Das Wunder von Errikousa. Yvette Manessis Corporon
fälschlicherweise Mitgliedern der jüdischen Gemeinde angelastet wurde. Auf der Insel wurde das Gerücht verbreitet, dass ihr Blut bei einem rituellen Passahopfer vergossen worden sei, da christliches Blut angeblich eine geweihte und makabre Zutat für ungesäuertes Matzenbrot sei. Eine Untersuchung stellte fest, dass diese Geschichte und die Gerüchte von einem rituellen Opfer völlig aus der Luft gegriffen waren und dass das ermordete Mädchen in Wirklichkeit eine Jüdin und keine Christin gewesen war. Aber die Wahrheit kam zu spät ans Licht, und der Schaden ließ sich nicht mehr gutmachen. Obwohl Jahrzehnte vergingen, konnten das Misstrauen und der Verdacht nie ganz ausgelöscht werden. Durch die deutsche Besatzung hatten die Griechen, die ihren Hass auf Juden vorher nur flüsternd verbreitet hatten, endlich eine Plattform und ein Ventil, um ihren Hass auszuleben.
Und dann gab es Menschen, die ihre jüdischen Nachbarn aus keinem anderen Motiv als aus purer Habgier auslieferten. Eine Geschichte wird in den Straßencafés und an den Küchentischen auf Korfu seit Langem flüsternd weitererzählt. Es ist die Geschichte von zwei Freunden. Einer war Jude und einer war Christ. In einem verzweifelten letzten Versuch, seine Tochter zu retten, schmuggelte ein Jude sie zu einem christlichen Bekannten. Der Jude flehte ihn an, seine Tochter zu retten, und gab ihm das ganze Geld, das er hatte, damit seine Tochter gerettet und gut versorgt würde. Er flehte den griechischen Christen an, seine Tochter bei sich aufzunehmen, sie als sein Kind auszugeben und als Dank für die Rettung seines Kindes das Geld zu nehmen. Der Christ nahm das Kind und das Geld – und lieferte das Kind prompt den Nazis aus. Das Geld behielt er für sich. Damit besiegelte er sein eigenes Schicksal und das Schicksal seiner Familie. Denn auch wenn der Anstand und die Moral sich von Habgier blenden ließen, war das Schicksal nicht blind. Seit diesem Tag wurde die Familie dieses Mannes vom Unglück verfolgt. Seine eigenen Kinder starben sehr jung.
Die Geschichtsbücher sind voll von solchen tragischen, düsteren Geschichten aus dem Holocaust, aber es gibt auch wenig bekannte Geschichten von Aufopferung und Rettung. Schätzungsweise konnten 200 korfiotische Juden der Deportation und dem Tod entkommen. Die meisten verdanken ihre Rettung griechischen Christen. Trotz der Gefahren, trotz der Todesdrohung durch die Nazis setzten diese Christen alles aufs Spiel, um sich moralisch richtig zu verhalten. Sie riskierten ihr eigenes Leben und das Leben ihrer Familien, um ihre jüdischen Freunde zu retten.
Meine Yiayia Avgerini war eine von ihnen.
GEFAHR FÜR ERRIKOUSA
Errikousa
September 1943
Obwohl sie Christen und von den Gräueltaten im jüdischen Getto kilometerweit entfernt waren, wussten die Bewohner der Insel Errikousa, dass sie gegen die Drohungen der Nazis nicht immun waren. Es war für Yiayia zwar ein Trost, dass ihre Verwandten auf Errikousa sie unterstützten, seit ihr Mann in Amerika war. Aber sie wusste auch, dass sie alles tun musste, um sich und ihre Kinder zu schützen.
»Wer ist gestorben, Mama?«, fragte die Schwester meines Vaters, Agatha. Sie saß auf dem Bett und schaute zu, wie ihre Mutter, meine Yiayia, nicht ihren typischen grauen Rock und ihre graue Bluse anzog, sondern sich von Kopf bis Fuß schwarz kleidete. Trauerkleidung.
Yiayia strich ihren wollenen, schwarzen Faltenrock glatt, knöpfte ihre schlichte, schwarze Bluse zu und knotete das schwarze Kopftuch, das ihre glatten Haare und den Mittelscheitel verdeckte, unter ihrem Kinn.
»Wer ist gestorben?«, fragte auch mein Vater, Anastasios, der allmählich ungeduldig wurde.
Sie wollten sich endlich auf den Weg zur Schule machen. Ihnen ging es nicht so sehr darum, pünktlich zum Unterricht zu kommen; aber der Lehrer hatte die Angewohnheit, Kinder, die zu spät kamen, zu ohrfeigen. Auf Errikousa wurden Kinder in jenen Jahren oft geschlagen – von Eltern, Lehrern, Verwandten, sogar von Fremden. Ein Kind bekam eine Ohrfeige oder ihm wurden die Ohren lang gezogen, wenn es vorlaut oder ungehorsam war – und manchmal war dazu auch überhaupt kein Grund nötig. Die Ohrfeigen waren genauso Teil der Kultur wie die Sitte, die Nachbarn mit »Yiasou« zu grüßen oder sich zu bekreuzigen, wenn man an einer Kirche vorbeiging.
