Der neue Sonnenwinkel Staffel 4 – Familienroman. Michaela Dornberg
dieser Erkenntnis zu gelangen, hatte sie nicht den Jakobsweg gehen müssen.
Nein!
Es war gemein, sie konnte nicht predigen, dass jeder für alles seine Gründe hatte und sich dann mokieren, wenn jemand etwas tat, was ihr niemals in den Sinn käme.
Sie liebte Lars, sie würde ihn immer lieben. Er war wie er war, und entweder gab sie sich damit zufrieden, oder aber sie trennte sich von ihm. Und was hatte sie dann?
Gut, ihren wundervollen Beruf hatte sie, der würde ihr bleiben, der füllte sie aus, und da war sie auch schon bei dem, was Nicki ihr gesagt hatte, nämlich, dass für sie der Beruf und das, was sie sich wünschte, einen Ehemann zu haben und Kinder, überhaupt nicht vereinbar sei. Nicki kannte sich aus im wahren Leben, sie hatte gesunde Instinkte und wahrscheinlich damit ins Schwarze getroffen. Sie war halt nicht nur Ärztin, sondern sie war auch eine Frau, und der Traum von dem Ritter auf einem weißen Pferd war wohl in jeder Frau drin, auch wenn sie ein Prädikatsexamen gemacht hatte und viele Zusatzausbildungen hinterher.
Schluss damit.
Sie blickte auf den Ring, der verheißungsvoll an ihrer linken Hand, am linken Ringfinger blitzte. Er war schön, und es grämte Roberta nicht mehr, dass es kein Verlobungsring war.
Es hatte sich bei ihr wirklich etwas verändert. Und das war gut so.
Ihr nächster Patient war Mathias von Hilgenberg.
Weswegen war er wohl gekommen? Er war beneidenswert gesund, alle Routineuntersuchungen waren abgeschlossen, und die nächsten würde er bei einem anderen Arzt machen, weil er dann bereits Chef des Hauses Hilgenberg sein würde.
Schade, dass er hier nur ein sehr kurzes Gastspiel gegeben hatte. Aber so war es halt, nichts war für die Ewigkeit bestimmt. Das Schicksal mischte jederzeit die Karten neu.
Sie ließ den Grafen hereinkommen. Auch heute trug er eine ausgebeulte Cordhose, ein wenig abgeschabtes Tweedsakko, darunter einen allerdings sehr teuren Pullover. Er sah aus, wie man sich einen englischen Lord vorstellte, wie man ihn aus Filmen kannte. Und er war ja auch so etwas Ähnliches, nur wurde er in Deutschland Graf genannt. Doch das war, seit der Adel abgeschafft wurde, nicht mehr als ein Bestandteil seines Namens.
»Graf Hilgenberg«, begrüßte Roberta ihren Patienten, »was führt Sie zu mir?«
»Ach, ich bin da ein wenig pingelig, das sagt man ja den Menschen nach, die unter dem Sternzeichen Jungfrau geboren sind. Ich habe festgestellt, dass bei mir eine Impfung nachgeholt werden muss gegen Wundstarrkrampf. Die ist für mich künftighin wichtiger als alle anderen Impfungen. Wenn ich auf Schloss Hilgenberg lebe, werde ich nicht mehr durch die Welt reisen, aber in den Wäldern werde ich mich herumtreiben, und da kann schnell etwas passieren, zumal ich es liebe, mit der Kettensäge zu arbeiten.«
Das konnte Roberta sich kaum vorstellen, aber warum nicht? Der Graf hatte ein bewegtes Leben hinter sich. Ein Leben, in dem er eine ganze Menge erreicht hatte. Roberta kannte sich mit den Sternzeichen nicht so aus. Das war eher das Metier ihrer Freundin Nicki. Doch die konnte sie jetzt nicht fragen, die war unterwegs. Auf jeden Fall schien neben der von ihm erwähnten Pingeligkeit auch Beharrlichkeit und Fleiß dazu zu gehören.
Die Impfung war schnell nachgeholt.
Nachdem sie die eingetragen hatte, reichte sie dem Grafen den Impfpass.
»Das war ja jetzt wohl meine letzte Amtshandlung. Wann reisen Sie ab, Graf Hilgenberg?«
»Noch in dieser Woche, einesteils kann ich es kaum erwarten. Doch ich gehe auch mit einem weinenden Auge. Es hat sich unterhalb der Felsenburg gut gelebt. Und das Anwesen war wirklich das Beste, was ich finden konnte. Doch es gibt nichts auf der ganzen Welt, was vergleichbar ist mit Schloss Hilgenberg.«
Er machte eine kurze Pause, hatte einen ganz verklärten Blick, dann wurde er sehr ernst.
