Maybelline. Taylor Brown

Maybelline - Taylor Brown


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weiter unten hübsche, kleine Städte mit Straßenbahnen und straff gespannten Telefonleitungen erblühten. Sie fuhren vorbei an Durham, dem Sitz von Duke Power, das beinahe den gesamten Staat mit Strom versorgte, dann hinein nach Raleigh, wo sie die von Eichen beschatteten Straßen entlangfuhren, und schließlich hinauf zur staatlichen Irrenanstalt namens Dix Hill. Es war ein riesiger, doppelflügeliger Sandsteinbau, der über der Stadt aufragte, vierstöckig, die schmalen Fenster dicht an dicht wie mittelalterliche Schießscharten. Der Mittelbau sah aus, als wäre er von Griechen errichtet worden, vier riesige Säulen, die ein dreieckiges Gesims trugen, mit einer Glaskuppel obendrauf.

      Sie unterschrieben die Papiere, setzten sich und warteten. Als die Krankenschwester kam, um sie abzuholen, ging Rory als Erster hinein. Seine Mutter durchquerte leichtfüßig den Besucherraum, die Sohlen ihrer weißen Leinenschuhe kaum hörbar. Ihre Gestalt war dementsprechend, beinahe durchscheinend wie ein Windhauch. Sie konnte im selben Raum mit einem sein, ohne dass man es bemerkte. Ihr schwarzes, mit silbernen Strähnen durchzogenes Haar war nach hinten gekämmt und reichte ihr bis zur Taille. Ihre Haut war geisterhaft weiß, so als bestünde sie aus Licht. Als könnte man, wenn man nur kräftig genug zwinkerte, ihre Knochen sehen.

      »Wirst du gut behandelt?«, fragte Rory.

      Sie nickte und nahm seine Hände. Ihre Augen strahlten so hell bei seinem Anblick, dass sie ihm Löcher ins Herz bohrten. Sie sagte nichts. Sagte nie etwas. Sie sei schon immer ein stilles Mädchen gewesen, hatte Granny ihm erzählt, das in seiner eigenen Welt lebte. Verrückt, wie manche behauptet hatten. Sonderlich. Dann kam der Abend, als Gaston ermordet worden war, und sie sprach nie wieder ein Wort. Rory hatte noch nie ihre Stimme gehört. Er kannte ihren Geruch, wie bevorstehender Regen, und die langen, v-förmigen Sehnen, aus denen ihr Hals bestand. Er kannte die winzigen Fältchen von der Größe eines Kolibrikrallenfußes in ihren Augenwinkeln. Er wusste, wie sich ihre Hände anfühlten, so leicht und kühl. Hände, die mit einer Nagelklaue einem Mann ein Auge herausgerissen und den Augapfel anschließend in der Tasche ihres Kleids versteckt hatten.

      Sie waren zu dritt gewesen, Night Riders, alle drei mit Sackkapuzen. Es war das Jahr 1930 gewesen. Die Männer hatten sie mit dem Sohn eines Fabrikbesitzers in einer leeren Hütte am Fluss erwischt. Der Ort war aufgegeben worden, dazu bestimmt, überschwemmt zu werden, wenn das Wasser stieg. Sie prügelten den Jungen mit Axtstielen zu Tode, aber sie wehrte sich, fand eine Nagelklaue in einem Haufen Werkzeug, gespalten wie eine Zunge. Sie teilte aus, so gut sie konnte.

      Und erbeutete ein Auge.

      Keiner von ihnen wurde je erwischt.

      Der Junge, den sie totgeschlagen hatten, hieß Connor Gaston. Er sei ein seltsamer Kerl gewesen, sagten die Leute. Aber klug. Er hatte Vögel gemocht, Violine gespielt. Sein Vater leitete die Strumpffabrik am Ort. Ein Junge mit beträchtlichen Privilegien, wohingegen sie die Tochter einer Prostituierten war. Wahrscheinlich war sie selbst eine, hieß es. Lebte sie nicht in einem Hurenhaus? War sie bei den Blicken und dem Aussehen nicht schon volljährig? Hatte sie den Jungen nicht dorthin gelockt, damit er zusammengeschlagen und ausgeraubt wurde?

      Sie lehnte es ab, sich zu verteidigen. Ein paar behaupteten, ein kräftiger Schlag auf den Kopf hätte sie verstummen lassen. Andere meinten, es sei Gott gewesen. Die Ärzte waren sich nicht sicher. Sie schien mit einem Bein in einer anderen Welt zu stehen. Sie hatte die Schwelle zum Tod teilweise überschritten. Die Gastons wollten nichts mit ihr zu tun haben, begraben und vergessen. Dieser Schandfleck auf dem Namen ihres Sohnes. Der Richter hatte sie für geistesgestört erklärt und sie dem Staat übergeben. Ihr Bauch war bereits zu sehen gewesen, als man sie fortgebracht hatte. Rory kam im Krankenhaus von Dix Hill zur Welt. Die Gastons waren verschwunden – hatten ihre Sachen gepackt und waren nach Connecticut zurückgekehrt, ohne Nachsendeanschrift.

      Rory und seine Mutter saßen lange Zeit am Tisch und hielten Händchen. Rory stellte ihr Fragen, und sie nickte oder schüttelte den Kopf, als wäre sie zum Sprechen zu schüchtern.

