Maybelline. Taylor Brown
Name ist Kingman. Es heißt, er hat ein paar Countys oben in Virginia völlig trockengelegt. Ist nicht zimperlich im Umgang. Soll mal bei der Army gewesen sein. Sondereinheit und so.« Eli schüttelte den Kopf. »Bist in schwierigen Zeiten nach Hause gekommen.«
Rory ließ seine Zigarette auf den Boden fallen und trat sie mit seinem heilen Fuß aus.
»Wenigstens bin ich zu Hause«, sagte er. »Größtenteils jedenfalls.«
8
Im Dunkeln und ohne Taschenlampe erklomm er den Berg, eine Welt in Schwarz, Blau und Silber. Das blasse Mondlicht fiel diffus zwischen den Laubbäumen hindurch, und der Wind erhob sich zwischendurch und pfiff durch die Bäume. Der Pfad führte bis zum Gipfel hinauf, den man nur erahnen konnte. Darüber ein Meer aus Dunkelheit und eine seltsame Sternenornamentik.
Er traf Granny schlafend auf der Veranda an. Ihre Stricknadeln lagen in der flachen Mulde zwischen ihren Knien und der teilweise abgewickelte Garnball zwischen ihren großen Männerstiefeln. Die Pfeife lag auf dem Tisch neben ihr, aus dem Kopf war Asche gerieselt. Ihr Kinn lag auf ihrer Brust und hob und senkte sich mit jedem Atemzug. Er nahm sie hoch, leicht wie ein Mädchen, und trug sie in ihr Zimmer. Dort bedeckte er sie mit ihrer alten Steppdecke, die sie geerbt hatte. Die äußeren Schichten waren im Laufe der Jahrzehnte unter dem schlafenden Körper speckig geworden, während die Füllung noch immer aus älteren Decken bestand. Er steckte sie unter ihren Füßen, Ellbogen und Schultern fest, ging hinaus und öffnete die Klappe des Holzofens. Ein Maul voller glühender Kohlen. Er legte zwei Scheite Weißeiche hinein, die sie auf der Veranda aufgeschichtet hatten, heiß brennendes Holz für kalte Nächte, und sorgte dafür, dass es brannte, bevor er ging.
Im Westen zog ein Sturm auf. Er konnte ihn auf der anderen Bergseite hören, wo er sich wie ein Meeresgeist gegen den rauen Granit warf. Er trat von der Veranda und blickte zum Gipfel hinauf. Der Himmel leuchtete blauweiß auf, ein flüchtiger Schimmer, der im Kontrast zu dem gezackten und dunklen Berg stand, ein Schutzschild gegen den Schnee und Regen, die von den Bergkämmen und den Tälern im Westen her kamen. Der Wind pfiff vom Berg herab und strich kalt über die Wiese, und er musste an Korea denken. An den Changjin-Stausee, den Herbst 1950. Die unwirtlichste Landschaft, die man sich vorstellen konnte, nur Schnee und Felsen und verkohlte Bäume auf den gefrorenen Feldern und den steilen Pässen von Toktong und Funchilin. Ein Land, scheinbar dafür geschaffen, dass Menschen dort starben.
Was sie auch taten.
Eine Kaltfront aus Sibirien mit siebenunddreißig Grad minus und siebenundsechzigtausend chinesische Infanteristen aus der Mandschurei rückten heran. Die 1. Marineinfanteriedivision war weder auf das eine noch auf das andere vorbereitet. Rory war während der gesamten siebzehn Tage dort. Auch während der siebzehn Nächte. Wenn bei den nächtlichen Ausleuchtungsrunden der Himmel erstrahlte, konnte man die Chinesen die Hänge herunterkommen sehen, die sich aus Bachbetten und Gräben erhoben hatten wie Hornissen, die von einem Bodennest ausschwärmten. Dann Dunkelheit, Blitze, Schreie. Am Morgen waren die Bergkämme dunkel und das Blut hart wie Stein. Die Marines bauten aus den gefrorenen Leichen einen Wall und warteten auf die darauffolgende Nacht. Als ihre Waffen wegen der Kälte blockierten, kämpften sie mit Messern und Schaufeln und Steinen. Die chinesischen Infanteristen waren jung, und sie trugen keine Helme.
An seinen ersten Getöteten erinnerte sich Rory am deutlichsten, und er suchte ihn nach wie vor im Schlaf heim. Er und Sato und vier weitere hatten sich hinter einer Felsnase am Rand eines schmalen Hohlwegs verschanzt. Die Kompanien auf den Hängen wurden in die Luft gesprengt und drängten sich zur Verteidigung in Gruppen zusammen. Es war nach Mitternacht, und die meisten ihrer Gewehre waren unbrauchbar, das Waffenöl im Schloss gefroren, der Schlagbolzen festgeklemmt. Sie hörten das Pfeifen chinesischer Offiziere und sahen, wie die feindliche Infanterie aus der Deckung kam, um anzugreifen. Die Soldaten strömten den fernen Hügel hinunter; ihre Maschinenpistolen erzeugten sternförmige Blitze in der Dunkelheit, ihre Reihen bestens ausgestattet mit Messern und Knüppeln und Steinen. Die orangefarbenen Leuchtfeuersalven aus den schweren Maschinengewehren fraßen sich in sie hinein, und ihre Körper barsten in rosa Wolken und Schreien. Ein paar von ihnen, die sich auf den Hang zurückziehen wollten, wurden von eigenen Offizieren niedergeschossen, der Rest kletterte über die Toten hinweg, die alle seltsam verrenkt im Bachbett lagen, und bahnten sich kriechend einen Weg hinauf zu den Marines.
