Mütter der Neuen Zeit. Группа авторов
und Institutionalisierung hat mittlerweile auch die allerersten Lebensjahre erreicht. Betreuungsgarantie ab Geburt, 24/7-Kitas und umfassende »Ferienspiele« sind als nächste dystopische Elemente bereits in der Diskussion.
Gleichzeitig liefern uns wissenschaftliche Studien aus verschiedenen Sektoren seit mehr als zwanzig Jahren Resultate, die eigentlich unsere Alarmglocken schrillen lassen sollten. Sorgfältig konzipierte Untersuchungen zeigen uns immer wieder, dass die frühkindlichen Gruppenbetreuungskonzepte vor dem Alter von drei bis vier Jahren mit einem erheblichen Risiko für Gesundheit und Wohlbefinden verbunden sind – in Form übermäßiger Stressbelastungen und langfristiger Verhaltens- und Persönlichkeitsstörungen.
Die einzigartige individuelle Zuwendung, die in dieser Intensität nur die elterliche Liebe zu den eigenen jungen Kindern hervorzubringen vermag, lässt sich durch noch so ausgefeilte pädagogische Konzepte in »Sternchen-Kitas« nicht ersetzen. Der Bindungstheorie kommt das große Verdienst zu, diesem psycho-spirituellen Phänomen der Eltern-Kind-Liebe auch Widerhall in den modernen Naturwissenschaften verschafft zu haben.
Als Kinderarzt und Sozialpädiater bin ich mittlerweile über Jahrzehnte in der Kinderschutzarbeit damit konfrontiert, welche gravierenden Folgen Misshandlung, Missbrauch und Vernachlässigung besonders im frühen Lebensalter für Kinder haben können. Gleichzeitig bin ich aber immer wieder davon beeindruckt, wie liebevoll, zugewandt und anregend die große Mehrheit der Eltern mit ihren Kindern umgeht – wenn man sie denn lässt; und dies sogar unter erschwerenden Umständen wie Armut, Migration oder Flucht. Die ausgiebige Erfahrung dieser elterlichen Liebe und Zuwendung ist für alle Kinder ein Grundrecht, das elementar zu ihrer Würde und ihrem Entwicklungspotenzial beiträgt.
Viele Frauen hadern heute mit solchen Überlegungen. Der Kampf gegen patriarchale Machtstrukturen hat die Frauenbewegung gestählt, aber zu einem großen Teil auch von ihren mütterlichen Wurzeln entfremdet. Der Feminismus hat sich indes selbst auch als »Bewegung für alle Schwachen« definiert und sollte sich somit auch für die echten Belange von Kindern – als besonders vulnerabler Gruppe unseres Gemeinwesens – verantwortlich fühlen.
Wir sollten daher nicht nur gemeinsam die »Gläserne Decke« durchstoßen, die Frauen davon abhält, sich Positionen mit großem gesellschaftlichem Gestaltungspotenzial zu erschließen. Wir müssen gleichzeitig verhindern, dass in unserem Haus mehr oder weniger unverhohlen ein »Gläserner Boden« eingezogen wird, der uns als Eltern zunehmend von unseren Kindern trennt und entfremdet. Dieses höchst bedeutsame Ziel wird nicht nur persönliches, familiäres Engagement erfordern, sondern auch publizistische Anstrengungen sowie elterlichen Widerstand und basisdemokratischen Aktivismus.
In diesem Sinne wünsche ich den Müttern der Neuen Zeit für ihre überaus wichtige und verdienstvolle Aufgabe den langfristigen Erfolg, auf den wir alle angewiesen sein werden.
Dr. Rainer Böhm, Kinder- und Jugendarzt, Schwerpunkt Neuropädiatrie Leitender Arzt des Sozialpädiatrischen Zentrums Bielefeld-Bethel
Einführung
Die Natur macht aus dem Menschen bloß ein Naturwesen, die Gesellschaft ein gesetzmäßig Handelndes, ein freies Wesen kann er nur selbst aus sich machen.
RUDOLF STEINER
Wir stehen am Beginn einer Neuen Zeit, deren Morgenröte schon seit vielen Jahren in der Suche nach dem Geheimnis der Potentialentfaltung sichtbar wird. Menschen spüren und verantworten ihre Freiheit im Menschsein, suchen und leben ihren ganz eigenen Weg gemäß ihrer eigenen inneren Stimme. So auch die Mütter, die mehr und mehr gesellschaftliche Vorstellungen über das Muttersein und deren Rollenbilder hinterfragen, egal ob diese in der Tradition familiärer Werte verankert sind oder einem Arbeitsmarkt dienen, der die Mutter zur Berufstätigkeit zwangsemanzipiert. Das Ausrichten der eigenen Biographie auf das Dasein-Können für das Kind macht die moderne Mutterschaft heute zum Entwicklungsweg. Sie nähert sich dem Geheimnis von Sein und Werden. Selbstbestimmt.
Dabei liegt in all den Fragen rund um eine kindgerechte Entwicklung eine besondere Herausforderung. Warum?
