen ihren Teller keine Sekunde aus den Augen. Der Kleinere der beiden bekreuzigte sich hastig und verstohlen. Keinen Tag hatte es gedauert, nicht einmal einen Tag!, dachte Charlotte und stellte den schweren Korb ab. Was wohl Joachim davon halten würde, oder ihr Vater?
»Heil Hitler«, sagte sie leise. »Grüß Gott zusammen.«
»Wer mit uns schafft, soll auch mit uns essen.« Georg Fahrner schien ihre Gedanken gelesen zu haben. »Setz dich zu uns, Lotte! Für dich reicht’s auch noch, gehörst doch praktisch schon zur Familie.« Er lächelte sie freundlich an, ohne den Argwohn in seinen Augen zu verbergen.
Joachims Vater hatte nie einen Hehl daraus gemacht, dass die nationalsozialistische Sache in seinem Leben nur eine untergeordnete Rolle spielte. Seine Gesinnung endete am Tor zum Kuhstall, behauptete Joachim immer; seine Eltern seien viel zu kirchenhörig und provinziell, um die großdeutsche Mission zu verstehen. Unbehaglich quetschte Charlotte sich zwischen Marie Fahrner und Emil und ließ sich einen Teller Suppe geben. Alle sehen mich an, dachte sie. Alle sehen mich an und überlegen, ob ich es Joachim weitersage. Sie blies auf ihren Löffel. Irgendetwas roch merkwürdig, stellte sie fest, nach Stall und Kuh und Dreck. Oder waren es die Polen? Sie versuchte, unauffällig zu schnuppern, bis Hans neben ihr anfing zu kichern.
»Der Thomas da ist in die Miste gefallen«, prustete er los. »Der hat die Schubkarre das Brett hoch geschoben, da ist er über seinen Schuh gestolpert und klatsch! reingeplumpst! Voll rein! Wir haben ihn abgespritzt hinterher, aber er stinkt immer noch.« Begeistert widmete er sich wieder seiner Suppe.
»Ich bin noch nie in die Miste gefallen«, erklärte Emil ernst. »Man kann da drin untergehen wie im Sumpf.«
»Quatsch. Der Thomas ist auch nicht untergegangen.« Hans sah seinen Bruder herablassend an. »Du hast Angst vor der Miste! Ein richtiger Junge hat keine Angst!«
Emil sah aus, als würde er jeden Augenblick in Tränen ausbrechen, da streckte der ältere Pole seinen Fuß in die Luft.
»Kaputt«, sagte er. Der Schuh war in einem traurigen Zustand: Die Sohle hatte sich fast vollständig vom Schaft gelöst und hing herunter, so dass der nackte Fuß zu sehen war.
»Damit kannst du morgen nicht wieder Heu machen gehen«, stellte der alte Fahrner fest. »Wie soll ich mit Leuten arbeiten, die nicht mal ein Paar heile Schuhe haben!?«
»Ich habe Holzschuhe für die Polen mitgebracht.« Charlotte zeigte auf den großen Korb, den sie am Eingang abgestellt hatte. »Sie sind ins Rathaus geliefert worden, aus Tübingen … ein Paar Pantinen für jeden.«
»Holzschuhe, aha. Und sonst? Hosen, Jacken, Strümpfe?«
»Sonst nichts, tut mir leid. Vielleicht kommt ja noch was.« Sobald sie mit ihrer Suppe fertig war, stand sie vom Tisch auf, holte ein Paar Holzschuhe heraus und reichte sie an den Polen weiter. Der Mann streifte seinen kaputten Schuhe ab und zwängte seine Füße in die Holzpantinen.
»Klein«, sagte er, zog sie wieder aus und reichte sie an den Jungen weiter. Das zweite Paar war ein bisschen größer. Klonk, klonk machte es, als der Mann ein paar Schritte damit ausprobierte, klonk, klonk. Bei jedem Schritt rutschte er mit der Ferse aus dem Schuh; um die Pantinen nicht zu verlieren, musste er beim Gehen entweder die Füße voranschieben oder sie hochheben wie ein Storch. Schnelles Laufen war unmöglich.
»So ein Scheißdreck«, knurrte Georg. »Die taugen doch bloß für den Ofen! Wollen die so auch den Krieg gewinnen?«
Die Bäuerin sah ihn strafend an. »Eines Tages redest du dich noch um Kopf und Kragen«, flüsterte sie. »Und fluchen sollst du auch nicht. Der Pfarrer hat gesagt – «
»Ich will nicht hören, was der Pfarrer gesagt hat, verstanden? Der Pfarrer hat doch keine Ahnung, wie es ist, einen Hof zu versorgen!«
Eva sah unbehaglich zwischen ihren Eltern hin und her. Sie hasste es, wenn es zwischen den beiden Unstimmigkeiten gab. »Auf jeden Fall sind die Dinger robust«, sagte sie forsch. »Vielleicht muss man sich erst daran gewöhnen, und in ein paar Tagen – «
»In ein paar Tagen? Das Heu muss aber diese Woche rein, so viel Zeit haben wir nicht!« Georg kniff die Augen zusammen und musterte die beiden Fremdarbeiter abschätzend. »Da sind doch noch die Sachen vom Karl! Da muss für die beiden doch was dabei sein!« Die Bäuerin war blass geworden und fingerte nervös an ihrem Kittel herum.
