Die Welt verdient keinen Weltuntergang. Peter Hamm

Die Welt verdient keinen Weltuntergang - Peter Hamm


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dass sich die Dichter Ostdeutschlands viel enger zusammenschlossen als die im Westen. So war fast die gesamte in den dreißiger Jahren geborene Dichtergeneration nicht nur miteinander befreundet, sondern man bedichtete sich auch gegenseitig, verspottete und verteidigte sich und lebte in einer Art losem Kollektiv, das Sarah Kirsch gern »unsere Truppe« nannte (wobei sie mehr an Akrobaten und Gaukler als an etwas Militärisches dachte). Zu dieser »Truppe« zählte als Jüngster und Auffälligster auch der 1939 geborene Volker Braun, dessen Werk – Dramen, Romane, Erzählungen, Gedichte, Essays – denkbar größten Gegensatz zu dem Sarah Kirschs darstellt, obwohl auch hier erst einmal die vielen Rückgriffe auf klassische Muster – auf Klopstock, Goethe, Hölderlin, Hegel – ins Auge fallen. Volker Braun bedient sich der Klassiker nicht in affirmativem, sondern in strikt aufklärerischem Sinn, wovon schon ein Buchtitel wie »Training des aufrechten Gangs« Zeugnis ablegt, der dem damals noch in Leipzig lehrenden Philosophen Ernst Bloch verpflichtet ist, dessen »Prinzip Hoffnung« als eine Bibel der Neuen Aufklärung und als Gegenentwurf zu Heideggers »Sein und Zeit« betrachtet wurde.

      Von heute aus lässt sich sagen, dass Volker Braun der einzig authentische Dichter des DDR-Sozialismus war – und ist. Denn trotzig insistiert er bis heute auf Einlösung seiner Träume von einer Gesellschaft wahrhaft freier Menschen und ist nicht bereit, seinen Anspruch auf Totalität aufzugeben, auch wenn er erkennen musste, dass dieser total pervertiert wurde in der DDR, die dem westlichen Sozialdarwinismus seinen Sieg nicht gerade schwer machte. Die frühen Gedichte Volker Brauns, mit denen er in den sechziger Jahren sofort auch über die innerdeutsche Grenze hinaus gehört wurde, sind erfüllt von einem Pioniergefühl und einer Aufbruchstimmung, wie sie die Poeme Majakowskis und anderer Dichter der jungen Sowjetunion ausstrahlten. Volker Braun, selbst jahrelang in der Industrieproduktion tätig, spricht da zu denen, die wie er ein neues und besseres Deutschland errichten wollen. Sein Ton ist salopp, drastisch, polemisch, pathetisch. Die spätbürgerliche Welt wird dem Gespött preisgegeben. »Wir und nicht sie« ist ein Braun-Gedichtband betitelt – in Anlehnung an die Klopstock-Ode »Sie und nicht wir« von 1790, mit der dieser die Französische Revolution gefeiert und gleichzeitig betrauert hatte, dass nicht Deutschland »der Freiheit Gipfel« erstieg. Jetzt also soll, nach Braun, wenigstens die östliche Hälfte Deutschlands Klopstocks revolutionären Traum einlösen. Volker Braun bleibt stets ganz nahe an der DDR-Realität und der spezifischen DDR-Sprache, sodass viele seiner Gedichte im Westen geradezu exotisch wirken. Doch gerade weil dieser Dichter sich so genau und unbestechlich auf DDR-Realität einlässt, muss er immer mehr Widersprüche in das Raster seiner Dialektik aufnehmen, deren Scharniere immer schriller quietschen, deren Mechanik rattert und stottert, bis schließlich, nach dem Zusammenbruch der DDR, in Brauns selbstanklägerischem Gedicht »Das Eigentum« die dialektische Volte erfolgt mit dem Eingeständnis: »Und unverständlich wird mein ganzer Text: / Was niemals ich besaß wird mir entrissen. / Was ich nicht lebte, werd ich ewig missen«. Glaubwürdiger und bewegender hat sicher niemand jener Utopie nachgetrauert, der den Totenschein auszustellen heute wie eh und je bequemer ist, als auf ihrer Erfüllung zu bestehen.

      Im Westen Deutschlands – um noch einmal einen Blick auf die so anders geartete literarische Szene der sechziger und siebziger Jahre hier zu werfen – waren viele der jungen Dichter in den Sog der APO geraten, hatten den Tod der Kunst proklamiert und womöglich sogar zum bewaffneten Kampf gegen das Establishment aufgerufen. Das revolutionäre Posieren entpuppte sich freilich bald schon als fauler Zauber, der über die völlige Entzauberung der Welt hinwegtrösten sollte. Selbst noch die berechtigte Empörung über die Ereignisse in Vietnam diente größtenteils der Kompensation, entsprang dem Überdruss an einer Überflussgesellschaft, der zu entkommen unmöglich schien. Die »Kinder von Karl Marx und Coca-Cola«, wie Jean-Luc Godard sie apostrophiert hatte, hielten sich jetzt wieder mehr an Coca-Cola und ihre ganz privaten Bedürfnisse, zu denen unbedingt auch eine Amerika-Reise gehörte. Es brach die Zeit der literarischen Rückzugsgefechte und der Nachzügler an. Ebenso wie der revolutionäre war ja der avantgardistische Impuls fast verschwunden, »jede heutige Avantgarde ist Wiederholung, Betrug oder Selbstbetrug«, dekretierte Hans Magnus Enzensberger.

