Ich habe immer nur den Zaun gesehen. Ernst Heimes

Ich habe immer nur den Zaun gesehen - Ernst Heimes


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ist überflüssig zu sagen, dass uns dies am meisten interessierte. Aber es gab auch andere Freuden …

       Gleich mittags, bei der Rückkehr von der Arbeit, bietet man uns die erste. Zwei Galgen sind auf dem Podium errichtet, davor steht die ganze Belegschaft im Viereck, und so werden zwei Häftlinge erhängt; langsames Erhängen, nicht durch den Fall des Körpers herbeigeführt, sondern durch einfaches Erwürgen. Das Opfer braucht mindestens zwei Minuten um zu sterben.

      Als dieses Schauspiel vorbei war, mussten wir mit Mützen ab in Fünferreihen zwischen den beiden baumelnden Leichen hindurchgehen, rechts und links von uns der Generalstab der SS, wo Kramer, der Lagerkommandant, thronte, seine ewige Zigarre in der Schnauze; mit den Augen Wahnsinniger genossen sie es und beobachteten die Nachwirkung, die es auf uns ausübte. Aber wir zogen vorbei, automatisch, gleichgültig, den Blick ins Ungewisse gerichtet und dachten vor allem an unsere Suppe, die auf uns wartete und in unseren Essnäpfen kalt wurde.

      7 Quelle: KZ Lager Natzweiler Struthof, Nancy 1982

      Neuer Antrieb

      Inzwischen war meine Erzählung über das KZ-Außenlager Cochem in einer kleinen Auflage erschienen. Wegen dieses schmalen Bändchens wurde ich für ein Reisestipendium vorgeschlagen, das der Verband deutscher Schriftsteller, VS, zusammen mit dem Auswärtigen Amt jährlich vergibt. Wenig später erhielt ich tatsächlich die Zusage und wurde Stipendiat. Ich empfand diese Anerkennung als Aufforderung, weitere Recherchen zum Thema KZ-Außenlager Cochem anzustellen. Ich entschied mich nach Luxemburg zu reisen.

      Du weißt, mit welchem Eifer ich in meiner Kindheit und Jugend als Messdiener tätig war. Ich fuhr damals mit einer kleinen Gruppe aus unserer Gemeinde zu einem religiösen Fest nach Malmedy in Belgien. In einer Gaststätte, in der wir zu Mittag essen wollten, wurden wir nicht bedient. Das war mir damals unverständlich. Auch die Art und Weise, in der man uns die Bewirtung verweigerte, irritierte mich sehr. Unser orts- und geschichtskundiger Pfarrer, der sich mit auf der Tour befand, erzählte mir später von einem Massaker deutscher Soldaten an Zivilisten aus Malmedy. Bei dem Gedanken, nach Luxemburg zu fahren, um dort Kontakt zu ehemaligen Häftlingen zu suchen, fiel mir diese Begebenheit wieder ein.

      Post. Über die Frankfurter Geschäftsstelle der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) erhielt ich Kontaktadressen in Luxemburg. Die Landesbildstelle Rheinland-Pfalz antwortete auf meine Anfrage: Wir bedauern, Ihnen mitteilen zu müssen, dass in unserem Bildarchiv keine Aufnahmen zum Thema ›KZ-Außenkommando Cochem‹ vorhanden sind.

      Vom Verband der Schriftsteller in Luxemburg kam die Einladung, ich möge als Vertreter der rheinland-pfälzischen Autoren bei der im Herbst geplanten Literatur-Biennale in Clerf als Gastautor aus meinen Texten lesen. Die Veranstaltung sollte an einem Wochenende stattfinden, das in die Zeit fiel, in der ich vorhatte, mich in Luxemburg aufzuhalten. Natürlich sagte ich zu.

      Luxemburg. Ich wollte mich auf das kleine Land einlassen. Was gab es an Büchern über Luxemburg? Ich hatte im VLB, dem Verzeichnis lieferbarer Bücher, nachgesehen. Es gab einiges über Landschaften und Sehenswürdigkeiten. Die Auswahl war abgestimmt auf den Bedarf von Gästen, die in Luxemburg Erholung suchten, und sich für Besichtigungen interessierten.

      Luxemburg, das hatte für mich immer irgendwie zu Deutschland gehört, irgendwie. Das war kein richtiges Ausland gewesen. So wie Bayern. Und wenn wir früher als Kinder aufzählten, in welchen Ländern wir schon gewesen sind, dann wurde die Nennung von Luxemburg immer mit einem gelangweilten Ach ja, Luxemburg und mit einer ausladenden Handbewegung abgetan. Dass Luxemburg nicht zu Deutschland gehört, wurde mir tatsächlich und endgültig erst klar, als ein Freund eine Luxemburgerin heiratete.

