Roboter träumen nicht. Lee Bacon
daran ändern kann.«
Ich rechnete beinahe damit, dass sie ihre Erzählung an diesem Punkt beenden würde. Stattdessen schluckte sie und fuhr fort.
Eines Nachts lag Emma in dem kleinen, engen Zimmer, das sie sich mit ihrer FamilienEinheit teilte, und schlief. Da hörte sie ein Geräusch aus der Dunkelheit.
Ein Husten.
Gefolgt von einem weiteren Husten.
»Mom?« Emma richtete sich in ihrem Bett auf. »Alles okay bei dir?«
Emmas Mutter, die etwa einen Meter entfernt in der unteren Schlafkoje lag, versuchte zu antworten.
Stattdessen hustete sie erneut.
Am nächsten Morgen waren sowohl Emmas Mutter als auch ihr Vater krank. Husten/Heiserkeit/Kopfschmerzen.
»Ihr bleibt hier«, sagte Emma. »Ich gehe Hilfe holen.«
Sie verließ das kleine Zimmer. Das Tapsen ihrer Füße auf dem grauen Boden. Dieses Mal machte sie nicht halt, um den einen oder anderen Raum zu erkunden. Sie hatte ein klares Ziel vor Augen.
Die Krankenstation.
Hierhin musste man, um sich vom Arzt durchchecken zu lassen, oder wenn man Zahnschmerzen hatte oder wenn man in der Cafeteria ein Rad geschlagen und sich dabei das Handgelenk verstaucht hatte.
Nach der nächsten Biegung des Ganges sah Emma dicht gedrängte Menschen. Alle liefen sie in dieselbe Richtung: zur Krankenstation. Alle husteten/schnieften sie wie Emmas Eltern.
Aufmerksam lauschte Emma darauf, wie die Erwachsenen untereinander tuschelten.
»Was glaubst du, was hier los ist?«
»Sieht mir nach der Grippe aus.«
»Wäre aber ein heftiger Ausbruch.«
»Ist doch kein Wunder. Wo wir hier alle reingequetscht sind wie Sardinen in einer Dose. Da muss nur einer niesen und der halbe Bunker ist krank.«
Die Gespräche wurden immer wieder von Hustenanfällen unterbrochen. Einige Erwachsene kamen zu dem Schluss, dass sie in ihrem Zimmer, in ihrer Schlafkoje besser aufgehoben wären.
»Das sitzen wir aus«, keuchte einer von ihnen. »Früher oder später wird es schon vorbeigehen.«
Die Seuche ging aber nicht vorbei. Sie wurde schlimmer. Das ärztliche Personal konnte sich kaum um die vielen Hilfe suchenden Menschen kümmern. Nicht zuletzt, weil sich diejenigen, die auf der Krankenstation arbeiteten, selbst kaum weniger krank fühlten. Nicht zuletzt, weil ihnen die antiviralen Medikamente, die sie für den Kampf gegen die Krankheit benötigt hätten, bereits vor langer Zeit ausgegangen waren.
Am nächsten Tag litt jede und jeder unter den typischen Beschwerden.
Nur Emma nicht.
Sie hatte keine Ahnung, warum sie von der Krankheit verschont blieb. Warum sie sich rundum gesund fühlte, obwohl sie die feuchte Hand ihrer Mutter gehalten hatte und obwohl sie ihrem fiebernden Vater einen kalten Waschlappen auf die Stirn gepresst hatte.
Verließ sie das kleine, enge Zimmer, fand Emma sich allein in den grauen Gängen wieder. Tiefe Stille, gelegentlich durchbrochen von gedämpftem Husten hinter geschlossenen Türen.
Der Unterricht fiel aus.
In der Cafeteria wurde kein Essen mehr ausgegeben.
Im Fahrradraum war es ruhig.
Nur das hartnäckige Husten war zu hören.
Bis auch das abebbte.
