Das Wunder von Errikousa. Yvette Manessis Corporon

Das Wunder von Errikousa - Yvette Manessis Corporon


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Schwester würden die meisten Juden von Korfu nie wieder nach Hause zurückkommen.

      Von der Platia aus wurden sie wie Vieh zu der alten Festung der Insel getrieben, die sich auf einer zerklüfteten Halbinsel befindet, die ins Meer hinausragt. Die Festung, die zum Schutz der Stadtbewohner errichtet worden war, wurde zu ihrem Gefängnis. Männer und Frauen wurden getrennt, sie wurden gezwungen, alle Wertsachen abzugeben, und in die feuchten Verliese der Festung gesperrt, während die Nazis letzte Vorkehrungen trafen.

      Eigentlich hätte es nie so weit kommen dürfen. Es widersprach jeder Vernunft. Aber man kann den Nazis nicht vorwerfen, dass sie sich von Vernunft hätten leiten lassen. Das Ende des Krieges war absehbar. Drei Tage zuvor waren die Alliierten in der Normandie gelandet. Die Rettung war nahe, aber nicht nahe genug. Die Gestapo war nach Korfu gekommen und das Oberkommando der Wehrmacht riet von der Deportation der Juden ab und warnte, dass dadurch deutsche Schiffe und Soldaten gefährdet würden, da die Alliierten näher rückten und die Ionischen Inseln bombardierten. Der befehlshabende Oberst der Wehrmacht auf Korfu verwies auf die Anwesenheit des Roten Kreuzes auf der Insel und legte dringend nahe, die Deportation zu verschieben. Er wusste, dass die Wahrheit vor dieser internationalen Organisation unmöglich geheim gehalten werden konnte und dass das Rote Kreuz Zeuge der deutschen Endlösung auf der Insel werden würde. Aber trotz alledem ließ sich die Gestapo nicht aufhalten und setzte mit kleinen, schrottreifen Booten, deren Seetüchtigkeit sehr fraglich war, ihren Plan in die Tat um.

      Der Abtransport begann am 10. Juni 1944. Die Juden wurden aus der alten Festung in Korfu geholt und in die morschen Boote und auf die notdürftigen Flöße gepfercht und brachen in Richtung Auschwitz-Birkenau auf.

      Als sie aus der alten Festung geholt wurden, drängten sich viele Gefangene vor, um zu den Ersten zu gehören, die in die Boote steigen und dem Verlies entkommen konnten. Sie ahnten nicht, dass es kein Entkommen gab. So seeuntauglich sie auch aussahen, hielten sich die morschen Holzboote mit der abgeblätterten Farbe und die schrottreifen Flöße über Wasser und brachten ihre menschliche Fracht ans Festland. Nach dem Krieg sagten viele der Überlebenden, sie wünschten, die Boote wären gesunken und alle an Bord wären einfach ertrunken. Der Tod auf dem Meer wäre, verglichen mit dem, was sie erwartete, angenehmer gewesen.

      Einigen gelang es tatsächlich zu entkommen. Darunter war David Balestra, ein junger korfiotischer Jude, der über Bord sprang und sich ans Ufer von Lefkada retten konnte. Nach dem Krieg ließ er sich in Israel nieder und wurde Schwimmlehrer für Kinder.

      Aber für Nino Nachschon kam eine Flucht nicht infrage. Mit seinen 19 Jahren war Nino ein geselliger junger Mann, dessen Lachen die Wohnung seiner Familie erfüllte, auch wenn sie oft nichts zu essen hatten. Ninos Vater war gestorben, als Nino noch klein gewesen war, und seine Mutter musste ihn und seine drei Geschwister allein aufziehen. Seine Familie war arm und das Leben im jüdischen Viertel war schwer. Aber für Nino hatte das Leben auf Korfu, selbst im Getto, seine Vorteile. Nino verbrachte unzählige Stunden mit seinen Freunden im Meer und war ein guter Schwimmer. Er schwamm so gut, dass er von dem schrottreifen Boot ins Meer hätte springen und an Land schwimmen können.

      Während sein schwer beladenes Floß tief im Wasser lag, wanderte Ninos Blick zum Horizont, wo der Himmel das Wasser berührte. Er wusste, dass er es schaffen konnte. Tief in seinem Inneren wusste er, dass er mit Leichtigkeit ins Meer springen und sich ans Ufer retten und in Sicherheit bringen konnte. Das wusste nicht nur er; seine Mutter wusste es auch.

      »Rette dich!«, flüsterte Ninos Mutter, die sich zu ihm hinüberbeugte. Während sie ihre Tochter und ihren jüngsten Sohn an sich drückte, flehte Ninos Mutter ihr ältestes Kind an. »Rette dich!«, forderte sie ihn noch einmal auf.