Ihre Mutter interessierte es nicht, dass sie womöglich zu spät zur Schule kamen. Sie bestand darauf, dass die Kinder ruhig sitzen blieben. Sie hatte ihnen etwas zu sagen.
»Ihr seid jetzt Waisen.«
»Nein, das sind wir nicht«, widersprach Agatha.
»Was redest du da? Wir sind keine Waisen«, warf mein Vater ein.
Sie waren ganz sicherlich keine Waisen. Ihre Mutter stand vor ihnen und ihr Vater, mein Papou, war in Amerika. Sie hatten ihn seit Jahren nicht mehr gesehen, aber er war quicklebendig. Papou hatte Errikousa verlassen, bevor die Italiener und dann die Nazis gekommen waren. Er wollte arbeiten und genug Geld sparen, damit er die Familie zu sich nach Amerika holen konnte. Aber dann war der Krieg ausgebrochen und hatte es ihm unmöglich gemacht zurückzukommen. Er schickte ihnen Briefe. In den Umschlägen mit dem Stempel »Aus den USA« steckten Dollarnoten, die zwischen handgeschriebenen Seiten versteckt waren. Allerdings trafen diese Briefe inzwischen immer seltener ein. Dabei wurden sie jetzt dringender gebraucht als je zuvor. Aber alle paar Wochen kam solch ein Brief mit Geld, und das bewies, dass Papou lebte und dass es ihm in Amerika gut ging, während Yiayia auf das Ende des Kriegs wartete und alles tat, um auf Errikousa zu überleben.
»Doch«, beharrte Yiayia. Sie packte beide Kinder am Arm und schüttelte sie, um ihre ganze Aufmerksamkeit zu haben. »Doch, ihr seid Waisen. Wenn die deutschen Soldaten fragen, wo euer Vater ist, sagt ihr, dass er tot ist. Ihr dürft ihnen nie verraten, dass er in Amerika ist. Versteht ihr? Niemals!« Mit den Einzelheiten des Krieges, der Politik und den Gründen, warum sich die Alliierten gegen die Deutschen zusammengeschlossen hatten, kannte sich Yiayia nicht genau aus. Aber sie hatte genug verstanden, um zu wissen, dass die Deutschen die Amerikaner hassten. Sie wusste, wenn die Nazis erfahren sollten, dass ihr Mann in den Vereinigten Staaten lebte, würde ihre Familie wahrscheinlich wie die Familie eines Amerikaners behandelt werden. Das konnte sie nicht riskieren.
Agatha war erst sieben und mein Vater war neun, aber auch sie begriffen es, noch bevor sie es laut aussprach: »Sie werden uns alle töten, wenn sie hören, dass euer Vater in Amerika ist.«
»Ja, Mama.« Agatha und mein Vater nickten beide. Aber mit einem einfachen Versprechen gab sich Yiayia nicht zufrieden.
»Schwört es!«, verlangte sie und nahm die Ikone von Korfus geliebtem Schutzpatron, dem heiligen Spyridon, von ihrem Platz an der Wand. »Schwört es beim heiligen Spyridon.« Sie hielt den Kindern die Ikone hin.
Die beiden waren klug genug, sich nicht mit Yiayia oder dem Heiligen anzulegen. Vor beiden hatten sie eine gehörige Portion Respekt und Angst. Agatha und mein Vater legten jeweils den Daumen, Zeige- und Mittelfinger ihrer rechten Hand zusammen und machten dreimal das Kreuzzeichen, bevor sie die Ikone küssten.
Jetzt war Yiayia zufrieden. Sie öffnete die Tür und schickte die beiden Kinder zur Schule. Mein Vater und Agatha rannten den ganzen Weg – einen Feldweg mit Blick aufs Meer – den Hügel hinab zum Schulhaus. Die Schule stand im Schatten des alten Friedhofs neben der Kirche und bestand nur aus einem einzigen Raum.
Yiayia trat in die Morgensonne hinaus, wo ihre Schwägerin, Agathe, auf der Terrasse wartete. Agathe wohnte mit Papous Bruder, Costa, und ihren fünf Kindern in dem schlichten Haus nebenan. Zwischen den beiden Häusern gab es keine Grundstücksgrenze und zwischen den zwei Familien gab es auch keine Grenze. Bevor Papou weggegangen war, hatte er seine Familie seinem Bruder anvertraut. Diese verantwortungsvolle Rolle hatte Costa mit Stolz übernommen und füllte sie gewissenhaft aus. Die Kinder waren mehr wie Geschwister als wie Cousins und Cousinen, und die Schwägerinnen waren wie Schwestern. Die Frauen standen sich sogar näher als Schwestern, da ihre Lebensumstände sie noch enger miteinander verbanden als Familien- oder Blutsbande. Was ihnen an materiellen Gütern fehlte, machten die zwei Familien durch Liebe wett. Agathe, eine zierliche Frau, die schnell zu einem Lächeln bereit war oder auch zu einer Ohrfeige, wenn die Kinder