Das Wunder von Errikousa. Yvette Manessis Corporon

Das Wunder von Errikousa - Yvette Manessis Corporon


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Essen, Arbeit, Dinge des täglichen Lebens und Sorgen.

      An diesem Morgen gönnten sich die Schwägerinnen einen seltenen Luxus: Die zwei Frauen saßen zusammen auf der Terrasse, während die frisch aufgehängte Wäsche über ihnen im Wind flatterte und die Hühner im Stall hinter der Terrasse nach Körnern pickten und gackerten.

      Sie waren alles andere als reich, und ihre Häuser waren in jeder Hinsicht bäuerlich und schlicht. Aber diese Aussicht! Ihre Aussicht war Tausende, wenn nicht sogar mehrere Millionen Drachmen wert. Von der unebenen Terrasse aus konnten sie über die alten, knorrigen Olivenbäume blicken. Selbst von so weit oben konnten sie jede einzelne große, gelbe Zitrone an den Zitronenbäumen am Fuß des Hügels sehen. Diese Zitronen waren so groß, dass man sie für Pampelmusen hätte halten können, wenn ihre sonnengelbe Farbe nicht gewesen wäre. Unten am Hang, hinter den Bäumen und den wenigen primitiven Steingebäuden und getünchten Häusern, konnten die Frauen bis zum Strand und zum winzigen Hafen blicken. Der Hafen war mit Ausnahme von einigen kleinen, verwitterten Fischerbooten, die auf dem Meer schaukelten, leer.

      Aber Yiayia und Agathe hatten die Neuigkeit gehört. Und sie wussten, was auf sie zukam. Sie wussten, dass die Italiener kapituliert hatten und dass früher oder später deutsche Schiffe im Hafen anlegen würden. Niemand wusste, was das genau bedeuten würde, nur, dass alles schlimmer werden würde.

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      Sie war arm, kaum gebildet, aus der Provinz. Wie so viele Griechinnen ihrer Generation war meine Yiayia Avgerini dazu geboren zu dienen – zuerst ihren Eltern und ihrer Kirche und dann ihrem Mann, ihren Kindern und ihren Enkeln. Nichts wies darauf hin, dass Yiayia oder ihr Leben je aus dem üblichen Rahmen gefallen wäre. Es dauerte fast 70 Jahre, bis wir begriffen, wie außergewöhnlich sie gewesen war.

      Yiayia wohnte auf der winzigen, abgelegenen Insel Errikousa, nur zehn Kilometer, aber trotzdem Welten entfernt von der vergleichsweise kosmopolitischen Insel Korfu. Errikousa liegt an der Nordwestspitze Griechenlands, nur wenige Kilometer von der albanischen Küste entfernt, deren sandige Strände man von den dichten, grünen Hügeln der Insel aus mit bloßem Auge sehen konnte.

      In den 1940er-Jahren und auch noch Jahrzehnte später war Errikousa eine abgeschiedene Insel. Es gab nur wenige Telefone, kaum Strom, Toilettenhäuschen hinter dem Haus, keine Polizei, keine Ärzte und keine Geschäfte. Die Inselbewohner führten ein einfaches und beschauliches Leben und fuhren in den kleinen Fischerbooten nach Korfu mit, wenn sie etwas brauchten, das nicht geerntet, gefischt oder selbst hergestellt werden konnte.

      Auf Errikousa bestand eine Inselgemeinschaft, in der Bescheidenheit und Moral sehr wichtig waren. Oft wurden Mädchen schon als Jugendliche verheiratet. Am Morgen nach der Hochzeit hing als Beweis dafür, dass die Braut noch Jungfrau gewesen war, ein Bettlaken mit Blutflecken an einem Olivenbaum. Obwohl sie auf einer Insel lebten, lernten Frauen und Mädchen nie schwimmen. Einen Badeanzug anzuziehen und im Meer zu baden, wurde als schamlos und skandalös betrachtet und brachte Schande über die Familie eines Mädchens. Selten, wenn überhaupt jemals, wurde ein Mädchen in der Generation meiner Yiayia in das winzige Schulhaus von Errikousa geschickt, um etwas zu lernen. Kochen, Putzen, die Versorgung des Viehs und die Bestellung des Gartens waren die einzigen Fertigkeiten, die eine Frau beherrschen musste, und sie wurden zu Hause unter den wachsamen Augen von Müttern, Tanten und Großmüttern erlernt.

      Gesellschaftlich und spirituell drehte sich das Inselleben um die winzige Kirche Sankt Nikolas, in der Sonntagsgottesdienste, Feste, Hochzeiten, Sakramente und Namenstage gefeiert wurden. Das kleine, mit Ikonen geschmückte Gotteshaus unmittelbar neben dem alten Friedhof und nur wenige Schritte vom Schulhaus entfernt, war buchstäblich Herz, Seele und Mittelpunkt des Insellebens. Yiayia und die Inselbewohner hatten einen tiefen Glauben. Sie fuhren auch regelmäßig von ihrer Insel nach Korfu, um die Kirche zu besuchen. Als 1944 die Nazisoldaten alles taten, um die jüdische Gemeinde zu vernichten, fielen Bomben der Alliierten auf Korfu und zerstörten einen großen Teil der Altstadt. Während die umliegenden Gebäude verbrannten und in Schutt und Asche gelegt wurden, blieb die Kirche mit ihrem ikonengeschmückten Marmoraltar, ihren kunstvollen Deckengemälden mit silbernen Laternen und ihrem eindrucksvollen Glockenturm unversehrt und intakt.

