Eine Geschichte des Krieges. Группа авторов

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und politisches Phänomen; er ist auch ein gesellschaftlicher Tatbestand, der von der Natur, den Sitten, dem Zeitgeist, dem technischen Fortschritt, der Bündnissituation, kurz vom Zustand der gesellschaftlichen Kräfte abhängt.

      In Bezug auf diesen letzten Punkt verdient die von John Keegan vorgetragene scharfe Kritik an Clausewitz eine neuerliche Betrachtung. Der britische Historiker wirft in seinem Buch Die Kultur des Krieges dem preußischen Strategen vor, den Krieg auf seine politische Dimension reduziert zu haben. Für Keegan und die Anhänger*innen der Kulturgeschichte ist der Krieg jedoch in erster Linie ein kulturelles Faktum, das die Gesellschaft schon vor allen politischen Beschlüssen prägt. Allerdings legt Clausewitz, wie wir gerade gesehen haben, nicht eine, sondern drei Definitionen des Krieges vor, die sich überschneiden und ergänzen: Die militärische Definition richtet das Augenmerk auf die Sphäre des Kampfes; die politische Definition bezieht den Krieg auf die Belange der Macht; die »gesellschaftliche« oder anthropologische Definition schließlich legt den Schwerpunkt auf die Situiertheit jedes Krieges und unterstreicht, dass es eine Vielfalt an Praktiken und »Kriegskulturen« gibt. Diese Definitionen korrespondieren mit der »wunderlichen Dreifaltigkeit«4 des Krieges, wie Clausewitz es nennt, in der drei verschiedene Ebenen in der Analyse zusammenkommen: Das Militärische stößt eine taktische und strategische Dynamik an; das Politische beschließt die Mobilisierung der Streitkräfte; das »Volk« bestimmt die sozialen, ökonomischen und kulturellen Formen der Auseinandersetzung.

      Clausewitz’ Perspektive ist in dem spezifischen Kontext der Revolution und des französischen Kaiserreichs (1792–1815) zu sehen, in dem das Volk eine wichtige, wenn nicht zentrale Stellung einnahm. In der Auseinandersetzung standen sich nicht mehr nur die »Könige« und die »Armeen« auf politischer und militärischer Ebene gegenüber; »sondern ein Volk [bekriegt] das andere und im Volke sind König und Heer enthalten«5. In der Französischen Revolution bildete mit der von den Republikanern beschlossenen Massenaushebung das Volk die Triebfeder der nationalen Mobilisierung, die es den Revolutionstruppen ermöglichte, von 1792 an den europäischen Monarchien die Stirn zu bieten. Doch es konnte auch der Motor des Aufstands gegen den Staat sein: Bei der spanischen »Guerilla« (1808–1814) mobilisierten sich die Bürger gegen die napoleonischen Truppen.

      In Europa ist es somit die Beteiligung des Volks, worin sich die Kriege des Ancien Régime mit der Militäraristokratie als strukturierendem Zentrum von den nach der Französischen Revolution geführten Kriegen unterschieden, die die nationalen Leidenschaften schürten und in denen die gesellschaftlichen Kräfte das Herz der Armee bildeten. Alle Gesellschaftsschichten waren von nun an aufgerufen, sich, von gemeinsamem nationalem Elan getragen, direkt oder indirekt an der Kriegsanstrengung zu beteiligen. Die Aristokratenehre verschwand nicht hinter dem patriotischen Gefühl; vielmehr gab das Volk der vom aristokratischen Ancien Régime ererbten Ehre durch das patriotische Gefühl eine andere Färbung.

      Clausewitz erklärt vermittels dieses besonderen Falls, dass der Krieg im Rahmen der Völker durch Anwendung bewaffneter Gewalt zu politischen Zwecken charakterisiert ist. Sein Denken lässt sich dabei nicht auf ein Sakrosanktwerden des Staates und den Primat des Politischen reduzieren. Denn zugleich betont er die intrinsisch politische Natur des Krieges, durch die sich politische Gemeinschaften und »Willen« gegeneinanderstellen, sowie die Vielfalt der sozialen und kulturellen Formen, seien sie zwischenstaatlich oder bürgerkriegsartig, groß oder klein, defensiv oder offensiv.

       Rollenaufteilung zwischen »großem« und »kleinem Krieg«

      Der »große Krieg«, bei dem reguläre Truppen aufeinanderprallen, steht im Zentrum von Clausewitz’ Abhandlung. Doch der preußische Stratege hat auch »Vorlesungen über den kleinen Krieg« gehalten, der Gegenstand eines anderen Abschnitts seines Werkes hätte werden müssen, wenn er nicht vorzeitig am 16. November 1831 in Breslau der Cholera erlegen wäre.