      Nino saß schweigend neben ihr. Während sie sich immer weiter vom Ufer entfernten, nahm die Stimme seiner Mutter einen Befehlston an. »Ich weiß, dass du das kannst«, beharrte sie. »Ich weiß, dass du es schaffst. Rette dich! Lass uns hier zurück! Tu es!«

      Aber noch während seine Mutter ihn anflehte, sich zu retten, klammerte sich Ninos jüngerer Bruder an ihn. »Bitte lass uns nicht allein«, bettelte er. »Bitte! Lass uns nicht allein.«

      Während sich an diesem Tag das schrottreife Boot immer weiter von Korfu entfernte und er auf eine ungewisse Zukunft zusteuerte, tat der 19-jährige Nino etwas, das er nie zuvor getan hatte: Zum ersten Mal in seinem Leben widersetzte sich Nino Nachschon den Wünschen seiner Mutter. Nino schaute zu, wie andere ins Wasser glitten und davonschwammen, um sich zu retten, während er, von Angst und Hunger gequält, regungslos zwischen seiner Mutter und seinen Geschwistern in dem morschen Todesboot sitzen blieb.

      An Land wurde Nino und seine Familie nach Patras gebracht, wo man sie in Züge mit Ziel Athen steckte. Mehrere Tage blieben sie im Haidari-Lager, einem KZ gleich außerhalb von Athen, bevor sie, einer über dem anderen, in Viehwaggons gepfercht wurden, ohne Wasser, mit wenig Luft und mit so gut wie keiner Überlebenschance. Während Nino und seine Mutter und Geschwister den Transport überlebten, kamen die meisten Juden von Korfu nie in Auschwitz-Birkenau an.

      Als Ninos Zug dort ankam, wurden er, seine Brüder und seine Schwester in die Baracken geschickt. Ninos Mutter wurde noch in der ersten Nacht in die Gaskammer gebracht.

      Genau wie Nino überlebte auch die 17-jährige Rebecca Aaron die Fahrt nach Auschwitz. Aber sie wünschte sich oft, sie hätte sie nicht überlebt. Rebecca und ihre Familie waren aus dem Getto geflohen und hatten in dem kleinen Dorf Kouramades, nur zehn Kilometer von Korfu-Stadt entfernt, Unterschlupf gefunden. Dann wurden die Plakate aufgehängt, die die Christen darauf hinwiesen, welche Strafe darauf stand, Juden zu verstecken und ihnen zu helfen. Diese Plakate waren das Todesurteil für Rebeccas Familie. Ein Beamter des Ortes, der sich wahrscheinlich bei den deutschen Soldaten Vorteile erhoffte, machte die Nazis darauf aufmerksam, dass sich die Familie Aaron in einer kleinen Berghütte gleich außerhalb des Dorfes versteckte. Rebecca und ihre Familie wurden sofort gefangen genommen und waren die letzten Juden von Korfu, die in die Boote gepfercht wurden.

      Als die Türen ihres Waggons bei der Ankunft in Auschwitz geöffnet wurden, musste Rebecca hilflos zusehen, wie ihre Familie getrennt wurde. Bevor an diesem ersten Tag in Auschwitz die Sonne unterging, wurden 40 Mitglieder von Rebeccas Familie ermordet, darunter ihre Mutter und ihre Geschwister.

      Das Auswahlverfahren im Todeslager der Nazis war denkbar einfach: Wer arbeiten konnte, wurde in die Baracken geschickt und zur Arbeit eingeteilt. Alle, die krank, schwach oder gebrechlich waren, wurden sofort nach ihrer Ankunft entsorgt.

      Die Fahrt von Korfu bis zu den Toren von Auschwitz dauerte fast einen ganzen Monat und gehörte zu den längsten und beschwerlichsten Fahrten, die Gefangene der Nazis ertragen mussten. Dazu kam, dass die korfiotischen Juden das milde griechische Klima gewohnt und schlecht ausgerüstet und unzureichend vorbereitet waren. Sie hatten kaum eine Chance, den Transport zu überleben. Wenn die SS-Soldaten die Türen zu den griechischen Waggons öffneten, wurden sie oft von einer Todesstille begrüßt.

      Manchmal zogen selbst diejenigen, die den Transport überlebten, den Tod dem vor, was die SS-Soldaten mit ihnen vorhatten. 435 Männer aus Korfu überlebten die Fahrt, entschieden sich aber freiwillig für den Tod, um nicht zum Sonderkommando eingeteilt zu werden, einer jüdischen Einheit, die von den Nazis eingesetzt wurde, um die Leichen zu entsorgen.

      Insgesamt wurden 1795 Juden von Korfu deportiert. Von ihnen überlebten nur 121 den Krieg.

      Natürlich gelang es einigen, die sich wie Daniel Soussis versteckten, der Deportation zu entkommen. Geschichten von Verrat, wie das Schicksal von Rebecca Aarons Familie und Daniel Soussis’ Mutter, gab es viele. Während die Mehrheit der Juden und Christen auf Korfu harmonisch zusammenlebte, gab es auf der Insel auch einen unterschwelligen Antisemitismus. Schon im 15. Jahrhundert stellten die venezianischen Herrscher dafür die Weichen, als sie die Juden der Insel von ihren griechischen christlichen Nachbarn trennten und das Getto errichteten, in dem die Juden leben mussten. In einer unheimlichen Vorschau auf das, was Jahrhunderte später während der deutschen Besatzung geschehen würde, wurden kleine, gelbe Knöpfe gefertigt und an die Gemeinde verteilt. Die gelben Knöpfe mussten alle Juden, die 13 Jahre oder älter waren, an der Jacke tragen, wenn sie sich außerhalb des Gettos bewegten.

      1891


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