Das Wunder von Errikousa. Yvette Manessis Corporon

Das Wunder von Errikousa - Yvette Manessis Corporon


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eine Schwester.« Jetzt wanderte Yiayias Blick aus dem Fenster. »Sie war Jüdin.«

      »Jüdin?«, fragte meine Mutter.

      Yiayia hatte jetzt meine Aufmerksamkeit, wenigstens für einen Moment. In der überwiegend jüdischen Stadt New Rochelle im Bundesstaat New York, in der wir wohnten, war ich eines von nur zwei griechischen Mädchen an der ganzen Schule. Fast alle meine Freundinnen waren Jüdinnen. Jede Woche gingen sie alle zusammen zum Hebräisch-Unterricht und ich saß einsam und allein im Griechisch-Unterricht und wünschte, ich könnte bei ihnen sein. Ich wollte auch Jüdin sein.

      »Ja, Nini war Jüdin«, sprach Yiayia weiter, während sie mit den Händen das Mehl von ihrem Kleid wischte. »Ihr Vater, Savvas, war Schneider. Er hat alle seine Töchter Nähen gelehrt. Und sie haben es mir beigebracht. Sie waren meine Freundinnen«, wiederholte sie.

      »Wow«, sagte meine Mutter und warf ihre blondierte Dauerwelle zurück. Das war schließlich Anfang der 80er-Jahre. Meine Mutter war seit fünfzehn Jahren mit meinem Vater verheiratet und ihr Leben war eng mit dem Leben seiner Familie verknüpft. Trotzdem hatte sie nie von Nini oder Savvas oder der jüdischen Familie gehört, die sich auf Errikousa versteckt hatte. »Ich wusste nicht, dass es auf Korfu Juden gab. Oder in Errikousa.«

      »Oh, ja«, erwiderte Yiayia, fuchtelte erneut zur Betonung mit der Hand durch die Luft und nickte eifrig. »Auf Korfu gab es viele Juden.« Sie schwieg einen Moment. Ihr Blick wanderte wieder aus dem Fenster. Sie schaute an uns vorbei, an den Bäumen vorbei, in die Ferne, wo das Lachen meiner Freundinnen immer noch schwach zu hören war.

      Schließlich sprach sie weiter. »Aber das war vor dem Krieg.«

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      DIE JUDEN VON KORFU

      Verfolgt, verraten, gerettet

      Die Juden lebten seit 800 Jahren auf Korfu und waren genauso griechisch wie meine eigene Familie, aber natürlich sahen die Nazis das anders. Die Nazis sahen, dass auf der malerischen Ionischen Insel noch 2000 Juden lebten und dass die Alliierten näher rückten. Ihnen blieb nicht mehr viel Zeit.

      Die Insel Korfu, die auf Griechisch Kerkyra heißt, ist wie eine lange, schmale Sichel geformt und liegt zwischen Italien und Albanien an Griechenlands Nordwestspitze im Ionischen Meer. Im Gegensatz zu anderen griechischen Inseln, deren trockene Erde und weiß getünchte kykladische Architektur eine kontrastreiche, aber faszinierende Kulisse bilden, wachsen auf Korfu Blumen und Obstbäume. Farbenprächtige Blumen bestimmen das Landschaftsbild. Olivenwälder überziehen die Insel und majestätische Zypressen stehen auf zerklüfteten Meeresklippen über dem unvorstellbar blauen Wasser Wache.

      Durch die ganzen Jahrhunderte hindurch haben sich sterbliche Menschen und Helden der Mythologie in diese unbeschreiblich schöne Insel verliebt. Korfu galt allgemein als die Heimat der Phaiaken in Homers Odyssee, wo Odysseus ans Ufer gespült wird und ihn das Lachen von Prinzessin Nausikaa und ihren Freundinnen weckt.

      Trotz ihrer friedlichen natürlichen Schönheit ist Korfus Geschichte alles andere als friedlich. Die Insel, die 1864 von Griechenland annektiert wurde, litt jahrhundertelang unter verschiedenen Fremdmächten, die die Insel für sich beanspruchten. Jedes Regime brachte den Bewohnern von Korfu neue Probleme. Jede Besatzungsmacht, von den Venezianern über die Franzosen bis zu den Briten, hinterließ ihre eigenen, unverwechselbaren Spuren. Davon zeugt ein reiches, vielfältiges Vermächtnis an Architektur, Kultur und Kunst.

      Als Nazitruppen 1943 Korfu eroberten, hinterließen sie ein Vermächtnis aus Vernichtung, Verwüstung und Tod.

      Auf dem Land und in den Dörfern überwiegen auf Korfu die intensiven Grün- und Blautöne der Pflanzen und des Meeres, aber im Zentrum von Korfu-Stadt scheint die ganze Stadt in einem goldenen, rostroten Licht zu strahlen. Korfus enge, verwinkelte Kopfsteinpflasterstraßen, Gassen und Höfe sind von einem bunt gemischten Sammelsurium aus Häusern, Geschäften und Kirchen gesäumt. Zahlreiche Glockentürme überragen die Ziegeldächer. Die roten, beigebraunen und rotbraunen Stuckfassaden sind durch die jahrelangen Witterungseinflüsse ausgebleicht und der Putz blättert ab. Das Licht auf Korfu fängt jede dieser Unvollkommenheiten ein und verwandelt sie in etwas Lyrisches und Schönes.