      »Irgendwelche neuen Bilder?«

      Sie nickte und nahm den Notizblock von ihrem Schoß. Es waren hauptsächlich Vögel, Schornsteinsegler und Raubwürger und Rauchschwalben. Spechtmeisen, bläulich mit rotem Bauch, und eisengraue Goldhähnchen mit rubinrotem Scheitel. Carolinazaunkönige, haselnussbraun mit weißen Streifen über den Augen, rotschwarze Stare, die weiß gesprenkelt waren. Walddrosseln mit zimtfarbenen Schwingen, die helle Brust braun gesprenkelt, und Seidenschwänze mit zitronenfarbener Brust und einer schwarzen Maske über den Augen. Rotkardinale, mit einer hohen Haube auf dem Kopf, und rotschwänzige Habichte, die todbringend über der Erde kreisten.

      Sie waren nicht wie die Druckgrafiken an den Wänden. Diese Vögel waren wie aufs Papier geworfen, jede Kreatur kantig und ungestüm und leuchtend, die Flügel ein geisterhafter Anklang an Flugbewegungen. Sie waren mit Wasserfarben gemalt, ein wenig durchscheinend, so als hätte sie nicht den Körper, sondern den Geist des Vogels aufs Papier gebracht, jede Feder wie eine züngelnde Flamme. Es waren seltsame Feuer, die grün und violett, rostfarben und königsblau brannten. Rory wusste, dass Adler mehr Farben sehen konnten als Menschen. Sie sahen ultraviolettes Licht, das von Schmetterlingsflügeln abgestrahlt wurde, und Spuren von Urin ihrer Beute, erkannten die wachsartige Schicht auf Beeren und Früchten. Manchmal fragte er sich, ob seine Mutter auch so war, ob sie die Welt in Schattierungen unterteilte, die andere nicht sehen konnten. Ob das Kreisen und Gleiten eines Vogelflugs für sie eine Figur bildeten, ein in einer fremden Sprache hingekritzeltes Gedicht, das die anderen nicht kannten.

      Sein Herz wurde wie immer schwer. Tränen traten ihm in die Augen.

      »Sie sind wunderschön«, sagte er.

      Wie immer gab sie ihm eins mit. Diesmal war es ein Papagei, lindgrün mit roten Punkten um die Augen. Er würde es in seinem Zimmer an die Wand hängen, ein neues Mitglied in seinem voller werdenden Vogelhaus, das ihm Gesellschaft leistete.

      Es war später Nachmittag, als sie sich wieder auf den Heimweg machten. Rory zündete sich eine Zigarette an, Granny ihre Pfeife. Ihr Rauch zerstob im Fahrtwind. Sie fuhren an Stadtautos in Schwanenweiß oder Flamingorosa, Grasgrün oder Babyblau vorbei – schimmernd wie Kaugummikugeln unter den Bäumen. Sämtliche Gärten waren hübsch gepflegt, in vielen prangten eingepflockte Schilder mit der Aufschrift »We like Ike«. Die Leute, an denen sie vorbeikamen, wirkten seltsam reinlich und frisch und gleichförmig, wie Mitglieder derselben Modellreihe.

      Rasch ließen sie die von Eichen beschatteten Straßen hinter sich, und der Verkehr wurde schwächer, löste sich schließlich ganz auf, und das Land begann in sanfte Hügel überzugehen wie ein Meer aus Erde.

      Früher hatte Rory Granny immer gebeten, ihm Geschichten über seine Mutter zu erzählen. Darüber, wie wunderschön und gütig sie war. Wie sie einmal Totenwache für einen riesigen Grashüpfer gehalten hatte, den sie sterbend auf der Veranda gefunden und dem sie leise Wiegenlieder gesungen hatte, während er auf dem Rücken gelegen und gestrampelt hatte, grün wie ein Blatt im Frühling. Wie sie ihn mit einem Kreuz aus Streichhölzern hinterm Haus begraben hatte.

      »Das Mädchen hatte Engelsblut«, pflegte Granny zu sagen. »Keine Ahnung, woher sie das hatte. Jedenfalls nicht von mir.«

      Die alten Geschichten waren wieder und wieder erzählt worden, bis auf eine. Bis auf die Geschichte, die nur seine Mutter erzählen konnte.

      Darüber, was wirklich an jenem Abend im Tal passiert war.

      Das Land erhob sich vor ihnen, immer zerklüfteter und steiler, und die Berge schwebten wie Rauch über dem Horizont. Howl Mountain war der höchste und steilste unter ihnen. Er erhob sich breitschultrig und gezackt wie der abgebrochene Eckzahn eines Riesentiers. Auf seinem Gipfel schwebte eine mit Tannen und Fichten gesprenkelte Insel, ein Relikt prähistorischer Zeit in großer Höhe. Der Wind peitschte und jagte zwischen den alten immergrünen Bäumen hindurch und pfiff wie eine Turbine, und er tat seltsame Dinge. Es hieß, die Schwerkraft sei auf der Bergspitze aufgehoben und im Herbst würden sich die Blätter wie von selbst vom Boden erheben und säuselnd durch den Wald schweben, als wollten sie zu den Ästen zurückkehren, die sie verlassen hatten.

      Rory wusste, dass der Boden dort oben von Blut getränkt war. Widerstandskämpfer aus dem Bürgerkrieg,


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