      Gemessen an den lyrischen Leistungen der fünfziger Jahre beherrschte nun eine ziemlich gesichtslose Generation das lyrische Feld, deren Gedichte einander zum Verwechseln ähnlich sind. Die Grenzen zwischen Poesie und Prosa haben sich bis zur Ununterscheidbarkeit verwischt, und so wenig wie sprachliche darf man reflektive oder gar philosophische Anstrengung von diesen grauen und grämlichen Gebilden erwarten. Die unartifizielle Gedichtsprache wird allen Ernstes von verwirrten Veteranen der Achtundsechziger-Bewegung als »Demokratisierung des Gedichteschreibens« (Jürgen Theobaldy) deklariert. »Weg von der alten Poetik, die nur noch Anleitung zum Poetisieren ist«, fordert Nicolas Born, »weg von Symbol, Metapher, von allen Bedeutungsträgern«. Entsprechend betitelt er seinen ersten Gedichtband so prosaisch wie denkbar »Marktlage«. Eindimensionalität und Punktualisierung der Wahrnehmung ist Trumpf, es regiert die Tautologie der Trivialität und der Fotorealismus (wie er gleichzeitig in der Malerei aufkommt).

      Am überzeugendsten erscheint dieses gleichsam fotografische Sehen in den Gedichten Jürgen Beckers, die sich strikt dagegen sperren, mehr als einen jeweils ebenso zufälligen wie schmalen Ausschnitt der Alltagswirklichkeit wiederzugeben, aber durch die Konsequenz und die Kontinuität, mit der sie diese Art von gleichsam tagebuchartiger Wahrnehmung betreiben, den bloßen Oberflächenphänomenen dann doch einen spröden Reiz abgewinnen. Zweifellos den attraktivsten Appeal haben die Gedichte des 1940 geborenen Ralf Dieter Brinkmann, der in den sechziger Jahren die beiden Anthologien amerikanischer Pop- und Underground-Poesie »Acid« und »Silverscreen« herausgab und selbst mehr als jeder andere deutsche Dichter von den Errungenschaften der darin präsentierten Autoren profitierte. Auch Brinkmanns Gedichte sind meist »snap-shots«, doch diese stammen mehr aus dem medialen Milieu der Subkultur als aus jener Alltagswirklichkeit gesichtsloser deutscher Vorstädte, die Jürgen Beckers sprachliches Objektiv einfängt. Bestürzend ist die unterschwellige Aggressivität dieser Gedichte, die Ausdruck einer nur mühsam maskierten Verzweiflung ist und sich undifferenziert gegen alle und alles richtet. »Monster« und »Mumien« sind für Brinkmann gleichermaßen die oben und die unten, die Linken und die Rechten, er sieht sich umstellt von »Herdenmentalität« und eingesperrt in sprachliche Zwangssysteme, denen zu entkommen nur um den Preis des Verstummens möglich scheint. In seinen besten Gedichten gelang es Brinkmann aber, aus seiner von Ekel, Hass und Selbsthass genährten Abwehrhaltung herauszufinden und ganz luftige, gelöste lyrische Gebilde zu schaffen, in denen die Nichtigkeit und Flüchtigkeit der Dinge dieser Welt ohne Bitterkeit, ja mit einer Art von heiterem Wohlwollen hingenommen wird.

      Es ist verständlich, dass in den siebziger Jahren angesichts der inflationären Ausbreitung einer ebenso unartifiziellen wie emotionslosen Lyrik das öffentliche Interesse an Poesie rapide nachließ. Gleichzeitig besannen sich jene wenigen, denen überhaupt noch an Lyrik lag, auf die bewussten Abweichler von der lyrischen Norm, auf Dichter wie etwa Rainer Brambach, Walter Helmut Fritz, Christoph Meckel, Rolf Haufs, Manfred Peter Hein, Alfred Kolleritsch, die unbeirrt durch literarische Moden oder mangelnde öffentliche Anerkennung schon immer das Existenzrecht der Poesie auf jeweils unverwechselbare und unspektakuläre Weise verteidigt hatten. Und es gerieten jetzt endlich auch jene ins Blickfeld, die sozusagen gar keine Wahl hatten und wie unter Diktat ihrer Not und inneren Bewegung ein Ventil im Gedicht schaffen mussten, wie etwa Christine Lavant. Diese 1919 als neuntes Kind eines Bergmannes geborene und zeitlebens schwer kranke und depressive Kärntner Dichterin, die sich und ihrem invaliden Mann mit Stricken den Lebensunterhalt verdiente, schrieb Gedichte von einer geradezu erschreckend elementaren Gewalt und halluzinatorischen Besessenheit. In diesen Gedichten wird Kafkas Wort, dem zufolge das Gebet die höchste Form der Dichtung sei, wahrhaft eingelöst, wenn es sich dabei auch eher um »Lästergebete« handelt (so hat der Trakl-Mentor Ludwig von Ficker diese Lavant-Gedichte umschrieben). In der uralten lazarenischen Sprache – der Sprache der Trunkenen, Irren, Besessenen und Aussätzigen – hadert die Dichterin mit der missglückten Schöpfung, in der Kain gesiegt hat, und mit einem Gott, der gegenüber der wehrlosen Kreatur »als Werwolf haust«. Es war Thomas Bernhard, der zuletzt noch seine ganze Reputation in die Waagschale warf und mit einer von ihm besorgten Lavant-Gedichtauswahl die Aufmerksamkeit auf diese von Gott und den Menschen geschlagene Metaphysikerin zu lenken versuchte.

      Die Wiederentdeckung Ernst Meisters, eines anderen Dichters von vibrierender


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