Maybelline. Taylor Brown

Maybelline - Taylor Brown


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den Cherokee bekriegt hatten und mit den Pfeilspitzen aus Feuerstein in ihren Leibern und Musketenkugeln zwischen den Zähnen gestorben waren. Und wer kannte schon die vielen rivalisierenden Stämme aus früheren Jahrhunderten, längst vergessene Blutfehden, lange bevor der erste Weiße aufgetaucht war, die Knochen der Gefallenen, die wie Auszüge aus Geschichten über den Berg verstreut lagen. Manche behaupteten, es wären die Seelen all derer, die sich zu erheben versuchten, welche die toten Blätter aufwirbeln ließen.

      Rory dachte an das, was Eustace ihm erzählt hatte, als er klein war, wie die Menschen in den Bergen damit prahlten, einander die Augen auszustechen und die Nasen abzubeißen. Wie sich diese in der Wildnis geborenen Waldbewohner in einem Kreis aus johlendem, wettsüchtigem Volk wiederfanden, ihre langen, gekrümmten Daumennägel über Kerzenflammen gehärtet und mit Öl eingerieben, und wie Davy Crockett sich persönlich einmal damit gebrüstet hatte, einem anderen so leicht, wie man eine Stachelbeere auslöffelt, ein Auge ausgestochen zu haben. Damals gab es keine größere Trophäe, als das Auge eines anderen in seiner Tasche zu haben, dicht gefolgt von einer abgebissenen Nasenspitze. Eine grausame Geschichte, wie alle von Eustace, aber vielleicht deshalb so erzählt, damit der Junge stolz auf das war, was seine Mom in ihrer Bedrängnis getan hatte.

      Was er auch war.

      Er wünschte nur, es hätte sie nicht ihrer Stimme beraubt, und er fragte sich manchmal, ob mit ihm vielleicht alles in Ordnung war, dass gar nicht das, was er in Korea gesehen und getan hatte, ihn hatte verstummen lassen.

      Er blickte zu Granny.

      »Stimmt es, dass du das Auge von ’nem verknallten Deputy gestohlen und irgendwo versteckt hast?«

      Sie schnaubte.

      »Dieses Auge bringt nichts als Ärger, Junge. Manche Dinge lässt man besser ruhen.«

      »Ich habe ein Recht darauf, es zu sehen.«

      »Na klar. Und ich habe ein Recht darauf, dir zu sagen, dass du mich mal kannst.«

       4

      Granny May saß in ihrem Schaukelstuhl auf der Veranda. Die Hügel lagen goldbestäubt von der Herbstsonne da. Bald würden aschehafte violette Flecken auftauchen, die blutigen Stichwunden des Rotahorns. Die Farben würden an Intensität zunehmen, das Gelb sich in flüchtiges Gold verwandeln – die vielen Kronen, die majestätisch und zahlreich zur Sonne zeigten –, bevor die Blätter schließlich braun verfärbt und raschelnd zur Erde fielen.

      Das war die beste Jahreszeit für die Wurzelsuche, für das Ausgraben von Rohstoffen, aus denen sie ihre Medizin machte. Die Tees und Tinkturen, Arzneien und Umschläge. Im Sommer brauchten die Pflanzen ihre Energie dafür, Blätter, Blüten und Früchte zu produzieren. Im Herbst versenkten sie ihre Nährstoffe in der Erde, verankerten sich dort, um die harten Wintermonate zu überstehen. Wenn sie durch den Wald ging, war sie von Freunden umgeben. Von Nachbarn. Sie kannte mehr als ihre Namen, kannte die Form ihrer Blätter, winzige Wimpel oder Messer oder Herzen, und die Größe ihrer Knollen, Beeren und Früchte. Sie kannte die dunklen Schluchten, in denen sich manche von ihnen gern versteckten, und die lichten Waldränder, wo sich andere der Sonne entgegenstreckten. Sie kannte den Geruch ihrer Blätter und Wurzeln, rieb sie zwischen den Fingern und schnupperte daran. Es gab Pflanzen, die das Herz oder die Lunge, die Haut, den Darm oder das Blut heilen konnten. Pflanzen, die den Körper reizen oder besänftigen, den Geist anregen oder dämpfen konnten. Es gab Wurzeln, die einem halfen, sich von sich selbst zu lösen oder sich dem Geisterreich zu nähern, und welche, die einen wurzeltief erdeten. Es gab Pflanzen, die töten konnten.

      Es gab das Salomonssiegel, das wirbelsäulenförmig in die Erde wuchs, mit perfekten kreisförmigen Wirbeln, für jedes Jahr einen. Es konnte den Magen beruhigen, die Lungen reinigen und eine starke Regelblutung eindämmen. Man konnte es mit der Hand ausreißen. Dann gab es den Sassafrasbaum, dessen Blätter häufig wie Fäustlinge aussahen, den Wasserschierling, der einen grausamen Tod voller Anfälle und Krämpfe verursachte – anders als der Gefleckte Schierling aus Europa, der Philosophen sanft ins Dunkel befördert hatte. Es gab diese und viele andere, ein Wunder an Kräutern und Pflanzen, die über den Berg verstreut und bereit waren, gepflückt zu werden, und dann noch jene, die sie heimlich unter Bäumen züchtete und deren Rauch Schmerzen des Körpers und des Geistes linderte, die Zeit auf Kriechgeschwindigkeit verlangsamte und selbst dem Hartherzigsten ein Kichern entlocken konnte.

