Roboter träumen nicht. Lee Bacon

Roboter träumen nicht - Lee Bacon


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ergibt sich:

      Wir Roboter sind den Menschen überlegen.

      Diese Formel ergab deutlich mehr Sinn. Sie musste zutreffen. Alles andere wäre nicht zu erklären gewesen.

      »Dein Einwand ist von überraschend zwingender Logik«, sagte ich zu Emma. »Für einen Menschen.«

      Sie fixierte das Zielerfassungsgerät. »S-soll das heißen, du willst mich nicht mehr mit dem Ding da abknallen?«

      Ich hakte das Gerät wieder in die Halterung ein. »Da ich ausschließen kann, dass du eine Bedrohung für unsere Gesellschaft darstellst, sehe ich keinen Grund, dich zu bedrohen.«

      Emma atmete seufzend aus. »Super, danke!«

      »Gern geschehen. Trotzdem habe ich ein Verständnisproblem. Wenn du ein Mensch bist, wieso bist du dann noch am Leben?«

      »Ähhhm … na ja.« Emma grub den Absatz ihres Stiefels in den Boden. »Das ist eine längere Geschichte.«

      Auf SkDs Monitor blinkte seine Reaktion.

      Ceeron betätigte sich als Übersetzer. »SkD möchte wissen, ob du deine Geschichte erzählen willst.«

      Emma kaute auf ihrer Unterlippe. »Sie geht aber nicht gut aus.«

      »Wir würden sie trotzdem gerne hören«, erwiderte ich.

      Da rollte SkD ruckartig vor/zurück/vor/zurück – seine Variante eines zustimmenden Nickens.

      »Na gut.«

      Emma atmete tief ein. Dann erzählte sie uns ihre Geschichte.

      00010100

      Anfang. Mitte. Ende.

      Nach dieser grundlegenden Formel sind Geschichten aufgebaut. Sie verlaufen geradlinig vom Start bis zum Ziel.

      Wir Roboter können nicht behaupten, diese Formel erfunden zu haben. Das waren die Menschen. So wie sie auch uns erfunden haben. Über Tausende von Jahren feilten sie an dieser Formel. An Lagerfeuern. Auf Theaterbühnen. Auf Buchseiten und Kinoleinwänden. Oder sie erzählten sich selbst Geschichten. Geschichten, die so gut wie immer nach der gleichen Formel aufgebaut waren.

      Anfang. Mitte. Ende.

      Emmas Geschichte war die Ausnahme. Die Erzählung, die sie uns mit brüchiger Stimme vortrug, sprang vom Ende zum Anfang zur Mitte und nahm dabei einige Umwege.

      Ich analysierte ihr Verhalten, ihre Sprachmuster. Und ich gelangte zu einer Schlussfolgerung: Emma war nervös. Das konnte ich nachvollziehen. Ich hätte sie beinahe als auszulöschendes Ziel markiert gehabt.

      Kein Wunder, dass sie sich schwertat, ihre Geschichte ruhig wiederzugeben.

      Während sie erzählte, ordnete ich ihre Worte im Kopf neu an. Ich flickte die zerfaserten Handlungsfäden und passte sie so in eine Formel ein, die meinem logisch denkenden Gehirn entsprach. Wo offensichtlich etwas fehlte, fragte ich nach. Ich ergänzte Details, erweiterte um Hintergrundinformationen, füllte Lücken.

      Mit der Zeit wurde eine ordnungsgemäße Geschichte erkennbar. Eine Geschichte mit einem Anfang, einer Mitte und einem Ende.

      Das Ergebnis lautete:

      Emma wurde in eine unterirdische Welt geboren. Es war eine Welt aus grauen Wänden, grauen Böden und grauen Zimmerdecken. Eine Welt fernab vom Sonnenlicht. Diese Welt hatte einen einfachen Namen:

      Der Bunker.

      Neben Emma lebten noch weitere Menschen im Bunker.

      Emma kannte sie alle beim Namen.

      Der Bunker bestand aus einem weitläufigen Netz aus Korridoren und Kammern. All das war tief unter der Erdoberfläche vergraben. Verborgen vor den Robotern.

