Maybelline. Taylor Brown

Maybelline - Taylor Brown


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schüttelte sich, als hätte ihn ein Schauer überlaufen, und beugte sich erneut über den Motor.

      »Nichts«, sagte er.

       I. Erntemond

      Bonni sah ihn das erste Mal in der kleinen Stadtbücherei, wo sie um die Mittagszeit gern hinging. Es war ein kleiner, eleganter Backsteinbau. Sie mochte die Stille dort und den Geruch. Das Rascheln der Röcke der Bibliothekarinnen zwischen den Regalreihen. Sie saß dann immer mit verschränkten Beinen da, umgeben von Zola oder Yeats, zeichnete in ihr Skizzenbuch und hielt zwischendurch inne, um von ihrem Tomatensandwich abzubeißen. Hier zwang sie keiner, mit irgendjemandem zu sprechen. Stattdessen nahm sie die leisen Stimmen der Bücher wahr, die so gewaltig waren, dass die Worte wie Staubkörnchen um sie herum schwebten.

      Connor bog in ihren Gang ein. Er trug drei Bücher, die mit einem Ledergürtel zusammengebunden waren, und hatte einen Geigenkasten unterm Arm. Im Mund hatte er einen großen Magnum-Bonum-Apfel, gelb mit roten Bäckchen. Als er sie sah, blieb er wie angewurzelt stehen, so als wäre er gegen eine Wand gelaufen. Dann straffte er die Schultern und ging weiter. Er stellte den Geigenkasten auf die eine Seite und legte die Bücher auf die andere, setzte sich dazwischen und nahm den Apfel aus dem Mund.

       Weißt du, was Magnum Bonum bedeutet?

      Bonni schüttelte den Kopf.

      Es bedeutet »Großes Gut«, sagte er und hielt die fleischige Kugel vor sie hin.

      Bonni blickte hinunter auf ihren eigenen Apfel, einen harten, kleinen Granny Smith. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Aber der Junge hatte sein Obst bereits weggelegt.

       Weißt du, woher sie das Geld für den Ort hier haben? Von den Carnegies. Vater meint, sie hätten mehr Geld als Gott. Sie haben mehr als zweitausend Büchereien finanziert, überall in der Welt …

      Er redete und redete.

      Bonni ertappte sich bald dabei, wie sie zu seinen Worten nickte, als wären sie Musik.

       5

      Der Himmel war violett, die Berge schwarz. Die Bergkämme in der Ferne verschwammen und wurden immer schemenhafter, je weiter weg sie waren. Ein großes gelbes Scheinwerferpaar kam wippend die Auffahrt herauf, ein langes dunkles Ungetüm im Schlepptau. Ein Truck. Ein Pritschenwagen von Ford, der vor dem Coupé quietschend anhielt. Die Tür ging mit einem Knacken auf, und Eustace Uptree kletterte aus der Kabine. Elis Onkel. Er war derselbe Jahrgang wie Granny – 1898 –, aber der Mann wirkte viel älter, so als wäre er bereits ausgewachsen und bärtig auf dem Berg geboren worden. Ein großer, glatzköpfiger Mann, dessen Bart in der Dunkelheit wie von Reif bedeckt schimmerte. Wie bei Santa, nur hässlicher, und er roch nach Holzrauch, säuerlicher Maische und Eselschweiß.

      Die Jungs wischten sich die Hände am Hosenboden ab, als er näher kam. Eli beugte sich vor und flüsterte aus einem Mundwinkel heraus: »Sieht er heute Abend nicht fröhlich aus?«

      Rory sah, wie sein Körper unter der Latzhose wogte, während er näher kam. Manche behaupteten, der alte Mann könne trotz seines Umfangs blitzschnell von der Bildfläche verschwinden, indem er sich mit sicherem Schritt und geräuschlos wie ein alter Bär durch den Wald bewegte. Andere meinten, dass nicht er verschwinde, sondern jeder, der sich auf seine Spur setze. Es hieß, der Berg habe im Laufe der Jahre die Reihen diverser Strafverfolgungsbehörden dezimiert, und wer sonst sollte dahinterstecken? Es hieß, er sei im Ersten Weltkrieg ein MG-Schütze gewesen und habe ganze Kompanien von Vandalen niedergemäht. Es hieß, man sehe es an seinen Augen, die kalt und grau wie das Meer waren. Es hieß, er habe Lauscher in den Bäumen und Spione in den Wäldern. Jedes Blatt eine Zunge, deren Sprache nur der alte Mann hören konnte. Es hieß, er könne den Aufenthaltsort jedes Fremden auf dem Berg zu jeder Zeit bis auf dreißig Zentimeter genau bestimmen.