»Aber Georg! Die Sachen vom Karl … wir können die Sachen vom Karl doch nicht an diese Leute geben! Diese Polen, die zu denen gehören, die – « Sie brach ab; Tränen liefen ihre faltigen Wangen hinunter und tropften in ihren Teller. »Georg, bitte …« Ihr Mann streichelte beruhigend ihre Hand.
»Warum sollten denn diese Leute dabei gewesen sein, Mutter, überleg doch mal! Die letzte Nachricht vom Karl kam doch aus Russland, das ist Hunderte von Kilometern weiter im Osten. Und wir müssen doch das Heu reinholen und später den Weizen und die Kartoffeln, da können die beiden doch nicht nackt arbeiten, das geht doch nicht …«
Gott sei Dank hat er den richtigen Tonfall getroffen, dachte Charlotte. Ein falsches Wort, und Marie Fahrner fiel in einen Zustand von Jammern und Wehklagen, in dem sie nur noch heulend auf ihrem Stuhl vor und zurück schaukelte und zu keiner vernünftigen Handlung mehr fähig war.
»… wollen wir nicht einfach mal in seinem Schrank nachschauen? Eva kann das bestimmt machen, du musst gar nicht dabei sein. Und ich bin sicher, der Karl wäre einverstanden damit, dass mit seinen Kleidern noch etwas gemacht wird, was uns allen weiterhilft. So wie er an dem Hof gehangen hat!« Georg Fahrner hatte seine Frau inzwischen in seine Arme gezogen, klopfte ihr sacht auf den Rücken und signalisierte mit einem Kopfnicken den anderen zu verschwinden.
»Gut Nacht«, sagten die Polen, standen auf und gingen. Eva und Charlotte stellten das schmutzige Geschirr zusammen und trugen es in die Küche, scheuchten die Zwillinge auf den Hof und stiegen dann hoch zu der kleinen Kammer im Zwerchgiebel, in der Karl zusammen mit Joachim gewohnt hatte.
Charlotte, die einen staubigen, muffigen Raum erwartet hatte, war überrascht, als sie die Tür öffnete. Alles in diesem Zimmer schien makellos, als wäre es erst heute Morgen geputzt worden, und wahrscheinlich war es ja tatsächlich so: Wahrscheinlich schlich sich Marie Fahrner jeden Morgen hier hoch, wischte den Staub von dem verwaisten Bettgestell, dem Stuhl, dem Waschtisch und träumte davon, ihren Ältesten auf diese Weise zurück ins Leben zu holen.
»Macht sie jeden Tag hier sauber?«, fragte sie.
Eva zuckte mit den Schultern. »Ich frag nicht danach. Wenn es ihr guttut, soll sie machen, was sie will. Komm, wir schauen mal, was noch in dem Schrank drin ist.«
Viel war es nicht: eine Alltagshose, eine Sonntagshose, eine Arbeitsjacke, eine Sonntagsjacke. Zwei Baumwollhemden. Ein Wintermantel. Wäsche, Strümpfe, Handschuhe, Schal, eine Mütze, die Eva in der Schule gestrickt hatte. Ein paar Halbschuhe, ein Paar Stiefel. Karl hatte seine Uniform angehabt, als er von zu Hause aus zum Sterben aufgebrochen war. Eva nahm die Sachen heraus, schüttelte sie, breitete sie über das bezogene Bett.
»Was denkst du? Für den Thomas müsste es doch gehen. Er kann die Stiefel nehmen, und die Halbschuhe können wir mit Stroh ein bisschen auspolstern.«
»Thomas ist der Größere, oder? Der ein bisschen Deutsch spricht?«
Eva nickte und schob ihre Finger unter eine fadenscheinige Stelle an einem Ärmel, die dringend ausgebessert werden musste. »Genau. Der andere heißt Jan.«
»Diesen Thomas mag ich nicht. Der hat irgendwie etwas Verschlagenes. Keine drei Meter weit würde ich dem trauen. Vielleicht ist er ja ein Spitzel.«
Eva lachte. »So ein Quatsch, Lotte! Du hast wohl zu Hause zu viel im ›Stürmer‹ gelesen! Was sollte der hier denn ausspionieren!?