Dass Frauen auch Mütter sind, ist selbsterklärend. Doch wurde diese Phase natürlicher und lebensspendender Individuation, die jede Gesellschaft nährt, im Zuge wachsender Technologisierung und Digitalisierung ins Abseits gedrängt, entwürdigt, verleugnet oder gar substituiert. Spätestens seit der Krippenoffensive und der Abschaffung des Nacheheunterhaltes (beides 2008 und nicht zufällig in Zeiten der weltweiten Finanzkrise geschehen) sind die Arbeitszeiten von Müttern dem Arbeitsmarkt einverleibt worden. Die Frau als Mutter wurde ökonomisiert, die Betreuung von Kindern institutionalisiert, die Kindheit also verstaatlicht. Die Mutterschaft ein überholtes Konstrukt? Selbst moderne CARE-Aktivistinnen, deren Anliegen es ist, die Ausbeutung der notwendigen, doch unbezahlten Fürsorgearbeiten zur Diskussion zu stellen, lösen die Frau von ihrer Mutterschaft durch ihre Forderung nach mehr und noch mehr Kitaplätzen. Mütter sollen (sich) nicht mehr sorgen… Ist das die Lösung?
Ich selbst habe als Mutter von drei Kindern erlebt, was es heißt, wenn Fürsorgearbeit vor dem Gesetz bewertet wird, als ob man Ferien machen würde. Auch wenn die Bedürfnisse meiner Kinder nach einem Zuhause, nach Schutz, Geborgenheit und Einfach-sein-Dürfen, nach Sicherheit, individueller Zuwendung und Entfaltung mir immer wieder gezeigt hatten, dass meine Präsenz wesentlich und immer wieder auch unerlässlich war, vermittelt unsere moderne Gesellschaft ein weitreichend anderes Bild. Die finanzielle Wahlfreiheit, Kinder, solange sie es brauchen, im familiären Umfeld betreuen zu können, wurde abgeschafft. Mütter sollen (sich) nicht mehr sorgen? Mit dieser erschütternden Einsicht entschied ich mich, das Buch »Die verkaufte Mutter« herauszugeben, dem sich noch zwei weitere Mitstreiterinnen anschlossen. Mütter endlich selbst sprechen zu lassen, war unser tiefes Anliegen – sie sichtbar zu machen in ihren Motiven, für ihre Kinder da zu sein.
Inzwischen ist die frühe Fremdbetreuung von Kleinstkindern eine Selbstverständlichkeit geworden, auch wenn immer wieder gut begründete alternative Sichtweisen laut werden. Auch in meiner Arbeit als langjährige biographische Begleiterin haben viele Gespräche mit Klienten verdeutlicht, wie die mangelnde Präsenz von Eltern ein lebenslanges Liebesvakuum hinterlässt, das gleich einem fehlenden Boden wesentliche Entwicklungen im Erwachsenenleben hemmt. Doch der ökonomische Druck und die politische und mediale Inszenierung von »Vereinbarkeit« scheinen die Lebensentwürfe von Eltern zu normieren. Jetzt, in Coronazeiten, in denen die Macht staatlicher Eingriffe in einer nie gekannten Weise unseren Alltag prägt, wird das individuelle Antworten fast existentiell. Besonders Eltern müssen sich ihren Kindern gegenüber neu finden. Beruf und Betreuung können nicht gleichzeitig geschehen. Dabei wird deutlich, dass es eben doch die Mütter sind, die dem Sorgen am nächsten stehen. Offensichtlicher denn je werden sie zwischen gesellschaftlichen, politischen und finanziellen Erwartungen einerseits und den Bedürfnissen der eigenen Kinder andererseits zerrieben. Um ihre Kinder zu schützen und mit ihren Kindern Leben wieder lebbar zu machen, brauchen sie einen besonderen Mut.
Denn vergessen scheint, was immer noch Grundrecht ist:
Jede Mutter hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft (GG 6,4).
Darum geht es in diesem Buch: der Mutterschaft ihre Würde zurückzugeben. Denn ohne die Mutter gibt es kein menschliches Leben. Und es ist nichts Falsches daran, sich für das Leben zu entscheiden. Der Mut moderner junger Frauen zeigt das. Er inspiriert Lebenswege, die ein Sich-treu-Bleiben möglich machen. Denn letztendlich bleibt, wenn die Hoffnung auf die gute Fremdbetreuung zerbricht, die Frage: Was trägt und nährt uns? Mögen die Berichte in diesem Buch gleich Leuchttürmen wegweisende Erfahrungen vermitteln, die Ihnen, liebe Leserin, weiterhelfen können. Einundzwanzig Mütter haben dafür ihre Einsichten auf der Suche nach einer stimmigen Betreuung für ihr Kind niedergeschrieben. In welcher Spannung sie sich dabei zwischen Außen und Innen, zwischen eigenen und fremden Glaubenssätzen und dem liebenden Blick auf das eigenen Kind befinden, macht den Entwicklungsauftrag sichtbar, den die Neue Zeit heute mehr denn je von uns einfordert. Denn der Graben zwischen einem gesellschaftlichen Einheitsparadigma und dem Wachsen in eine individuelle Freiheit – nicht zuletzt auch für unsere Kinder – scheint sich