      Das meiste davon war Gerede, wie Rory wusste, Lügen zahnloser, alter Männer in ihren Schaukelstühlen und auf ihren Nagelfässern vor dem Tierfutterhandel. Geschichten, die von einem schwarzen Schwall Tabaksaft unterstrichen wurden, der zitternd in den Staub gespuckt wurde, neben alterslosen Hunden, die mit heraushängender Zunge totengleich im Schatten lagen. Nur eins war nicht abzustreiten: Eustace war an dem Tag, an dem er aus Frankreich zurückgekehrt war, auf den Berg gestiegen und nur noch selten heruntergekommen. Niemand wusste, wo er überhaupt schlief. Manche behaupteten, keine zwei Mal am selben Ort.

      Rory wusste, dass das nicht ganz stimmte.

      Der alte Mann stand mit den Händen in den Hüften vor ihnen und spuckte aus.

      »Maybelline läuft?«

      »Wie immer«, sagte Eli.

      Eustace blickte kurz zu seinem Neffen, blinzelte und streckte dann Rory die Hand entgegen. Rory schüttelte sie. Die Augen des alten Manns verharrten wie üblich auf seinem fehlenden Bein.

      Eli räusperte sich. »Es ist noch nicht nachgewachsen.«

      Eustace schenkte Rory ein wissendes Nicken und schüttelte dann seinem Neffen die Hand. Und das mit Freuden, wobei die Knöchel unter seinem Griff knackten. Eli verzog das Gesicht und versuchte, tapfer zu lächeln.

      Er konnte nicht.

      Eustace ließ seine Hand los.

      »Ich zeige euch, was ich habe«, sagte er und wandte sich zu seinem Truck um.

      Er löste die Spanngurte und schlug die Plane zurück. Hunderte Zwei-Liter-Glasbehälter in Zwölferkisten. Die Zinkdeckel glänzten im Mondlicht.

      »Sind ’n paar hundert Liter von dem weißen Zeug«, sagte er. »Das Allerbeste.«

      Er nahm einen Behälter, schüttelte ihn und hielt ihn dann gegen den Himmel. Es schäumte mondsilbern vor ihren Augen. Die Leute nannten es Tigerspucke oder Weißer Hund, Pantheratem oder Korn oder Mond. Alle drei sahen sie Schaumblasen so groß wie Froschaugen am Glas zerplatzen.

      »Guter Tropfen«, sagte Eustace.

      Eli griff ebenfalls nach einem Glasbehälter. »Vielleicht sollte ich mal probieren.«

      Eustace schlug ihm auf die Hand. »Nimm die Flossen weg!«

      Er richtete den Zeigefinger einen Augenblick lang auf die Brust seines Neffen und formte mit dem Rest der Hand eine Pistole.

      Eli hob die Hände hoch, als wäre das ein Überfall.

      Rory räusperte sich.

      »Lass uns das Zeug einladen«, sagte er.

      Eustace schnaubte. Er stellte den Behälter zurück und wies mit dem Kinn in Richtung Haus. Die Veranda war leer.

      »Ist Granny zu Hause?«

      »Ist sie«, sagte Rory. »Hat wieder ihre Pfeife geraucht.«

      Eli ließ die Hosenträger gegen seine Brust schnappen.

      »Du bist langsam zu alt für sie, Eustace. Du weißt, sie mag sie jung.«

      Eustace spuckte dicht vor Elis Stiefel aus.

      »Bist du eifersüchtig, Neffe?«

      »Schwachsinn«, sagte Eli auf den Fersen wippend.

      Eustace wandte sich um und ging zum Haus, wobei er seinem Neffen im Vorbeigehen gegen die Eier schnipste. Eli jaulte auf wie ein getretener Hund und krümmte sich zusammen.

      »Mistkerl«, sagte er. »Mistkerl.«

      Der große Mann stampfte die Treppe hinauf und sein massiger Körper füllte die gelbe Fläche der Türöffnung aus.

      Eli watschelte zum Truck, eine Hand in seiner Hose, um sich zu vergewissern, dass alles heil geblieben war. Er nahm ein Glas und schraubte den Verschluss auf.

      »Mistkerl.«

      Das


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