Rory hielt sein Schanzzeug bereit. Er hatte es den ganzen Tag an einem Felsen geschliffen. Er rollte sich auf den Rücken, gegen die Felsnase gepresst, das Werkzeug dicht vor seiner Brust. Er blickte zu Sato hinauf, der ihnen das Signal zum Angriff geben sollte. Während sie tagsüber ihre Werkzeuge schärften, sprachen sie über den Urlaub, den sie nach dem Krieg nehmen wollten. Keiner von ihnen war je an einem Strand gewesen. Sie wollten nach Daytona, Florida, um Stockcarrennen am Strand und auf der Rennstrecke zu sehen, wo Wagen zwei Meilen den Highway A1A entlangrasten, bevor sie seitwärts auf den Strand schlitterten und Sand aufwirbelten. Sie wollten ein Zimmer in dem mintgrünen Streamline Hotel buchen und im Ebony Club im Dachgeschoss Cocktails trinken. Die Sonne würde sie in goldenes Licht tauchen; das würde ihr Knochenmark erwärmen. Sie würden sich kaum noch daran erinnern, wie es sich anfühlte, zu frieren. Sie redeten pausenlos, während sie ihre Schaufeln zu Speeren schliffen.
Sato hob den Kopf über den Felsvorsprung, um den Vormarsch zu überprüfen. Seine Stirn wurde gespalten, und sein Helm flog mit einem Klong davon. Rory drehte sich um und richtete sich auf Knien auf, die Schaufel über dem Kopf. Ein chinesischer Infanterist lag vor ihm auf dem Bauch und blickte mit offenem Mund und aufgerissenen Augen zu ihm hoch. Ein Kind noch. Überrascht über das, was er getan hatte. Rory stieß dem Jungen die Schaufelspitze in den Schädel. Er war überrascht, wie leicht sie durch den Scheitelknochen drang und die klebrige Masse einen dunklen Fleck auf der Pelzmütze bildete. Er hatte nicht geglaubt, dass es so leicht sein würde. Er zog das Maschinengewehr unter dem Jungen hervor und schoss eine Salve auf die anderen ab, die den Hang herunterkamen, wobei er betete, dass es nicht klemmte. Als das Trommelmagazin leer war, griff er wieder nach seiner Schaufel.
Es folgten weitere, Männer und Jungen, aus nächster Nähe getötet, aber er konnte sich nicht an sie erinnern. Nicht genau jedenfalls. In seiner Vorstellung sahen sie alle gleich aus. Er hielt das für einen großen Segen. Er glaubte nicht, dass er sich an jeden Einzelnen hätte erinnern können, ohne zu zerspringen. Er konnte sich nur an Sato erinnern, dessen Kopf zerklüftet gewesen war wie ein Stein. Es war kaum Blut ausgetreten; es gefror innerhalb des Schädels. Sie wollten ihn begraben, doch der Boden war zu hart.
Drei Tage später kam im Morgengrauen eine einzelne Stielhandgranate über die Linie geflogen, mit einem hölzernen Stiel wie bei einer Pfeffermühle. Sie prallte vom gefrorenen Boden ab, und Rory warf sich hinter eine Schneewehe. Die Welt zerbarst, und ihre Fragmente durchfuhren seine empfindlichsten Körperteile. Er hatte nicht gewusst, dass es einen solchen Schmerz im Leben gab. Er dachte, sein Bein sei weg.
Noch nicht.
Er lag in betäubender Stille da und schrie, und ein Sanitäter tauchte kreidebleich über ihm auf, eine Morphiumsyrette zwischen den Zähnen. Die Sanitäter legten sie sich unter die Zunge, damit sie nicht gefror. Der Mann beugte sich über Rorys Bein und schüttelte den Kopf. Rory beging den Fehler, den Kopf zu heben und den blutigen Fetzen aus Fleisch und Leder, der einmal sein Fuß gewesen war, anzuschauen. Er drehte den Kopf weg, entsetzt von dem, was mit ihm geschehen war.
Der Sanitäter nahm die Syrette aus seinem Mund. Er zog die durchsichtige Plastikkappe ab und durchstach das Siegel mit der Nadel. An der Nadelspitze bildete sich eine Blase aus Flüssigkeit. Er öffnete Rorys Übermantel und zog Schichten von Pullovern und Unterhemden hoch, um einen weißen Streifen von seinem Bauch freizumachen. Er stach in die Haut und ließ die Nadel schräg ins Fleisch gleiten, wobei er den weichen Kolben mit dem Rauschmittel hinunterdrückte. Dann zog er Rorys Kleidung wieder zurecht, knöpfte seinen Mantel zu und befestigte die leere Syrette an seinem Kragen. Er hüllte die Wunde in Gaze und Verbände, mit Stiefel und allem, und rief, dass das alles sei, was er tun könne.
Als das Morphin zu wirken begann, war es wie eine dunkle Welle, die ihn von dort wegtrug. Rory war da und doch wieder nicht. Der Schmerz