Maybelline. Taylor Brown
Mann die Tür aufmachte. Die Gesichter der Jungen waren blass gewesen. Sie hatten sich unablässig bei ihm bedankt. Schließlich waren sie mit knatterndem Auspuff zwischen den Bäumen hindurch davongebraust.
Erst nachdem sie verschwunden waren, bemerkte Rory, dass sie – oder jemand anders – seine Reifen aufgeschlitzt hatten. Er stieß einen mit dem Zeh an, als würde er sich davon wieder auffüllen.
»Mist.«
Er ging zur Tür des Hurenhauses. Verriegelt. Niemand kam, als er dagegenschlug. Er fragte sich, was in dem Drink gewesen war, den sie ihm hatten geben wollen. Er blickte über die Straße: eine alte Sinclair-Tankstelle, die schon seit Jahren geschlossen war. Die Fenster waren mit Zeitungspapier zugeklebt, weshalb man nicht hineinsehen konnte. Die grünen Sinclair-Dinosaurier auf den Schildern sahen aus, als würden sie zerlaufen. Ein kleiner Bau, der normalerweise dunkel war, wo heute Abend jedoch die Fenster pulsierten und Schatten sich hinter dem angestrahlten Zeitungspapier bewegten. Die Luft bebte vom Klang der Musik.
Er ging darauf zu. Zwei Zapfsäulen standen davor, schwerkraftgetrieben, jede mit einer Glaskugel obendrauf. Die eine war kaputt, war nur noch eine Schale mit gezackter Kante. Die andere war mit brauner Flüssigkeit gefüllt. Regenwasser vielleicht. Kein Whiskey. Dann hätte ihn schon jemand getrunken.
Er überquerte die Straße, wobei der Kies unter seinen Stiefeln knirschte. Die Werkstatttore waren geschlossen, und die papierverklebten Fenster leuchteten. Schatten fielen auf die Lichtstreifen, hoben und senkten sich, taumelten und wankten wie züngelnde Flammen. Die Luft summte und knisterte. Etwas Wildes, Verstörtes lag darin. Etwas Elektrisches. Gedämpfte Tamburine und eine jaulende Stahlsaitengitarre durchdrangen die Luft. Stark vibrierendes Metall und kreischende Saiten, ein Jaulen und Lärmen, als würde das Ende der Welt verkündet, jedoch lebendig und die Fersen beflügelnd. Er konnte beinahe sehen, wie die Musik sich in wild zuckenden weißen und goldenen Blitzen entlud, als er sich dem Ort näherte, und Worte gab es auch, geheult, gekreischt und gesungen. Ein paar kannte er, andere nicht, ein paar waren in einer fremden Sprache. Trotzdem wusste er, was sie bedeuteten. Wovon sie erfüllt waren.
Von Lobpreisung.
»Das hier ist wahr!« Die Haare des Priesters waren mit Gel zu einem Ducktail zurückgestrichen, und sie waren rabenschwarz, obwohl sein Gesicht alt war, und er trug eine Schnürsenkelkrawatte und ein gebügeltes Button-down-Hemd mit kurzen Ärmeln. Er hielt das Buch der Bücher hoch über seinen Kopf. Die Seiten waren zerfleddert und die Buchdeckel voller Flecken. »Es ist das Wort Gottes, und ein anderes darf es nicht geben.«
Amen.
»Wer auch immer den Namen des Herrn anruft, soll gerettet werden.«
Amen.
»Aber wir leben in einer viel zu stummen Welt, nicht wahr? Einer Welt voller närrischem Geschwätz, jedoch ohne etwas zu sagen. Ohne Seinen Namen. Das, meine Freunde, das ist die eigentliche Stille des Todes.«
Ja, das ist sie.
»Der spirituelle Tod!«
Ja.
Er wedelte mit dem Buch der Bücher hoch über seinem Kopf.
»Wo das rettende Wort doch hier ist, meine Freunde! Genau hier!«
Hallelujah.
»In der letzten Stunde wird Er die Spreu vom Weizen trennen. Die Bäuche der Nationen werden weit offen sein, und die Reuelosen werden von einer Feuersbrunst verschlungen.«
Ja, das werden sie.
»Und das sehr bald, Freunde. Sehr bald! Es ist beinahe zweitausend Jahre her. Seine Zeit ist gekommen. Das Ende. Lassen wir die Welt zu Asche werden, lassen wir Atompilze sprießen, die die Sonne verdunkeln. In dieser Dunkelheit werden wir gerettet werden.«
Ja, das werden wir.
»Denn wir haben das Wort. Und wir rufen es, nicht wahr, meine Freunde?«
Ja, das tun wir.
»Wir rufen Ihn an! Hier am dunkelsten Ort am Fuß dieser Berge. Hier in diesem Sündenpfuhl. Rufen wir Seinen Namen!«
Ja, Bruder.
»Nicht nur für uns, sondern damit alle durch Ihn gerettet werden.«
Amen.