»Das Schloss war immer mein Sehnsuchtsort, dass es mir praktisch einmal in den Schoß fallen würde, damit hätte ich niemals gerechnet. Und um diesen Preis hätte ich es auch nicht haben wollen. Mein Bruder hat mir meine Schuldgefühle genommen. Er ist zwar krank geworden, doch er empfindet es als einen Segen, endlich die Verantwortung losgeworden zu sein. Er wollte die Rolle niemals spielen, in die ihn die Hausgesetze der Hilgenbergs gedrängt hatten. Die sind, wie Sie bereits wissen, zu meinen Gunsten geändert worden, mein Bruder fühlt sich frei, und ich glaube, er wird wieder gesund werden, die Verantwortung, das Leben, das er gezwungenermaßen führen musste, haben ihn krank gemacht.«
»So etwas gibt es, man kann krank werden, wenn Körper und Seele nicht im Einklang sind«, bestätigte Roberta. »Machen Sie sich von Schuldgefühlen frei, freuen Sie sich, dass es so ist. Stellen Sie sich einmal vor, Sie wären jetzt an der Reihe, Verantwortung zu übernehmen und befänden sich in einer ähnlichen Situation wie Ihr Bruder.«
Er schüttelte den Kopf.
»Frau Dr. Steinfeld, das kann ich mir nicht vorstellen, es ist fern jeder Vorstellung. Schloss Hilgenberg, die Verantwortung zu übernehmen, alles für die nächste Generation zu bewahren, das war schon immer mein Traum.«
Roberta lächelte.
»Ich wünsche Ihnen viel Glück«, sagte sie. Sie hätte noch sehr gern ein wenig mit ihm geplaudert, doch das Wartezimmer war voller Patienten, und sie hatte auch noch Hausbesuche zu machen.
»Danke, und ich hoffe, dass wir uns einmal wiedersehen werden. Unsere Feste sind berühmt, dazu würde ich Sie herzlich einladen. Und das ist nicht nur so dahergesagt, ich finde Sie großartig, als Ärztin und als Mensch. Es ist sehr schade, dass ich Sie nicht als meine Hausärztin behalten kann, dazu ist die Entfernung zu groß. Ich hoffe, die Menschen hier wissen, was sie an Ihnen haben.«
Die Tür wurde aufgerissen, Ursel Hellenbrink steckte den Kopf zur Tür herein, sie war aufgeregt.
»Frau Doktor, bitte entschuldigen Sie, aber im Wartezimmer ist eine Patientin kollabiert.«
Roberta hätte sich zwar gewünscht, sich anders vom Grafen verabschieden zu können. Das ging jetzt nicht, wenn es einen Notfall gab, dann musste alles andere zurücktreten.
Sie sagte ein flüchtiges: »Auf Wiedersehen, alles Gute für Sie, Graf Hilgenberg«, dann rannte sie Ursel hinterher. Mathias verließ langsam die Praxis. Schade, er hätte sich gern noch nach Nicki erkundigt.
*
Nach ein paar trüben, regnerischen und kalten Tagen war das Wetter wieder so richtig schön geworden, und es war kein Wunder, dass es die Menschen nach draußen drängte.
Da bildeten Maren Bredenbrock und Pamela Auerbach keine Ausnahme. Sie waren mit ihren Fahrrädern unterwegs und machten gerade eine kleine Pause.
Sie teilten die Gummibärchen, die Maren mitgebracht hatte und ebenso die Schokolade von Pamela.
»Wenn der Graf jetzt den Zugang nicht abgesperrt hätte, dann hätten wir hinauf zur Felsenburg gehen können«, maulte Pamela, ehe sie sich ein Stück Schokolade in den Mund schob.
»Mein Papa hat gesagt, dass er das tun musste. Er ist ja jetzt nicht mehr da, es handelt sich um einen Privatweg, und wenn da jemandem etwas passiert, ist der Graf dafür verantwortlich. Wer weiß, wer das jetzt alles kaufen wird. Es kann ja sein, dass es dann für immer vorbei ist. Die Felsenburg ist ja auch Privatbesitz.«
Pamela seufzte.
»Ach, Maren, es ist ja so schade, dass du nicht mehr mitbekommen hast, wie es früher war, als Manuel und seine Familie hier noch lebten, als ihnen alles gehörte.«
Maren und Pamela verstanden sich immer besser, sie verbrachten viel Zeit miteinander, und sie vertrauten einander und sprachen über alles, was sie bewegte. Da hatte sich eine ganze Menge zwischen ihnen verändert.
So war es