      Sobald sie etwas größer war, begann Emma, nachts ihre Untergrundwelt zu erkunden. Während ein Großteil ihrer Mitmenschen schlief, hallten Emmas Schritte durch die engen Flure des grauen Labyrinths.

      Sie wanderte hinüber zum Klassenzimmer. Tagsüber hatte sie dort Unterricht, jetzt war sie ganz allein – ein seltsames Gefühl. Ohne die Stimmen ihrer Mitschüler, ohne die der vorne postierten Lehrerin herrschte gespenstische Stille. Emma strich mit den Fingerspitzen über die Bücher in den Regalen, den Blick auf die Tafel gerichtet, wo vielleicht noch der eine oder andere verwischte Schatten ausgelöschter Wörter/Zahlen/Skizzen auszumachen war, Geister einer vergangenen Schulstunde.

      Als Nächstes kam ein Raum voll heißer Luft, feucht und stickig von den Pflanzen, die dort in akkuraten Reihen unter Sonnenlichtlampen wuchsen. Emma tauchte gerne in das kräftige Grün der Blätter ein, es war so viel angenehmer als das übliche öde Grau. Jede Nacht spazierte sie an den Gewächsen entlang und las die Schildchen mit den Namen.

      KARTOFFELN

      KICHERERBSEN

      CHAMPIGNONS

      SCHWARZE BOHNEN

      SPINAT

      Ein Raum etwas weiter hinten war stets erfüllt von rastlosem Wirbeln. Steckte sie den Kopf zur Tür hinein, sah Emma dort selbst mitten in der Nacht ein Dutzend Erwachsene auf stationären Fahrrädern sitzen. Strampelnde Beine, rotierende Räder, und doch kamen sie nicht vom Fleck.

      Wer sein ganzes Leben im Untergrund verbringt, hat oft Schwierigkeiten, sich ausreichend zu bewegen. Eine Lösung für dieses Problem sind stationäre Fahrräder.

      Daneben dienten sie dazu, ein anderes Problem zu lösen: das des elektrischen Stroms. Jede Umdrehung eines Rades erzeugte Strom für den Bunker.

      Für das elektrische Licht.

      Für die Belüftungsanlage.

      Für die Wasseraufbereitungs- und Filtersysteme.

      Auf ihren Erkundungsstreifzügen malte Emma sich aus, sie wäre eine Abenteurerin aus einem alten, längst vergangenen Zeitalter. Diese Epoche kannte Emma nur aus den Büchern, die sie andauernd las, und aus den Geschichten, die die Erwachsenen ständig erzählten.

      Damals hatten die Menschen an der Oberfläche gelebt.

      Dass sie diesen Ort jemals mit eigenen Augen sehen würde, daran glaubte Emma nicht. Die Oberfläche. Sie erschien ihr so weit entfernt, unendlich weit. Emma kannte nur den Bunker und sonst nichts. Der Bunker war ihre Welt.

      Doch eines Tages zerbrach diese Welt.

      00010101

      Emmas Stimme versiegte und verstummte. Ihre Unterlippe zitterte. Ihre Augen wurden gläsern. Ein einzelner Tropfen Flüssigkeit glitt über ihre Wange.

      In meinem Vokabelspeicher blinkte eine Definition.

      Träne. Subst. Tropfen einer Flüssigkeit, die im Zuge des Weinens aus dem menschlichen Auge austritt. Hervorgerufen durch Reizung des Auges oder durch Gefühle wie Trauer und Wut.

      Ein Phänomen, das nicht eindeutig zugeordnet werden konnte. War Emmas Auge gereizt, war womöglich ein Staubkorn hineingeraten? Meine hochauflösenden Bildsensoren konnten nichts dergleichen ausmachen. Deswegen tippte ich auf die zweite Möglichkeit.

      Emma war traurig.

      Oder wütend.

      Oder beides zugleich?

      SkD piepte leise.

      Auf seinem Monitor leuchteten zwei Bilder.

      Emma wischte sich über das Gesicht. »Du willst wissen, warum ich weinen muss?«

      SkD nickte.

      3,4


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