Die Welt verdient keinen Weltuntergang. Peter Hamm

Die Welt verdient keinen Weltuntergang - Peter Hamm


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sicher nicht erleichtert. Er misst Gedichte vor allem an ihrem seismografischen Vermögen, Krisen und Katastrophen zu wittern, und er zieht nach eigenem Bekenntnis Gedichte, die »Ausdruck des Zeitgeists« sind, jenen vor, die als »Spiegel des Unvergänglichen« gelten (wollen). Gedichte, die auf ihre ästhetische Autonomie pochen und sich implizit als Gegenwelt zur geschichtlichen begreifen, setzt er dabei dem Generalverdacht aus, im »luftleeren Raum« zu schweben, ja sogar einer »Wertverwahrlosung« Vorschub zu leisten.

      Dass Kirsten »Stimmenvielfalt« wichtiger war als »Auslese«, dokumentiert bereits der riesige Umfang seines Unternehmens: Auf eintausendeinhundertzwanzig Seiten werden fast tausend Gedichte von dreihundertdreiundsechzig Dichtern präsentiert! Bedenkt man die wenigen lyrischen Höchstleistungen, die uns vom gesamten neunzehnten Jahrhundert geblieben sind, scheint das des Guten (und oft auch nur Gutgemeinten) entschieden zu viel. Nimmt man Kirstens Anthologie aber als das, was sie primär sein will, ein poetischer Spiegel der Zeitgeschichte, leuchtet solche Üppigkeit schon eher ein. Wie brutal die Geschichte in dem von Kirsten abgesteckten Zeitraum nicht nur viele Gedichte dominiert (und deformiert), sondern auch die Lebensschicksale ihrer Dichter bestimmt hat, belegt bereits die erschütternde Tatsache, dass fast ein Drittel von ihnen (einhundertdrei) aus dem deutschen Sprachraum vertrieben und fast ein halbes Hundert in einem deutschen KZ ermordet oder in den Selbstmord getrieben wurden.

      So wie die Wurzeln der »Mutterkatastrophe des Ersten Weltkriegs« (Golo Mann) weit in das Jahrhundert davor reichen, wurden auch die geistigen Umbrüche, die das zwanzigste Jahrhundert bestimmten, in der deutschsprachigen Literatur spätestens ab 1880 vorbereitet (in der französischen freilich viel früher). Aber nicht den Propheten der Umwertung aller Werte, nicht Friedrich Nietzsche, dessen sprachschöpferische Leistung er doch mit der Martin Luthers vergleicht, wählt Kirsten zur Portalfigur seiner Anthologie, und auch nicht den Phantasten Paul Scheerbart, mit dessen kühn bizarrer »Katerpoesie« Rowohlt einst seinen Verlag eröffnete (Scheerbart ist leider überhaupt nicht vertreten), sondern Detlev von Liliencron, dessen Ballade »Pidder Lüng« in diesem Rahmen dann doch seltsam anachronistisch und wie von Fontanes Baum gepflückt anmutet. Ist das nur persönliche Marotte oder wollte Kirsten vielmehr den riesigen Abstand verdeutlichen, den Nietzsche – mithin die Moderne – von einem seinerzeit so enorm Gefeierten wie Liliencron trennt? Doch es sind auch andere mit einst klingenden, aber längst verklungenen Dichternamen, denen Kirsten Wiederbelebungschancen einräumt, so etwa, um nur diese zu nennen, Isolde Kurz, Richard Dehmel oder Max Dauthendey (dessen zarte poetische Gebilde verstehen lassen, warum einst der junge Robert Walser zu ihm pilgerte). Einige der einmal Berühmten können Kirstens Zeitgeist-Programm allerdings nur ex negativo einlösen und allenfalls als Beweismittel für jene Flucht aus der Zeit dienen, die sich ästhetisch als Rückgriff auf klassische und romantische Muster, ideologisch aber meist als Angepasstheit an das schlechte Bestehende zeigt.

      Kirsten ist ein passionierter Ausgräber und Wiederentdecker, und was an seiner Anthologie als Erstes auffällt, sind die vielen völlig unbekannten oder nur noch schattenhaft vorhandenen Dichternamen, denen man hier begegnet. Fabelhafte Funde macht Kirsten bei den sogenannten Minderdichtern, denen manchmal nur mit einem einzigen Gedicht gelang, ihre poetischen Grenzen zu sprengen, ob das nun der in die USA emigrierte und dort als Kabelbote arbeitende Wiener Fritz Brainin ist (»Letzte Fahrt eines Weinfuhrmanns«) oder der als Invalide aus dem Ersten Weltkrieg zurückgekehrte hannoveranische Zeitungsausträger und Dachdecker Franz Johannes Weinrich (»An die Schneider von Paris«), ob der Tabakhändler Karl Schloss aus Alzey, der schon 1905 prophetisch sein Auschwitz-Schicksal beschwor (»Die Blumen werden in Rauch aufgehn«), oder Carl Friedrich Wiegand, ehemaliger Prinzen-Erzieher im Hause Hessen und späterer Mitbegründer der Zürcher Volkshochschule, der in einem grellen Totentanz das riesige Heer der sinnlos Gefallenen aufmarschieren lässt (»Die Ehrenlegion«).