Der Priester schlug einem Mann mit Gitarre auf die Schulter.
»Lasst uns singen!«
Die Gitarre war an eine Holzkiste mit gewebter Front angeschlossen, und die Saiten knisterten im elektrischen Licht der kleinen Werkstatt blechern und fremdartig, während der Verstärker brummte. Rory spähte mit einem Auge durch den Türspalt. Die Leute kreischten und tanzten jetzt. Rasselnde Tamburine, die gegen Handballen geschlagen wurden. Sie waren schweißüberströmt, ihre Münder aufgerissen, erfüllt von rauem Stöhnen und Keuchen.
Sie wirbelten herum und stampften, die Arme wie Kandelaber in die Luft gereckt, die Hände hohl, als hielten sie darin Weihwasser oder Feuer. Doch es war eigentlich das Mädchen, von dem er den Blick nicht abwenden konnte. Sie hatte milchweiße, glatte Haut und dunkles Haar, das bis auf den Pony in ihrer Stirn über ihre Schultern wallte. Ihr Gesicht war irgendwie schmerzverzerrt, als würde sie großes Leid durchleben, als würde sich ein Messer in ihre empfindlichsten Stellen bohren. Sie stand ganz vorn, die Augen konzentriert zusammengekniffen, und hatte die Arme zitternd von sich gestreckt, so als hielte sie einen großen Stein in ihren Armbeugen.
Auf einmal schlug sie die Augen auf, die grün wie Juwelen waren, und sah ihn direkt an.
Rory wich zurück, als hätte ihn ein elektrischer Schlag getroffen. Er stolperte über einen alten Reifen, der hinter der Kasse lehnte, und knallte gegen einen Klappstuhl aus Metall, hüpfte auf seinem gesunden Bein hinaus auf die Rampe und erwartete, dass ihm die Meute folgte. Er humpelte hastig zwischen den beiden Zapfsäulen hindurch und über die Straße, wobei ihm sein Schatten auf der geriffelten Wand des Hurenhauses folgte und sich wie ein gejagter Kobold krümmte und zuckte. Er erreichte den Wagen, lehnte sich keuchend und mit pochendem Stumpf und geballten Fäusten an die Tür und wartete darauf, dass sie mit Knüppeln, Kanthölzern und Axtgriffen aus der Dunkelheit auftauchten.
Doch niemand kam.
Die Morgendämmerung kroch blass hinter den schräg stehenden Bäumen, windschiefen Spelunken und herrenlosen Fahrzeugen in Vorgärten und auf Parkplätzen herauf. Rory öffnete klackend die Fahrertür. Es war ruhig, niemand zu sehen. Er stieg aus, streckte sich und pinkelte ins Gras, wobei er die Stirn gegen das Dach des Fords stützte. Er hatte unruhig auf der Vorderbank des Wagens geschlafen, war immer wieder aufgewacht, überrascht, nicht einen Haufen Gesichter zu sehen, die sich wutverzerrt gegen das Glas pressten.
Er knöpfte seine Hose zu und machte sich auf den langen Marsch in die Stadt. Die Tankstelle hinter ihm war jetzt dunkel und mit einem Vorhängeschloss zugesperrt. Eine leere Hülle. End-of-the-Road war im Tageslicht ein seltsamer Ort, an dem die nächtlichen Sünden wie bei Ebbe zum Vorschein kamen. Entlang der gesamten Straße lagen die Opfer zusammengerollt auf Rücksitzen oder lehnten mit geöffneten Mündern, deren Atem kleine Wolken an den Fenstern bildeten, an Seitenscheiben. Sie waren eingeschlafen, während sie nach ihrem Schlüssel, dem Anlasser, dem Schalthebel oder dem Innenbeleuchtungsknopf getastet hatten, sich ihre Augenlider in Zeitlupe bewegt hatten, ihre Körper sich schwer anfühlten, als wären sie auf dem Meeresgrund. Im wuchernden Gras lagen leere Flaschen, und auf der Straße schimmerten Glasscherben. Ein einzelner Stiefel lag wie ein totgefahrenes Tier da. Fetzen aus Kattun oder von Kleidern mit Karomuster, heruntergerissen vor Zorn oder Lust. Fußabdrücke auf Autoscheiben, Kondome, die wie blasse, platte Würmer auf der Straße lagen. In der Sonne getrocknetes Blut, das Ergebnis von Fäusten oder Messern. Letzte Nacht sogar ein Gewehr.
Sein ungleichmäßiger Rhythmus erklang synkopisch auf dem Asphalt, und sein Stumpf schmerzte bei jedem Schritt. Er hatte eine spezielle Socke, die er tragen sollte, um Hautscheuern und eine Follikelentzündung zu verhindern, aber das tat er nie. Binnen Kurzem konnte er spüren, wie die Haut unter den Schnallen und Riemen heftig brannte, wie die hervortretenden Haarfollikel