      An diesem Morgen hatte sie eine siebenblättrige mehrjährige Staude geerntet, die als Hasenklee oder Gemeiner Tarweed bekannt war, wobei sie unter gutem Zureden ihre Pfahlwurzel aus dem feuchten Ufer eines trockenen Flusses ausgegraben hatte, wo ein Bett aus grün bemoosten Steinen den Hang bedeckte. Sie mischte die Wurzel mit Honig und stellte daraus Hustensaft her – um diese Jahreszeit stark nachgefragt – und bewahrte die von Honig umhüllten Wurzelstückchen als Bonbons gegen raue Hälse auf. Sie hatte die feuchte Bergerde von den Wurzeln abgewaschen, und jetzt lagen sie auf einem Holzbrett zum Trocknen in der Sonne, und ihre blassen Arme rollten sich ein wie die Tentakel eines Jungkraken.

      Granny lehnte sich in ihrem Schaukelstuhl zurück, stopfte ihre Pfeife und ließ den Blick über das Hochland, das ihr Zuhause war, gleiten. Ihre Vorfahren waren schon vor langer Zeit in diese Berge gekommen, vor fast zweihundert Jahren. Ihre Familie hatte mit Äxten und Schrotsägen Holz bearbeitet, hatte Hütten nicht größer als Bärenhöhlen gebaut. Sie hatten Hausschweine gezüchtet, die sie frei laufen ließen, damit sie sich an den herabgefallenen Nüssen im Wald satt fraßen, und hatten »Whiskeybäume« – Getreide – angebaut und mit handgemachten Kellen die Maische in riesigen Kupferkesseln umgerührt. Sie hatten in jedem Krieg einer noch jungen Nation gekämpft, sich auf die Seite der Union geschlagen, als der Staat sich abgespaltet hatte, und sie hatten Wurzeln gesammelt und alle Arten von Tieren gejagt, indem sie an den Berghängen gezahnte Fangeisen ausgelegt hatten. Sie hatten getan, was sie konnten, um zu überleben, das Gleiche, was auch sie getan hatte, aber sie waren gestorben wie die Fliegen. Sie waren an Grippe oder im Kindbett gestorben. Sie waren von Totholzästen erschlagen oder von Eseln getreten worden oder hatten sich bei Unfällen mit dem Destilliergerät verbrannt. Ein paar verschwanden in den Wäldern und kehrten nie zurück. Nur wenige starben an Altersschwäche.

      Sicher, sie wurde langsam älter. Ihre Schritte waren schwerer als früher, ihre Füße platter, ihre Gelenke bei Wetterumschwüngen empfindlicher. Ihr Haar, das einst schwarz wie eine Krähenschwinge gewesen war – angeblich der Einfluss von Cherokeeblut –, hatte sich zu einem gräulichen Eichenton aufgehellt. Doch ihre hohen Wangenknochen – vielleicht ein weiteres Geschenk ihrer gemischten Herkunft – sanken nicht herab. Und ihr Verstand funktionierte einwandfrei. Zum Teufel mit ihr, wenn sie den je verlieren sollte.

      Immer um diese Jahreszeit ertappte sie sich dabei, wie sie an Anson, ihren Mann, dachte, der vor langer Zeit in Frankreich gefallen war. Sie hatte ihn kurz vor dem ersten Frost kennengelernt. Es war eins der Erntedankfeste am westlichen Ende des Countys gewesen, und sie war zusammen mit ein paar Nachbarmädchen hingegangen, wobei einer der älteren Brüder die Kutsche gefahren hatte. Sie war gerade mal vierzehn gewesen. Die Scheune, die im Dunkeln blau wirkte, war im Innern von warmem Licht erfüllt, das wie goldener Whiskey durch Türritzen und kaputte Verkleidung quoll. Fiedler hatten stampfend auf ihren Instrumenten gesägt, ihre Lieder quicklebendig und nur von einer flüchtigen Trauer erfüllt.

      Sie trug ein Kleid mit rot-weißem Vichy-Muster, das ihre Mutter ihr genäht hatte, und ihr Haar war schwarz wie die Nacht und mit Nadeln hochgesteckt gewesen. Ihre Mutter hatte Stunden damit zugebracht, es hochzustecken, es irgendwie zu befestigen – eine Frau, die ihr Haar höchstens zu einem Dutt gebunden getragen hatte. Jetzt, nach Jahren, wusste Granny, weshalb. Damals war sie zur Frau geworden, ihre Brüste waren angeschwollen und zwischen ihren Schenkeln schimmernde schwarze Locken gesprossen. Ihre Regel hatte eingesetzt. Und ihr Vater, diese nichtsnutzige Ausgeburt einer alten, hartgesottenen Linie von Bergbewohnern, hatte sie, wenn er zu tief ins Glas geschaut hatte, merkwürdig angesehen. Ihre Mutter wollte sie aus dem Haus haben. Wollte, dass ihre Tochter einen Mann fand.

      Es gab Jungs, die draußen vor der Scheune im Dunkeln auf Nagelfässern lümmelten, während sie an etwas nippten, das sie zum Kichern brachte, das sie aber


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