      Der von »Partisanen« geführte »kleine Krieg« oder auch »Parteigängerkrieg«, ab dem 18. Jahrhundert theoretisch diskutiert, bildete anfangs eine komplementäre Taktik zum »großen Krieg«: Er bezeichnet militärische Operationen leichter Kavallerie- oder Infanterietrupps, die von der regulären Armee abgetrennt und in kleinen Einheiten organisiert werden, um Aufklärungseinsätze, Überraschungsangriffe, Hinterhalte unterstützend oder in Vorbereitung »großer« Schlachten durchzuführen, in denen reguläre Truppen gegeneinander antreten. Nach dem Vorbild der Peltasten der griechischen Antike, die in wechselvollem oder unwegsamem Gelände operierten, wo die Hopliten nur geringe Wirksamkeit entfalteten, agieren die »Partisanen« parallel zu den Soldaten der regulären Armee.

      Begünstigt durch die Dynamiken, die sich im 19. Jahrhundert in Aufständen entwickelten, entkoppelte sich der kleine vom großen Krieg und wurde zu einer ganz eigenständigen, das Volk involvierenden Form der Auseinandersetzung. Dass wir von »Guerilla«, »Aufstand« oder »irregulärem Krieg« sprechen, liegt daran, dass sich diese Konfliktform im Schatten der »konventionellen« Auseinandersetzungen etabliert hat. Da sie auf psychologischem Vorgehen, Störung und Zermürbung basiert, findet sie meist Anwendung auf der »schwachen« Seite und kompensiert das Fehlen oder die Unterlegenheit der konventionellen Streitkräfte in diesem Bereich. Die zugleich militärische und politische Asymmetrie zwischen einer »starken« und einer »schwachen« Seite ist aus dieser Perspektive eine entscheidende Gegebenheit der zeitgenössischen Konflikte. Der Schwache versucht, seinen Gegner zu destabilisieren, da er ihn militärisch nicht besiegen kann, während der Starke bestrebt ist, sich an die Art von Krieg anzupassen, die ihm der Schwache aufzwingt, sei es, dass dieser einen »Aufstand« im Inneren betreibt oder ein äußerer »Feind« ist oder beides zugleich. Das führt zur Entwicklung von Methoden der »Aufstandsbekämpfung«, zum Beispiel bei dem Kalabrien-Feldzug der napoleonischen Truppen von 1806–1807, die ein regelrechtes Laboratorium für die zeitgenössischen Formen des Krieges darstellten.

      Die kleinen Kriege florierten im 19. Jahrhundert im Fahrwasser der Napoleonischen Kriege, aber auch der Kolonialeroberungen: Die Auseinandersetzung zwischen den Briten und den Maoris zwischen 1845 und 1872 (auf Englisch New Zealand Land Wars oder Maori Wars) veranschaulicht das gut. Wenn die Briten diesen Konflikt auch für sich entschieden, so fügten ihnen die Maoris doch mehrere bittere Niederlagen zu, die mit deren Kenntnis des Terrains und dem Einsatz des kleinen Krieges zusammenhingen.

      Ein gutes Zeugnis dieser kolonialen Formen des Krieges liefert der britische Offizier Charles E. Callwell in Small Wars. Their Principles and Practice, das in erster Auflage 1896 erschien. Der Autor erarbeitete anhand von Beispielen aus den britischen, französischen und russischen Kolonialkriegen ein Anti-Guerilla-Kompendium, das konkreten Nutzen für den »imperialen Soldaten« haben sollte, der sich Angriffen durch lokale Truppen ausgesetzt sah, die ihre materielle und technologische Unterlegenheit mit genauer Kenntnis des Terrains und mit List kompensierten. Für Callwell umfasst der Begriff »kleiner Krieg« daher »alle Kampagnen, bei denen sich nicht von beiden Seiten reguläre Truppen gegenüberstehen«6.

      Die Komplementarität zwischen großem und kleinem Krieg bleibt so erhalten, doch tatsächlich kommt es zu einer Rollenteilung: Der noble, reguläre und normierte große Krieg blieb allein den innerwestlichen Auseinandersetzungen vorbehalten, während der kleine Krieg oft das Los der Kolonialeroberungen war, die in Gegenden außerhalb des Westens gegen »wilde«, »unzivilisierte« Feinde stattfanden. Die Techniken zur Aufstandsbekämpfung entzogen sich also dem Modell und damit den Normen des zwischenstaatlichen Krieges. Dadurch eigneten sich die Kolonialmächte durch Anpassung an den strategischen Kontext im Moment der Eroberung und erneut bei der Dekolonisation, als sie im Laufe des 20. Jahrhunderts ihre Kolonialreiche aufgeben mussten, das »rustikale« Wissen ihrer Feinde an. Die Strategie des kleinen Krieges der Kolonialisierten bestand darin, einerseits aufständische Aktionen durchzuführen und andererseits die Weltöffentlichkeit zur Zeugin anzurufen, wobei sie von der diplomatischen Arena profitierten, die die junge UNO zur Verteidigung ihres Anliegens der Unabhängigkeit und »nationalen Befreiung« bot.

      Im 20. Jahrhundert kam es zu zahlreichen kleinen Kriegen im Kontext revolutionärer und antikolonialer Kämpfe, die mit Figuren wie Lenin, Trotzki, Mao und später Giáp und Ernesto »Che« Guevara verbunden sind. Ihre aufmerksame


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