      Trotz der Armut und der unsicheren Zeiten hatten Yiayia und die anderen Inselbewohner Glück. Im Gegensatz zu den Hunderttausenden, die im vom Krieg gebeutelten Griechenland Hunger litten, konnten auf Errikousa selbst die ärmsten Familien, die kein Vieh und kein Einkommen hatten, die fruchtbaren Böden der Insel bepflanzen und sich von Tintenfischen, Hummern, Seeigeln und Fischen ernähren, die sie reichlich und kostenlos aus dem leuchtenden blauen Wasser des Ionischen Meers fischten. Während in ganz Europa der Krieg tobte, erwies sich Errikousas Abgelegenheit, wegen der diese kleine Insel, ihre Infrastruktur und ihre Menschen so rückständig und von der modernen Welt isoliert waren, als Rettung.

      Selbst während der italienischen Besatzung ließen die italienischen Soldaten, die in ganz Europa Dörfer plünderten, die Bewohner von Errikousa in Ruhe. Da die Insel so nahe an Italien liegt, sprachen viele einheimische Fischer Italienisch, und der Dialekt der Insel war mit italienischen Wörtern durchsetzt. Die italienischen Soldaten behandelten die Menschen, deren Bräuche und Sprache ihnen so vertraut waren, freundlich und ließen die Inselbewohner größtenteils in Ruhe.

      Das Leben für unsere Familie ging genau so weiter wie für den Rest der Insel und Generationen vor ihnen. Yiayia kümmerte sich um ihr Haus und ihre Kinder, erzog Agatha zu einem bescheidenen und frommen griechisch-orthodoxen Mädchen und lehrte sie die Fertigkeiten, die sie eines Tages brauchen würde, um eine gute Ehefrau und Mutter zu sein. Mein Vater verbrachte seine Tage damit, zusammen mit den anderen Jungen über die Insel zu laufen, zu schwimmen, alles zu erkunden und für die italienischen Soldaten Stachelschweine zu fangen, für die das süße Fleisch dieser Tiere eine Delikatesse war. Die Soldaten gaben den jungen Jägern im Tausch gegen die Stachelschweine Schokolade.

      Doch dann kapitulierten die Italiener, die Deutschen besetzten die Inseln, und das Leben auf Errikousa, wie Yiayia und die anderen Inselbewohner es kannten, gab es nicht mehr. Mein zehnjähriger Vater lief nicht mehr mit seinen Freunden am Strand entlang und freute sich über Schokolade. Stattdessen stieg er über die Leichen von italienischen Soldaten im Sand, die deutschen Minen zum Opfer gefallen waren. Er schlief nicht mehr beim rhythmischen Rauschen der Wellen und dem Zirpen der Grillen ein, sondern wurde von Nazistiefeln geweckt, die vor seinem Fenster vorbeimarschierten, und von Fäusten, die gegen die Tür hämmerten und Einlass verlangten. Agatha saß nicht mehr neben ihrer Mutter und lernte, wie man hauchdünnen Filoteig mit einem Besenstiel ausrollt, sondern versteckte sich hinter den Röcken ihrer Mutter, sobald sie einen Nazisoldaten erblickte oder jemanden Deutsch sprechen hörte. Und Yiayia führte nicht länger ein stilles Leben in Gehorsam, Pflichterfüllung und Ehrfurcht, sondern ein Leben in Trotz, Gefahr und Widerstand. Sie riskierte ihr eigenes Leben und das ihrer Kinder, um den Nazisoldaten zu trotzen und das Leben eines Juden und seiner Töchter zu retten.

      Dieser Mann war Savvas Israel, der jüdische Schneider aus Korfu.

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      NICHT DER REDE WERT

      Ostersonntag

      New Rochelle, New York

      1984

      »Wenn es so weitergeht, ist bald nichts mehr übrig.« Mein Onkel schüttelte lachend den Kopf. Er stand neben dem Spieß und drehte das junge Lamm von Hand über den glühenden Kohlen. Mehrere meiner Onkel waren seit sieben Uhr morgens damit beschäftigt. Abwechselnd drehten sie langsam den Spieß, damit das Lamm perfekt gebraten wurde. Inzwischen war die Haut knusprig, ideal, um sich ein Stückchen abzureißen, während sich alle um den Spieß versammelten, einen Alfresco-Aperitif tranken und auf das Essen warteten.

      »Aber das schmeckt so lecker«, sagte mein Bruder und zupfte mit den Fingern ein Stück von dem Lamm ab. Er schälte ein perfektes Stück von der knusprigen Haut und dem saftigen Fleisch herunter.

      Inzwischen


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