Der neue Sonnenwinkel Staffel 4 – Familienroman. Michaela Dornberg
Oh Gott! Oh Gott!
Was hatte sie bloß wieder angerichtet?
Warum hatte sie nicht ihren Verstand gebraucht, sondern einzig und allein ihre eigenen Befindlichkeiten gesehen?
Es war kaum auszuhalten!
Zum Glück musste Nicki jetzt ihren Wagen nicht aus der Tiefgarage holen. Aus lauter Bequemlichkeit hatte sie den direkt vor der Haustür geparkt. Sie sprang hinein und fuhr mit quietschenden Reifen los, wie man es normalerweise nur bei Verfolgungsjagten in Krimis im Fernsehen sah. Das brachte Nicki so manches Kopfschütteln ein, allerdings auch eine Anzeige, weil sie viel zu schnell fuhr und die angezeigte Begrenzung deutlich überschritt. So etwas ärgerte sie normalerweise, weil es vermeidbar war.
Heute bekam sie es nicht einmal richtig mit, weil ihre Gedanken davongaloppierten wie eine Herde aufgescheuchter Wildpferde.
Wie sollte sie sich verhalten?
Was sollte sie sagen?
Sich eine Geschichte ausdenken oder bei der Wahrheit bleiben?
Wie bekam sie es hin, dass die Kinder ihren Glauben an das Gute nicht ganz verloren?
Wie enttäuscht musste insbesondere Maren von ihr sein, die doch so große Stücke auf sie hielt, die ihr vertraute. Und sie hatte das Vertrauen mit Füßen getreten.
Sie hätte abwarten müssen. Es war überhaupt nicht gut gewesen, klammheimlich die Sachen aus dem Haus zu holen und den Schlüssel in den Briefkasten zu werfen. Das war nicht durchdacht gewesen, sie hatte nur sich gesehen, nicht die Folgen, die ein derartiges Verhalten hatte.
Sie hatte wieder einmal alles falsch gemacht, weil sie ihren Verstand nicht gebraucht hatte, sondern ihren Emotionen gefolgt war, auf die, das wusste sie aus Erfahrung, leider keine guten Ratgeber waren.
Zu spät!
Nickis Augen füllten sich mit Tränen.
Sie hatte den Kopf in den Sand gesteckt. Sie hatte gewartet. Worauf eigentlich? Sie hätte sich melden müssen. Nun war das Kind in den Brunnen gefallen!
Nicki war eigentlich eine rücksichtsvolle Fahrerin, davon war heute nichts zu spüren, sie benahm sich wie ein Verkehrsrowdy.
Insgeheim atmete sie erleichtert auf, als sie Hohenborn erreichte. Jetzt war es nicht mehr so weit. Sie entspannte sich ein wenig, wenn das überhaupt möglich war.
Und dann hatte sie das Haus der Bredenbrocks erreicht. Peters Auto stand vor der Tür, also war er daheim. Seit seinem Heiratsantrag, den sie abgelehnt hatte, hatten sie nichts mehr voneinander gehört, und die Karte aus Ägypten hatten auch nur Maren und Tim unterschrieben, von Maren war sie gekommen.
Schmollte er?
War er beleidigt?
Würde er überhaupt noch mit ihr sprechen?
Diese Gedanken waren unerträglich, und am liebsten wäre sie jetzt zurückgefahren. Aber das ging überhaupt nicht. Sie zwang sich, auszusteigen, und dann ging sie langsam durch den Vorgarten, auf das Haus zu, und sie bemerkte sofort, dass sie Haustür nur angelehnt war.
Hatte Maren die Tür für sie geöffnet?
Wollte sie vermeiden, dass Nicki vor der geschlossenen Haustür stehen bleiben musste, weil man ihr nicht öffnen wollte? Wenn bloß nicht all die Gedanken wären!
Sie ging die Steinstufen hoch, blieb stehen, atmete tief durch, dann ging sie ins Haus.
Als sie Stimmen aus der Wohnküche hörte, ging sie auf diese zu.
Es war nicht zu verkennen, dass das Haus Ricky und Fabian Rückert gehörte. Es sah hier beinahe so aus wie in der Auerbach-Villa, alles nur in kleiner. Vor allem die große Küche war damals für Ricky ein Muss gewesen. Und das war etwas, was alle nachfolgenden Mieter auch sehr geschätzt hatten, auch die Bredenbrocks.
