Roboter träumen nicht. Lee Bacon

Roboter träumen nicht - Lee Bacon


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eigentlich nie.

      Der Zaun wurde regelmäßig auf die eine oder andere Weise beschädigt. Er wurde von heftigem Wind aus dem Boden gerissen, von großen Tieren umgerannt, von kleinen Tieren angeknabbert.

      Nager buddelten sich darunter hindurch.

      Vögel flogen darüber hinweg.

      Allen Anstrengungen zum Trotz fand immer wieder das eine oder andere Tier einen Weg in den Solarpark. Und an ihrem Ziel angekommen, stellten sie alles Mögliche an.

      Sie knabberten an Drähten.

      Sie kratzten an offen liegenden Schaltkreisen.

      Sie kackten auf Solarpanels.

      Ich unterbrach meine Arbeit und machte mich auf den Weg zur Speicherstation.

      Dort hatte ich den Schatten zuletzt gesehen. Sollte es sich tatsächlich um ein Tier handeln, würde ich mich an das Standardverfahren halten.

      [1]Zielerfassungsgerät hervorholen.

      [2]Anvisieren.

      [3]Abzug betätigen.

      So würde ich die unzulässige LebensForm scannen und als Ziel markieren. Eine entsprechende Meldung mit Ortsangabe würde an die JagdBots gehen. Das als Ziel markierte Tier würde aufgespürt und eliminiert werden.

      Damit wäre das Problem gelöst.

      Doch als ich die Speicherstation erreicht hatte, konnte ich mich plötzlich nicht mehr bewegen.

      Als hätte sich mein Akku auf einen Schlag entleert.

      Als wären meine Systemprozesse lahmgelegt worden.

      Hinter der Speicherstation kauerte ein erstaunliches Wesen.

      Es hatte keine Ähnlichkeit mit den Tieren, die ich üblicherweise im Solarpark entdeckte.

      Es war nicht möglich.

      Es war ein Mensch.

      00010000

      Nur dass es kein Mensch sein konnte.

      Die Menschen waren ausgestorben. Den letzten Vertreter ihrer Art hatten wir vor dreißig Jahren eliminiert. Diese Tatsache war tief in meine Programmierung eingeprägt, mit meinem Code verwoben.

      Auf der Erde gab es keine Menschen mehr.

      Doch wenn das kein Mensch war, was war es dann?

      Ich nahm die fremdartige LebensForm genau in Augenschein. Für einen Menschen wäre diese LebensForm recht klein gewesen. Als sie sich erhob, befand sich ihr Kopf auf Höhe des Strichcodes auf meiner Brustplatte.

      Ich analysierte ihre Gesichtszüge.

      Haare: braune Wellen bis zu den Schultern.

      Augen: grün/braun, erwidern mein Starren.

      Wangen: gesprenkelt von Sternbildern aus Sommersprossen.

      Die beiden Hände waren jeweils mit fünf Fingern ausgestattet, darunter je ein Daumen. Als mein Blick die Fingernägel erfasste, flammte in meinem Gedächtnisspeicher eine Erinnerung auf. Es war eine Erkenntnis von Tag[1]: Die Menschen hatten ihre Fingernägel poliert und mit Farbe dekoriert.

      Diese LebensForm tat das nicht.

      Ihre Fingernägel waren kurz/ungleichmäßig/schmutzig.

      Sie sahen aus wie von einem wilden Tier angenagt.

      Aus dieser Beobachtung ließ sich eine logische Formel ableiten:

      Diese LebensForm dekoriert ihre Fingernägel nicht.

      Daraus ergibt sich:

      Sie ist nicht eitel.

      Daraus ergibt sich:

      Sie kann kein Mensch sein.

      Doch warum trug sie dann Menschenkleidung?

      Warum hatte sie menschliche Gesichtszüge?

      In Gedanken ließ ich ein Dutzend alternativer Algorithmen durchlaufen. Keiner davon lieferte eine zufriedenstellende Antwort.

      Die Kreatur vor meinen Augen war ein Paradox.

      Zwei widersprüchliche Tatsachen trafen gleichermaßen zu.

      [1]Die Menschen sind ausgestorben.

      [2]Vor mir steht ein Mensch.

      Beide Aussagen waren wahr/falsch.

      Beide Aussagen waren möglich/unmöglich.

      Meine Gedanken rasten in einer Endlosschleife aus absurder Logik dahin. Bis das Paradox auf einmal den Mund öffnete und etwas sagte.

      00010001

      »Bitte tu mir nichts.«

      Diese Worte sagte das Paradox mit leiser, zittriger Stimme. Es starrte aus grünen/braunen Augen zu mir hinauf. Kehrte die Innenseiten seiner Hände nach außen, wie um mir zu zeigen, dass sich darin nichts befand.

      Währenddessen war zu hören, wie meine Kollegen hinter mir weiter ihren Aufgaben nachgingen. Das WRRRRRMMMM!, wenn SkD von Ort zu Ort rollte. Das schwere KA-KLONK!, wenn Ceeron ein Solarpanel einrasten ließ.

      Von dem Paradox wussten sie nichts. Noch nicht.

      Wie würden sie darauf reagieren?

      Ich zögerte 0,3 Sekunden lang.

      Dann sagte ich: »Was bist du?«

      Das Paradox presste eine Hand auf seinen Brustkorb. »Ich heiße M.A.«

      Ich betrachtete es verwundert. »M.A.?«

      Das Paradox schüttelte den Kopf und wiederholte seine Antwort langsamer, wobei es die beiden Silben diesmal deutlich hörbar miteinander verband. »Emmmmma.«

      »Emmmmmmmmma?«

      »Emma.«

      Ich passte meine Sprachausgabe an und versuchte es noch einmal. »Emma.«

      Das Paradox nickte. Auf seinen Lippen zeichnete sich die Andeutung eines Lächelns ab. »Ich bin zwölf. Wie alt bist du?«

      »Ich bin ebenfalls zwölf.«

      Das Lächeln wurde größer. »Dann sind wir ja genau gleich alt!«

      Ich ergänzte Emmas Profil um diese neue Information. Emma war noch ein Kind. Damit war geklärt, wieso Emma so klein war. Im Gegensatz zu Robotern wachsen Menschen mit den Jahren.

      »Bist du männlich oder weiblich?«, fragte ich das Paradox.

      »Weiblich«, antwortete Emma.

      Erneut ergänzte ich die Datei.

      »Wie heißt du?«, fragte sie.

      »XR_935.«

      Emma wiederholte meinen Namen leise. Dann wollte sie anscheinend wieder etwas sagen, doch sie machte keinen Laut. Ihr Lächeln verschwand, verdrängt von einem anderen Gesichtsausdruck: weit aufgerissene Augen. Sie blickte nicht mehr mich an. Stattdessen nahm sie den Bereich hinter mir in den Fokus. Als ich mich umdrehte, sah ich, was ihre Aufmerksamkeit erregt hatte.

      Ceeron.

      Der wuchtige Bot näherte sich schnell. Stampfte mit seinen gewaltigen Metallbeinen über den Boden. Schwang seine gewaltigen Metallarme.

      Emma stolperte zurück. Sie wollte vor dem Roboterriesen fliehen. Weit kam sie allerdings nicht, denn da schlingerte ihr SkD in den Weg.

      Trotz seiner viel geringeren Größe wirkte SkD vermutlich kaum weniger Furcht einflößend. Staub wirbelte von seinen Gummiketten auf. An seinen ausgefahrenen Mechanikarmen klackten Metallklauen.

      Auf seinem Monitor wiederholte sich immer wieder ein/dasselbe Symbol.


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