      Verblüffend auch manche Gelegenheitsgedichte von Autoren, die nur durch ihre Prosa oder sogar nur durch außerliterarische Aktivitäten bekannt wurden, darunter etwa ein »Sieh mich gebeugt« überschriebenes Gedicht von Otto Weininger, in dem der 1903 dreiundzwanzigjährig aus dem Leben geschiedene Verfasser von »Geschlecht und Charakter« kaum verklausuliert seine Furcht vor der Syphilis artikuliert, oder ein Gedicht auf Kafkas »Process« des Religionsphilosophen Gershom Scholem, das dieser einem Brief an seinen Freund Walter Benjamin beilegte. Bei einem anderen Benjamin-Freund, Franz Hessel, entdeckte Kirsten ein leicht blasphemisches Karfreitags-Gedicht und in der Autobiografie des wunderbaren Filmregisseurs Max Ophüls das coupletartige Gedicht »Murmeln«, das menschliches Schicksal als Kinderspiel eines grausamen Demiurgen vorführt. Manche von Kirstens Dichtern galten schon immer als Geheimtipp und wurden dieses Etikett nie los, so der gleichermaßen spröde wie seherische schwäbische Bauerndichter Christian Wagner oder der im selben Jahr 1903 wie Weininger dreiundzwanzigjährig durch Suizid geendete Berliner Walter Calé, dessen beste Gedichte in ihrer düster traumhaften Geschmeidigkeit den Vergleich mit denen des Junggenies Hofmannsthal nicht zu scheuen brauchen.

      Apropos Hofmannsthal: Wie präsentiert Kirsten ihn und die anderen Ikonen – Rilke, George, Borchardt? Neben manchen Highlights gibt es von jedem auch etwas bisher eher Übersehenes, von Rilke etwa die »Ode an Bellman«, den schwedischen Vagantendichter, von Borchardt das in jeder Hinsicht prekäre Gedicht »Schatten vom Wannsee«, 1911 geschrieben und 1935 umgeschrieben, um das Märchen von der Dolchstoßlegende neu aufzuwärmen (»sag den Gefallenen, dass es mit uns aus ist / und Abel tot: Deutschland ist Kain«). Bei George verzichtete Kirsten leider auf eines der kurzen, ebenso kühnen wie fragilen Gebilde aus dem »Jahr der Seele«, deren Modernität noch durch Arnold Schönbergs Vertonungen unterstrichen wurde (»Sprich nicht immer«), und verschmäht hat Kirsten auch ein Gedicht wie »Ihr tratet zu dem herde«, das doch den Intentionen seiner Anthologie genau entspricht; weil, wie Adorno suggerierte, dessen letzte Strophe – »Seht was mit trostgebärde / Der mond auch rät: / Tretet weg vom herde / Es ist worden spät« – durchaus als Georges Absage an das heraufkommende Dritte Reich gelesen werden darf.

      Ein nicht ganz unerwarteter Befund, der sich Kirstens Anthologie ablesen lässt, ist das rasche Altern des Expressionismus, dessen sentimental unterfüttertes Pathos, dessen Ekel- und Empörungsgebärden vor allem bei den vielen expressionistischen Mitläufern – nur noch das Barock kannte so viele Epigonen – heute schwer erträglich und oft unfreiwillig komisch wirkt, weil sie viel zu große Worte für viel zu kleine Gefühle bemühten. Gehalten haben sich neben Jakob van Hoddis, der mit seinem Gedicht »Weltende« den Expressionismus einläutete, am ehesten der 1914 gefallene Alfred Lichtenstein, der nach frühen aggressiven Attitüden (»Ein Mann zertrümmert eine morsche Frau«) zum Parlando jener Gedichte fand, in denen er seinen Tod im Feld vorausahnte. Bei Dichtern wie Ernst Blass, Paul Boldt, Gustav Sack, Ferdinand Hardekopf, Johannes R. Becher und anderen mehr, die alle einmal unter der expressionistischen Flagge segelten, finden sich allenfalls einzelne Gedichte oder auch nur Strophen, die noch überzeugen. Selbst der seinerzeit so gefeierte Franz Werfel wirkt seltsam verblasst. Zeit- und makellos, als hätten sie den Expressionismus, für den man sie so lange reklamierte, abgestreift wie ein zu enges Gewand, wirken inzwischen die Gedichte der jung gestorbenen Georg Trakl und Georg Heym, und gefeit gegen alle literarischen Moden erscheinen auch die aus jüdisch-orientalischer Überlieferung gespeisten unvergleichlichen Verse der großen Liebenden Else Lasker-Schüler. Gottfried Benn, den sie inbrünstig als »König Giselheer« bedichtete, hat eine lange Entwicklung von seinem allzu grellen expressionistischen Frühwerk bis zu seinem elegisch gebändigten, von Resignation und Fatalismus bestimmten Alterswerk zurückgelegt. Mit Benn ebenso wie mit seinem Antipoden Bertolt Brecht, dessen Entwicklung noch extremere Gegensätze zwischen Früh- und Spätwerk aufweist, stand Kirsten vor einem erheblichen Dilemma: Da er seine Anthologie mit dem Jahr 1945 beschließt, musste er auf einige ihrer stärksten, aber erst nach dem Krieg entstandenen Gedichte verzichten, bei Brecht etwa auf dessen fast minimalistisch ausgedünnte, lakonisch-stoische Kurzgedichte aus dem Umkreis der »Buckower Elegien«, für die alle die Zeile »Allem, was du empfindest, / gib die kleinste Größe!« als Motto dienen könnte. Noch drastischer zeigt sich dieses Dilemma dann vor Dichtern wie Ernst Meister, Günter Eich, Peter Huchel, Johannes Bobrowski, Erich Fried und Paul Celan, von denen nur Peter Huchel bereits in den dreißiger Jahren wirklich unverwechselbare Verse geschrieben hat, während alle anderen erst nach 1945 ganz zu sich selbst und ihrem ureigenen Ton fanden,


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