Das Wunder von Errikousa. Yvette Manessis Corporon

Das Wunder von Errikousa - Yvette Manessis Corporon


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standen sich Nina, Julia, Vittoria und Spera besonders nahe und kümmerten sich umeinander und um ihren Vater.

      Nina war die Älteste und hatte viel Ähnlichkeit mit ihrem Vater. Nina, die von ihren Freundinnen liebevoll Nini genannt wurde, war nicht nur freundlich und ausgesprochen warmherzig, sondern auch sehr begabt. Den Großteil der kunstvollen, feinen Stickerei, für die Savvas’ Schneiderei so bekannt war, fertigte Nina an. Während sich ihr Vater auf die Gewänder des Klerus spezialisierte, wandten sich die Bräute auf Korfu an Nina, wenn sie für ihr Brautkleid oder ihre Aussteuertruhe etwas besonders Exquisites haben wollten. Als Rebecca Aarons Tante heiratete, bestand sie darauf, dass ihre Freundin Nini und niemand sonst ihr Brautkleid nähen sollte. Das Kleid war allen Berichten zufolge einfach traumhaft, mit schönen Spitzenborten und Feinheiten, die keine Nähmaschine je zustande bringen könnte. Es war ein Kleid, das nicht nur von einer einzigen Braut getragen wurde. Ein solches Kleid war normalerweise ein Familienerbstück und wurde von Generation zu Generation weitergegeben. Aber dann kamen die Nazis und ihnen fielen die zukünftigen Generationen und das Kleid zum Opfer.

      Spera und Julia waren wie ihr Vater und ihre älteste Schwester für ihre meisterhafte Arbeit und ihr Talent bekannt. Spera war eigensinnig und lebhaft und liebte es, mit anderen Menschen zusammen zu sein und Grenzen auszutesten. Spera war so auffallend schön, dass man sich nach ihr umdrehte. Sie hatte viele Verehrer, was für allerhand Gesprächsstoff sorgte. Vielleicht war es Neid, vielleicht war es einfach Kleinstadttratsch, aber unter den jungen Frauen in der jüdischen Gemeinde sorgten Speras viele Verehrer für stundenlangen Tratsch und viele Spekulationen.

      Julia war wie ihre Schwester mit ihrem Vater und ihrer Familie eng verbunden. Sie war ein wenig zurückhaltender als die anderen Mädchen und die Ruhigste von ihnen. Sie behielt ihre Gedanken und ihre Gefühle für sich. Aber wenn man erst einmal Julias Vertrauen erworben hatte, war sie genau wie ihre Schwestern eine Freundin, wie man keine bessere und treuere finden konnte.

      Sowohl in der griechischen als auch in der jüdischen Tradition heiratete normalerweise die älteste Tochter als erste. Aber in der Familie Israel ging Vittoria, Savvas’ zweitjüngste Tochter, als erste von zu Hause weg. Mit ihren dunklen, gelockten Haaren und den gleichen durchdringenden Augen, wie sie ihr Vater hatte, war Vittoria kurz vor dem Krieg nach Triest gezogen, um in der Nähe der Familie ihres Mannes zu sein. Julia, Nina und Spera fiel es zu, sich um ihren Vater und umeinander zu kümmern und gleichzeitig das Familienhandwerk zu erlernen. In Savvas’ Schneiderei lernten die unverheirateten Töchter nähen, vervollkommneten dieses Handwerk und wurden unter dem wachsamen Auge ihres Vaters ausgezeichnete Schneiderinnen.

      Ein neues Kleidungsstück war für meine Yiayia und alle Bewohner der Insel Errikousa ein besonderes Ereignis. Es geschah nicht oft, dass sie genug Geld für ein neues Kleid, einen Anzug, einen Rock oder ein Hemd hatten, aber wenn es so weit war, war es ein Ereignis. Sie stiegen in die kleinen Fischerboote, die nach Korfu fuhren, und legten so die zehn Kilometer von Errikousas winzigem Hafen zum Hafen von Sidari an Korfus Nordspitze zurück. Von dort aus fuhren sie mit dem Bus 37 Kilometer auf den kurvigen und steil abfallenden Bergstraßen in die Stadt zu Savvas’ Schneiderei.

      Aber die Bewohner von Errikousa kamen nicht nur wegen der Kleidung und Savvas’ Nähkünsten immer wieder in seinen Laden. Nachdem sie schon seit so vielen Jahren miteinander Geschäfte machten, waren zwischen Savvas und vielen von der Insel Freundschaften entstanden, und sie tauschten viel mehr aus als Drachmen und neue Kleidungsstücke. Während Savvas von den Männern auf Errikousa als begabter Schneider, kluger Geschäftsmann und treuer Freund geschätzt und geliebt wurde, entstand auch eine enge Freundschaft zwischen Spera, Julia und Nini und meiner Yiayia und vielen anderen jungen Frauen auf der Insel. Es spielte keine Rolle, dass sie Juden und die Inselbewohner Christen waren; was zählte, war Savvas’, Ninas, Speras und Julias Charakter, nicht ihre Religion, ihre Bräuche oder Traditionen. Die zutiefst frommen griechisch-orthodoxen Christen auf Errikousa und die jüdische Familie des Schneiders liebten und vertrauten einander. Trotz ihrer äußeren Unterschiede waren sie durch ihre gemeinsamen Werte – Moral, Anstand und Ehrlichkeit – tief verbunden, auch als sich der Antisemitismus wie eine ansteckende Seuche ausbreitete und die Welt um sie herum den Verstand verlor.

