Die Welt verdient keinen Weltuntergang. Peter Hamm

Die Welt verdient keinen Weltuntergang - Peter Hamm


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ein KZ-Opfer gewesen war) 1947 den Gedichtband »Welten« in seinem frisch gegründeten eigenen Verlag heraus. Leider ohne jedes Echo. Dabei handelte es sich hier um die Manifestation der wohl bedeutendsten modernen deutschsprachigen Lyrikerin nach Else Lasker-Schüler und neben Nelly Sachs, der späteren Nobelpreisträgerin. Meist in traditioneller Strophenform geschrieben, überbrücken die stärksten Gedichte Gertrud Kolmars den blutigen Zeitenraum bis zurück zu Kain und Abel mit der Inbrunst einer biblischen Stimme, wobei viele dieser Gedichte sogar einer Sphäre des Vormenschlichen, des Tellurischen und Anorganischen angehören – oder dort Schutz zu suchen scheinen. Viele werden nur von Pflanzen und Tieren bevölkert und hier wiederum vorwiegend von verachteten oder von Menschen gemiedenen Tieren – wie etwa der Kröte, die in einem späten Kolmar-Gedicht zum Inbild jenes wie Ungeziefer vernichteten auserwählten Volkes wird, dem die Dichterin angehörte: »Komm denn und töte! / Mag ich nur ekles Geziefer dir sein: / Ich bin die Kröte / Und trage den Edelstein«.

      Nicht nur Gertrud Kolmars Gedichte fanden in den Nachkriegsjahren kein Gehör, auch auf die im Stockholmer Exil lebende Nelly Sachs, von der 1947 in Ost-Berlin der Gedichtband »In den Wohnungen des Todes« und 1949 bei einem Amsterdamer Emigranten-Verlag der Band »Sternverdunkelung« erschienen waren, wurde man in Westdeutschland erst in den späten fünfziger Jahren aufmerksam, als der zwar kleine, aber renommierte Verlag Heinrich Ellermann in München ihren Gedichtband »Und niemand weiß weiter« druckte. Im Gegensatz zu Gertrud Kolmar, die nur in ganz wenigen Gedichten unverschlüsselt vom Schicksal ihres Volkes gesprochen hatte, war nahezu jedes Nelly-Sachs-Gedicht eine unmittelbare Reaktion auf den Holocaust, war leidenschaftliche Klage und Flehen nach Erlösung von der »Totschlägerwirklichkeit«. Wie im Falle Gertrud Kolmars ist auch die Kraft der Gedichte von Nelly Sachs nicht aus Biblischem geborgt, sondern dort gegründet. Das wilde kosmische Sprechen und die verzückt visionäre Metaphorik der Propheten und Psalmisten feiern in diesen Gedichten Auferstehung und heben sie weit hinaus über jeden individuellen Kunstanspruch und jede ästhetische Doktrin.

      Zwar wurde nach 1945 ein Wort wie »Vergangenheitsbewältigung« Mode, aber praktiziert wurde diese eher als Vergangenheits-Verdrängung. Das erklärt, warum Gertrud Kolmar, Nelly Sachs und so viele andere verfolgte und emigrierte deutsche Dichter damals – und oft bis heute – ungehört blieben. Weder die erste frei gewählte westdeutsche Nachkriegs-Regierung noch eine spätere Bundesregierung kam je auf die Idee, die Vertriebenen und Überlebenden offiziell zur Rückkehr in die alte Heimat aufzufordern (im Gegensatz zum kommunistischen deutschen Teilstaat, der geradezu warb um emigrierte Künstler und sehr vielen auch eine neue deutsche Heimstatt bot). Also blieben die westdeutschen Autoren erst einmal unter sich und mithin auch abgeschnitten von der eigenen literarischen Tradition, die seit 1933 gewaltsam unterbrochen und nur von den vertriebenen jüdischen oder antifaschistischen Autoren fortgeführt worden war. (Um nur zwei Bedeutende von ihnen zu nennen, die bis heute auch vermeintlichen Lyrikkennern hierzulande unbekannt sind: Franz Baermann Steiner, 1909 in Prag geboren und 1952 in Oxford gestorben, und Jesse Thoor alias Peter Höfler, 1905 in Berlin geboren und 1952 in Lienz gestorben.)

      Einen einzigen Dichter allerdings gab es, der nach 1945 so etwas wie den Anschluss an die Moderne der Vorkriegszeit zu garantieren schien und der in den fünfziger Jahren denn auch zur allseits bewunderten und imitierten Vaterfigur der jüngeren Lyriker des Westens avancierte. Es war dies der 1886 geborene Gottfried Benn, seines Zeichens Facharzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten in Berlin. Einst, in seiner expressionistischen Frühphase, hatte Benn mit seinem Gedichtband »Morgue« (1912) für Aufruhr gesorgt, fanden sich dort doch Gedichte, die den Geschmack des wilhelminischen Bürgertums tief verletzten (»Europa, dieser Nasenpopel / aus einer Konfirmandennase, / wir wollen nach Alaska gehn …«). Inzwischen schrieb Benn längst Gedichte von einer müden und mondänen Melancholie, die mühelos konsumierbar waren – und konsumiert wurden wie Drogen. Einem gerade noch einmal davongekommenen Bürgertum erschien Benn auch deshalb in einem fatalen Sinne ›vertrauenerweckend‹, weil er selbst mit dem Makel des Mitmachens behaftet war. In seinem Buch »Kunst und Macht« hatte Benn 1934 den Nationalsozialismus und seinen »Rassegedanken« emphatisch begrüßt (»Die weiße Rasse, das ist Deutschland, Jugend, vergiß es nie, ihre letzte Züchtung, ihr letzter Glanz bist du«).