Warum ging ihr das eigentlich ausgerechnet jetzt durch den Kopf? Nicki hatte keine Ahnung, vielleicht wollte sie sich durch Normalität ablenken, ihre Gedanken beruhigen. Damit war es allerdings vorbei, als sie die Küche betrat.
Peter, Maren und Tim waren um den großen Küchentisch versammelt und blickten ihr entgegen. Und Nicki wurde das Gefühl nicht los, jetzt vor einen Richtertisch getreten zu sein.
»Hallo«, ihre Stimme klang dünn. Das wurde wenigstens erwidert, und Peter forderte sie auf, sich doch zu setzen. Zum Glück, konnte man nur sagen, denn Nicki hatte ganz weiche Knie und war froh, sich setzen zu dürfen.
Maren sprang auf, brachte ihr unaufgefordert ein Glas Wasser, ehe sie sich wieder hinsetzte.
Alle blickten sie erwartungsvoll an, und Nicki wusste, dass es jetzt an ihr war, sich zu erklären.
Sie begann, von sich zu erzählen, wie ihr Leben bisher verlaufen war, wie schön es war, ihnen zu begegnen.
Sie blickte die Bredenbrocks der Reihe nach an.
»Ihr müsst mir glauben, dass es eine Bereicherung für mich war, ich habe die Wochenenden genossen, ich liebe euch alle. Aber kein Mensch kann über seinen Schatten springen. Ich kann auf Dauer kein Teil von euch werden, weil ich die Verantwortung nicht tragen kann. Ich komme nicht einmal mit mir selbst zurecht, wie soll ich es dann mit anderen können? Man kann Fremdsprachen lernen, kochen, nähen, meinetwegen auch Möbel restaurieren. Menschen sind keine Gebrauchsgegenstände, sie sind nicht in einen Topf zu werfen. Familie kann man nicht lernen, in die muss man hineinwachsen. Vielleicht können das manche Leute. Ich kann es nicht, mich überfordert es, und mit einer solchen Haltung darf man sich auf so etwas nicht einlassen, das wäre unaufrichtig.«
Sie machte eine kurze Pause.
»Ich wollte, es wäre alles anders gekommen«, fuhr sie dann leise fort.
Sie blickte Peter an, der bislang kein einziges Wort gesagt hatte, niemand von ihnen hatte geredet.
»Peter, vermutlich hast du Maren und Tim erzählt, dass ich deinen Heiratsantrag abgelehnt habe.«
Die Reaktion zeigte, dass es so war, deswegen wandte Nicki sich jetzt an die Kinder.
»Es hat nichts mit euch zu tun. Ich hätte euren Vater auch nicht geheiratet, wenn es euch nicht gäbe …, ich glaube, ich werde niemals heiraten …, ich habe Angst vor Bindungen. Tja, nun wisst ihr alles, und ich wünsche mir sehr, dass ihr nicht zu sauer auf mich seid.«
Nach diesen Worten war es still.
»Aber es war doch so richtig schön mit uns«, sagte Tim schließlich.
»Ja, Tim, das war es. Aber es reicht nicht für ein Zusammenleben, ich war eher so etwas wie eine Verwandte, eine Freundin, die zu Besuch kam.«
»Wenn es den Besuchern so richtig gut gefällt, dann können sie auch bleiben, müssen nicht wieder gehen«, wandte Maren ein. Ihr war anzusehen, wie enttäuscht sie war. Doch Nicki hoffte, dass es ihr gelungen war, Nicki von dem Gedanken wegzubringen, in ein Internat zu gehen, um das Lebensglück ihres Vaters zu retten.
Jetzt begannen sie, alle miteinander zu reden.
Die Bredenbrocks waren alle liebenswert!
Nicki fühlte sich in deren Gesellschaft unendlich wohl, dennoch wusste sie, dass sie sich richtig entschieden hatte. Es wäre nicht gegangen. Irgendwann hätte sie es nicht mehr ausgehalten, und dann hätte sie einen viel größeren Schaden angerichtet. Das hatten sie nicht verdient.
Unter anderen Umständen wäre sie gern als Freundin geblieben, doch das ging jetzt nicht mehr. Dazu waren Peter und sie sich viel zu nahe gekommen. Nicki wusste nicht, was sie in ihm gesucht hatte. Ohne die Kinder wäre er vermutlich