Bei Ausbruch der Seuche hatten insgesamt 93 Menschen im Bunker gelebt. Binnen Tagen wurden es weniger.
Emmas Lehrerin. Ihr Arzt. Ihre Nachbarn. Ihre Mitschüler. Ihre beste Freundin.
Die Krankheit nahm sie ihr alle weg.
Schließlich auch ihre Mutter und ihren Vater.
Am Ende lebte nur noch ein Mensch im Bunker.
Emma.
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Anfang. Mitte. Ende.
Die grundlegende Formel einer jeden Geschichte. Auch Emmas Erzählung, ihre von Kummer und Angst gezeichneten Worte, brachte ich in diese Form. Ich passte sie in eine Formel ein, die meinem logisch denkenden Gehirn entsprach. Mit einem Anfang, einer Mitte –
Und einem Ende.
Das aber nicht nur das Ende von Emmas Geschichte war.
Es war das Ende von allem, was sie je gekannt hatte.
Das Ende ihrer Untergrundwelt.
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»Ich habe es nicht mehr ausgehalten im Bunker. Weil …« Emmas Stimme zitterte. Sie musste schlucken und neu ansetzen. »Wegen allem. Deshalb bin ich gegangen. Heute. Und dann … na ja … dann bin ich euch begegnet.«
Ich war unsicher, wie ich reagieren sollte. Schließlich hatte ich gerade zum ersten Mal Kontakt mit einem Menschen. Emmas Gefühle, die Traurigkeit, die in ihren Worten mitschwang, stellten mich vor ein Rätsel.
Glücklicherweise war Ceeron für diese Situation besser gerüstet. Seit Jahren stellte der große Roboter Nachforschungen über die Rituale der Menschen an. Über ihre Angewohnheiten, ihre Sprichwörter, ihre irritierenden Scherze.
Jetzt füllte er die Stille mit seiner tiefen Stimme.
»Mein Beileid«, sagte er.
Diese beiden Worte quittierte Emma nickend. »Danke.«
»Was hast du jetzt vor?«, fragte ich. »Wohin willst du?«
»Ich zeig’s euch.« Sie hob einen Stoffhaufen auf, der bisher zu ihren Füßen gelegen hatte. Als sie ihn über ihre Schulter warf, erkannte ich, worum es sich handelte.
SkD erkannte es ebenso. Er zeigte darauf und sein Monitor blinkte.
Emmas Lippen zuckten. Die Andeutung eines Lächelns. »Stimmt. Das ist ein Rucksack.«
»Ich habe auch einen«, meinte Ceeron.
»Deiner ist aber ein bisschen größer«, stellte Emma fest.
Ich schlug das Wort Rucksack in meinem Vokabelverzeichnis nach. »Ich dachte, Rucksäcke wären von menschlichen Schulkindern getragen worden.«
»Stimmt ja auch.« Emma zog einen der Gurte fest. »Das ist nur eine ganze Weile her.«
Ich verstand es immer noch nicht. »Aber wenn du nicht zur Schule gehst, wozu brauchst du dann einen Rucksack?«
»Für meine Ausrüstung.«
Auf SkDs Monitor leuchteten Symbole.
»Doch nicht für solche Ausrüstung«, erwiderte Emma. »Für Proviant, Wasser, einen Kompass.«
Ich wiederholte die Aufzählung im Kopf, speiste sie in meine Datenverarbeitung ein. »Du willst also eine Reise unternehmen?«
Emma nickte. »Hab einen weiten Weg vor mir.«
»Wohin willst du?«, erkundigte Ceeron sich.
Sie zog einen Fetzen Papier aus ihrem Rucksack. Die Ränder waren zerschlissen/eingerissen/abgegriffen, die Farben ausgeblichen. Ich glich das Objekt mit meiner Bilddatenbank ab.
Es war eine Landkarte.
Darauf waren menschengemachte und geografische Orientierungspunkte wie Straßen/Städte/Seen/Flüsse/Berge gedruckt.