      Hinter den breiten Kopfsteinpflasterstraßen und Torbögen auf Korfus großer Liston-Promenade mit langen Reihen von Toren, die an die Rue de Rivoli in Paris erinnern, und hinter dem großen Platz Spianada mit Blick über die Garitsa-Bucht befindet sich ein Labyrinth aus engen, verwinkelten Gassen. Dieses Labyrinth aus winzigen Straßen, Höfen und Gebäuden ist auch heute noch als Evraiki bekannt, das jüdische Viertel beziehungsweise Getto. Hier, in diesem unscheinbaren, verwinkelten Teil der Stadt, lebte und arbeitete jahrhundertelang Korfus jüdische Bevölkerung. Die Männer waren hauptsächlich Handwerker, Künstler und Ladenbesitzer, die mit dem Verkauf ihrer Waren den Lebensunterhalt ihrer Familien bestritten, während sich ihre Frauen um die Kinder kümmerten und jüdische Traditionen pflegten.

      Als die Italiener im April 1941 Korfu eroberten, ging das Leben im jüdischen Viertel wie auch auf der übrigen Insel anfangs fast normal weiter. Als die Bedrohung durch die Wehrmacht immer näher rückte, warnten italienische Soldaten die Juden vor der bevorstehenden Gefahr. Aber die Juden auf Korfu konnten sich nicht vorstellen, dass die Geschichten von Massentötungen und Gräueltaten wahr sein konnten. Dieses gottesfürchtige Volk konnte nicht glauben, dass das Böse tatsächlich solche Formen annehmen konnte. Trotz aller Warnungen blieben die meisten Juden auf Korfu in ihrem Wohnviertel und in ihren Häusern, als die Deutschen anrückten. Diese Entscheidung sollte verheerende Folgen haben.

      Als die Nazis die Insel besetzten, verhängten sie sofort strenge Ausgangssperren, und alle Juden wurden gezwungen, sich regelmäßig bei der deutschen Besatzungsmacht zu melden. Von April bis Juni mussten sie sich zweimal in der Woche zählen lassen. Nach dem Zwangszensus kehrten sie in ihr Leben im Getto zurück, wo sie unter sich blieben, ihren Glauben praktizierten und sich von den deutschen Truppen fernhielten.

      Doch im Juni 1944 änderte sich alles.

      Am Morgen tauchten die ersten Plakate auf, und bis zum Abend waren sie auf der ganzen Insel verteilt.

      ALLE JUDEN HABEN AM MORGEN DES 9. JUNI AUF DER UNTEREN PLATIA ZU ERSCHEINEN.

      Während an diesem warmen Freitagmorgen die Sonne über dem kobaltblauen Wasser der Garitsa-Bucht aufging, begannen sie, sich auf dem Platz zu versammeln. Männer, Frauen, Kinder, Säuglinge, Alte, Kranke, alle begaben sich aus dem jüdischen Viertel zur unteren Platia, dem weiten, offenen Platz zwischen den Cafés und der alten Festung. Wer nicht freiwillig antrat, wurde mit Waffengewalt aus seinem Geschäft oder seiner Wohnung gezerrt. Wer sich weigerte oder auch nur zögerte, wurde gnadenlos erschossen.

      Die Nazis trieben alle Juden zusammen, die sie finden konnten, und machten auch vor Gefängnissen, Psychiatrien und Krankenhäusern nicht halt. Selbst schwangere Frauen, die kurz vor der Entbindung standen, wurden auf den Platz geschleppt. Während Bomben der Alliierten auf die Insel niedergingen, stand die jüdische Gemeinde von Korfu den ganzen Tag ohne Wasser oder etwas zu essen in der heißen Sonne und wurde von deutschen Truppen und griechischen Polizisten mit angelegten Waffen bewacht. Die meisten hatten keine Ahnung, was hier passierte, und versicherten ihren Kindern, dass sie am Abend wieder zu Hause sein würden. Aber die Nazis hatten andere Pläne. Die Warnungen der italienischen Soldaten, die man für albtraumartige Übertreibungen gehalten hatte, erwiesen sich bald als prophetisch und auf tragische Weise wahr.

      Langsam wurde den Menschen der Ernst der Situation bewusst, als die Grausamkeit und die Motive der Nazisoldaten mit jeder Minute deutlicher wurden.

      Das griechische Rote Kreuz verteilte Brot und Wasser, aber die meisten Griechen hielten sich fern. Selbst diejenigen, die ihren jüdischen Freunden helfen wollten, erkannten schnell, dass sie nur wenig oder überhaupt nichts tun konnten. Die Nazis machten keinen Unterschied, ob man selbst Jude war oder ob man einem Juden half. Juden in irgendeiner Weise zu helfen, war ein genauso schwerwiegender Verstoß, wie jüdisches Blut


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