      Wenn Benns Begeisterung für den Nationalsozialismus auch bald gebremst wurde und er einsehen musste, dass nicht, wie er erhofft und verkündet hatte, eine geistige Elite in Deutschland die Macht ergriffen hatte, sondern das ressentimentgeladene Klein- und Spießbürgertum (»das Ganze kommt mir allmählich vor wie eine Schmiere, die fortwährend ›Faust‹ ankündigt, aber die Besetzung langt nur für ›Husarenfieber‹«), so blieb doch das Lebensgefühl, das seine Gedichte nach wie vor transportierten, tief regressiv. »O daß wir unsere Ururahnen wären. / Ein Klümpchen Schleim in einem warmen Moor«, so hatte der frühe Benn gedichtet. Jetzt, nach dem großen Morden, knüpfte er wieder an diesen Rückwärtsträumen an und erteilte in seinen »Statischen Gedichten« (1948) dem Fortschrittsgedanken und der Geschichte eine schroffe Absage: »Entwicklungsfremdheit / ist die Tiefe des Weisen«. Und wenn der alte Benn reimte: »Ob Rosen, ob Schnee, ob Meere, / was alles erblühte, verblich, / es gibt nur zwei Dinge: die Leere / und das gezeichnete Ich«, so war ihm der Applaus derer sicher, die aus naheliegenden Gründen das große Vergessen und die große Leere ersehnten.

      Es passt ins Bild, dass der mit Abstand erfolgreichste, ja geradezu populäre junge Dichter jener Jahre nicht nur Benn-Adept – und von diesem hochgelobt – war, sondern sich auch als Betrüger entpuppte. George Forestier, Verfasser des Gedichtbandes »Ich schreibe mein Herz in den Staub der Straße« (1952), hatte weder das abenteuerliche Leben in der Fremdenlegion geführt, mit dem der Klappentext seines Buches den Lesern den Mund wässerte, noch hieß er Forestier, ja, er war nicht einmal jung, sondern ein biederer älterer Verlagslektor namens Krämer hatte sich so kostümiert, wie es dem Zeitgeist gefiel. Heute kennt von den Jüngeren keiner mehr seinen Namen.

      Dem Sog, den Benns Tonfall und Weltschmerz damals ausübten, konnten sich aber auch die seriöseren unter den tatsächlich jungen Dichtern nicht entziehen, die politisch links standen und gegen die regressive und restaurative Stimmung in Westdeutschland aufbegehrten, wie etwa Werner Riegel und sein Freund Peter Rühmkorf, 1925 und 1929 geboren, die 1952 in Hamburg die Zeitschrift »Zwischen den Kriegen – Blätter gegen die Zeit« gegründet hatten und ihre Art zu dichten »Finismus« tauften. Auch wenn Riegel und Rühmkorf andere Absichten als ihr Vorbild Benn hatten und sie ihren Finismus als Alternative zu jener Art Wald-und-Wiesen-Dichtung verstanden, deren Verfasser Benn als »Nüssebewisperer« verspottet hatte, so produzierten sie, indem sie sich von Benns Sound nicht lösen konnten, selbst doch auch nichts anderes als jene von Rühmkorf an Benn beobachtete »kandierte Romantik nach dem ges. gesch. Geschmack des Restauratoriums, das La Paloma der intellektuellen Demimonde«. Das klang dann etwa so: »Ich bin Europas verlorener Sohn. / Siehe die trübe Gestalt! / Ich komme und stelle zur Diskussion / Denken und Darminhalt«.

      Gottfried Benn stand damals allerdings noch für etwas anderes als Geschichtsmüdigkeit und Regression, nämlich für den Absolutheitsanspruch der Kunst, den so vehement und extrem kaum mehr jemand seit Mallarmé und Stefan George vertreten hatte. Wenn Mallarmé propagiert hatte: »Schließe das Wirkliche aus, es ist gemein!«, so behauptete Benn: »Das Wort des Lyrikers vertritt keine Idee, vertritt keinen Gedanken und kein Ideal, es ist Existenz an sich, Ausdruck, Miene, Hauch«. Kunst als Refugium oder Enklave des Zeitlosen und als Abkehr von der gemeinen Wirklichkeit: Auch das musste eine Intellektuellen-Generation faszinieren, der die zeitliche Wirklichkeit fast nur Unangenehmes eingebracht hatte und die zugleich auch von der Aufbau-Euphorie ringsum mehr abgestoßen als angesteckt war.

      Freilich gab es neben Gottfried Benn noch einen großen deutschen Dichter, der so etwas wie die Kontinuität der Moderne verkörperte, es gab Bertolt Brecht. Doch es gab Brecht, den erklärten Antipoden Benns, eben nicht in West-, sondern in Ostdeutschland, und es dauerte unter den Bedingungen des Kalten Krieges, als für einen Westdeutschen Paris oder London wesentlich näher lagen als Ost-Berlin, ziemlich lange, bis Brecht auch in den Westen herüberwirkte. Zunächst beschränkte sich Brechts Einfluss ganz auf die jungen sowjetzonalen Lyriker. Propagierte Benn das Gedicht an niemand gerichtet, so forderte Brecht das eingreifende, das politisch bewusste Gedicht. Wo Benn die hehre Nutzlosigkeit von Kunst beschwor, glaubte Brecht an deren »gesellschaftlichen Gebrauchswert«, gegen Benns Kulturpessimismus


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