      »Ah, aus Luxemburg!«, sagten alle erstaunt, denen er die Frau vorstellte. Ihr Vater sei ein hohes Tier in der luxemburgischen Regierung, hatte der Freund gesagt. Erst damit wurde Luxemburg endgültig als 12. Bundesland abgeschrieben – für Kopf und Bauch.

      Luxemburg war das Land gewesen, wohin man billige Zigaretten einkaufen fuhr, wenn man nahe genug an der Grenze wohnte und wohin man eine Tagestour unternahm und Zigaretten mitbrachte, wenn man nicht so nah an der Grenze wohnte. Luxemburg war das Land gewesen, durch das man beiläufig hindurch fuhr, wenn man aus Richtung Mosel kommend nach Paris wollte. Luxemburg war die preiswerte Abschussrampe für Flieger in alle Welt gewesen. Luxemburg, die Stadt, hat einen schönen großen Platz für warme Sommerabende. Hier hatte es sich einen Abend lang aushalten lassen, wenn der Flieger erst am nächsten Morgen startete.

      Ich schaute über den Fluss, hinter Trier, in ein anderes Land. Den Fluss kannte ich gut und das Tal. Aber das Land?

      8 Der ehemalige luxemburgische Häftling des KZ Natzweiler-Struthof, Ernest Gillen, hat nach dem Krieg wie kein anderer maßgeblich zur Aufarbeitung der Geschichte des Konzentrationslagers Natzweiler-Struthof und seiner Außenlager beigetragen. Er ist sozusagen eine Schlüsselfigur in der Forschung und Vertiefung des Themas, und sein Name ist bekannt. Ohne ihn wären auch viele Einzelheiten in diesem Buch über das KZ-Außenlager Cochem verborgen geblieben. Im Jahr 2004 ist Ernest Gillen mit 83 Jahren gestorben. In dieser völlig überarbeiteten Neuausgabe wird sein Name in Gänze genannt und nicht wie in bisherigen Ausgaben mit dem Kürzel Ernest G. Eine Online-Biografie über Ernest Gillen ist unter folgendem Link zu finden: http://www.sintiundroma.de/uploads/media/ernest_gillen.pdf

      Er schrieb, dass er selbst nicht im Lager Cochem gewesen sei und auch keinen noch lebenden Luxemburger kenne, der in diesem Lager war. Er sei gern bereit, sich mit mir in Luxemburg zu treffen und hoffe, auch von mir Einzelheiten über Bruttig und Treis erfahren zu können. Er fragte, was ich über die verstorbenen KZler wisse, die in Bruttig beerdigt sind. Ich kannte zwar deren Gräber, schrieb aber, um eventuell mehr zu erfahren, an den Pfarrer von Bruttig und fragte, ob die Kirchenbücher Eintragungen über verstorbene KZ-Häftlinge enthielten. Die Antwort kam jedoch nicht vom Pfarrer, sondern vom Inhaber eines Bruttiger Weingutes, von Manfred Ostermann.

       Im Auftrag unseres Herrn Pfarrers teile ich Ihnen folgendes mit: (…) Über das Schicksal der Lagerinsassen und deren Todesumstände gibt es in der Pfarrei und der Gemeinde keine amtl. Informationen, da die Lagerverwaltung mit dem Dorf nichts zu tun hatte. Informationen allgemeiner Art, die das Lager Bruttig-Treis betreffen, können hier bei uns von Ortsansässigen gegeben werden. Dazu wäre notwendig, mit den Leuten persönlich zu sprechen. Für weitere Rückfragen stehe ich Ihnen gern zur Verfügung.

      »Sin sie nich der, der bei ’er Abschlussfeier die Jitarre jespielt hat?«

      »Richtig!«

      Am Tresen beim Waldfest hatte er mich wiedererkannt. Ich erinnerte mich an ihn wegen seiner Fliegergeschichten, die er immer wieder erzählte, bevor er dann kurz vor Ende der Wirtschaftsgeografiestunde auf die Uhr schaute, »oh, wir ham ja noch jarnich jemacht« sagte und dann mit dem eigentlichen Unterrichtsstoff begann. Seine Stunden waren wegen der Fliegergeschichten durchaus beliebt,


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