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      Als die Deutschen im Juni 1944 alle Juden von Korfu auf der unteren Platia zusammentrieben, gelang es Savvas Israel und seinen Töchtern Spera, Julia und Nina sowie einem kleinen Mädchen namens Rosa, das Savvas den Inselbewohnern von Errikousa als seine Enkelin vorstellte, dem Gemetzel zu entfliehen. Mit ihren großen, mandelförmigen, braunen Augen und langen, dunklen Locken hatte Rosa eine unübersehbare Ähnlichkeit mit Savvas’ Tochter Vittoria, dem schönen Mädchen, das die Insulaner von ihren früheren Besuchen in der Schneiderei in Korfu in Erinnerung hatten.

      In all den Jahren, seit sie geschäftlich und freundschaftlich miteinander verbunden waren, war Savvas Israel immer ein Mann gewesen, auf dessen Wort man sich verlassen konnte. Als er nach Errikousa kam und behauptete, Rosa sei seine Enkelin, gab es keinen Grund, ihm das nicht zu glauben. Aber die kleine Rosa, das scheue, stille Kind, war nicht die, als die Savvas Israel sie ausgab. Savvas nahm das Wissen um Rosas wahre Identität mit ins Grab. Dieses Geheimnis verriet er nicht einmal den Freunden, die für ihn ihr eigenes Leben riskierten. Er war in diesem Punkt so verschwiegen, dass ich lange suchen musste, bis ich herausfand, wer das kleine Mädchen tatsächlich gewesen war.

      Savvas, Nina, Spera, Julia und Rosa gelang es wie durch ein Wunder, dem Chaos auf Korfu zu entfliehen und über die tückischen Bergstraßen und das Meer an das stille, abgelegene Ufer von Errikousa zu gelangen. Sie wussten, wie gefährlich diese Flucht war. Die Drohungen der deutschen Besatzungsmacht waren unmissverständlich. Geschichten von Verrat, wie bei den Familien von Rebecca Aaron und Daniel Soussis, hatten im jüdischen Getto die Runde gemacht. Die Bewohner von Errikousa hatten sich in all den Jahren als vertrauenswürdig erwiesen. Aber das war, bevor die Nazis gekommen waren, bevor es ein todeswürdiges Verbrechen geworden war, mit einem Juden befreundet zu sein.

      Sie gingen das Risiko ein und kamen auf die Insel, obwohl sie nicht wussten, ob sie hier Rettung oder Verrat erwarten würde. Doch Savvas, Julia, Nini, Spera und selbst die kleine Rosa stellten bald fest, dass die Menschen auf Errikousa das, was ihnen an materiellem Wohlstand und Schulbildung fehlte, mit Anstand, Mut und Ehrgefühl wettmachten.

      Als Savvas, Julia, Spera, Nini und Rosa Errikousas Boden betraten, wurden sie sofort von ihren christlichen Freunden aufgenommen. Unter ihnen war mein Urgroßvater, Anastasios, der inoffizieller Bürgermeister von Errikousa war und die Fischerboote besaß, die für die Insulaner den Fährbetrieb nach Korfu übernahmen. Die jungen Frauen der Insel – ein kleiner Kreis von Freundinnen und Verwandten, darunter meine Yiayia Avgerini, ihre Schwägerin Agathe, die 15-jährige Theodora Musakiti und die 23-jährige Amalia Katehi – wurden sofort aktiv und versorgten die Neuankömmlinge mit einer unauffälligeren Kleidung und einem neuen Aussehen. Sie wollten sicherstellen, dass sich Savvas und die Mädchen so nahtlos wie möglich in das Leben auf Errikousa einfügten. Spera, Nini und Julia wurden mit schlichten, geknöpften Blusen, Röcken, Kleidern und Schürzen, der einfachen Kleidung der Frauen auf Errikousa, ausgestattet. Ihre Haare, die deutlich kürzer waren als die langen Zöpfe der christlichen Inselbewohnerinnen, wurden in der Mitte gescheitelt und glatt gekämmt. Jede bekam ein Kopftuch, um ihre kürzere Frisur zu verbergen. Ihre eigenen, modernen und schön geschneiderten Kleider wurden versteckt, bis sie sie wieder ungefährdet tragen konnten. Savvas’ tadellos geschneiderter Anzug wurde ebenfalls sicher verstaut. Anstelle des Anzugs schlüpfte der jüdische Schneider in abgetragene Hemden und Hosen, wie sie die Fischer und Bauern auf Errikousa trugen. Selbst die kleine Rosa wurde in ein altes Kleid gesteckt, aus dem ein christliches Kind auf Errikousa längst herausgewachsen war. Die jüdische Familie sah aus, als lebte sie schon immer auf der Insel. Als sei sie einfach eine weitere arme griechisch-orthodoxe Familie, die Tag für Tag von Gottes Gnade lebt.

      Sobald sie in die schlichte Kleidung der Inselbewohner geschlüpft waren, wurden Savvas und die Mädchen von ihren Freunden zum Keli gebracht, dem Haus des Inselpriesters. Die Inselbewohner erinnern sich noch heute, dass der damalige Priester ein freundlicher Mann namens Pater Andronikos war, der alles tat, um den Dorfbewohnern von Errikousa zu helfen, ihre jüdischen Freunde zu verstecken.


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