Die Welt verdient keinen Weltuntergang. Peter Hamm

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       Impressum

      Goethes Nöte – Nöte mit Goethe

      »Manchmal habe ich das Gefühl, als ob Goethe nicht durch die Hölle des menschlichen Daseins gegangen ist, wie etwa Hölderlin und van Gogh, Poe und Dostojewski, und dass ihm darum doch manchmal etwas fehlt, das, was eben gerade die Allergrößten kennzeichnet«: Das schrieb 1944 im KZ Dachau der Häftling und glühende Goethe-Bewunderer Nico Rost.

      Es gibt eine Sorte von Schriftstellern, es sind die Märtyrer der Literatur, vor denen wird alles, was man über sie sagt, vergröbernd, profan, unangemessen. Ihnen kann man nur entsprechen – oder nicht entsprechen. Sie appellieren weniger an unser Verständnis als an unsere Existenz. Hölderlin, Kafka, Robert Walser waren solche Autoren. Denen gegenüber ist, solange man sich selbst noch zweckmäßig zu verhalten versteht, Scham wohl die einzig angemessene Reaktion. Zu anderen Autoren, es sind die Repräsentanten, darf man Ansichten äußern, Widerspruch anmelden. Auch zu Goethe? Vom armen Mann im Tübinger Turm bis zum Herrn Geheimen Staatsminister in Weimar: Das ist jedenfalls der denkbar weiteste Weg. Und umgekehrt, von Weimar nach Tübingen, führt da überhaupt ein Weg?

      Den Märtyrern der Literatur war alles vorgeschrieben, der Frankfurter Großbürgersohn hatte die Wahl. Scheinbar. Aber er brauchte ein Programm, ein Rechtfertigungs-Programm. Wenn Goethe die Märtyrer der Literatur so auffallend heftig abwehrte und das Klassische als das Gesunde gegen sie ausspielte, tat er es gewiss nicht aus mangelndem Verständnis, sondern als Verfechter seines Programms. Ihm passte die ganze Richtung nicht, die Richtung nach unten. In diese Richtung, in Richtung Abgrund und »Lazarettpoesie«, wollte er sich nicht ziehen lassen. Aber zog es ihn überhaupt? Musste er sich wehren? Der sich vor Beerdigungen so fürchtete, dass er zu keinem Begräbnis – nicht einmal dem der eigenen Frau – erschien, war ja wohl nicht lediglich eifersüchtig auf die anderen, die Schmerzensmänner, denen die Todesnähe selbstverständlich war. Werthers Leiden waren schließlich von der Art, dass dem Jüngling mit gelber Hose und blauem Frack nur der Griff zur Pistole blieb. In »Faust II« heißt es: »Jeder Trost ist niederträchtig, und Verzweiflung nur ist Pflicht.« Dass er sich, wo immer es ging, dieser Pflicht zu entziehen suchte, ist das nur vernünftig-verständlich oder vielleicht doch noch mehr?

      Nachdem Goethe 1812 in Teplitz Beethoven kennengelernt hatte, schrieb er an Zelter: »Sein Talent hat mich in Erstaunen gesetzt; allein er ist leider eine ganz ungebändigte Persönlichkeit, die zwar gar nicht unrecht hat, wenn sie die Welt detestabel findet, aber sie freilich dadurch weder für sich noch für andere genussreicher macht.« Das ist Goethes Rechtfertigungs-Programm in nuce. Es lautet: Nur Bändigung garantiert ein bisschen Genuss! Aber der ungebändigte Beethoven leuchtet in der Teplitzer Konstellation freilich viel stärker. Der Bändigungspanzer des Repräsentanten (der Goethe damals längst ist) schützt nicht nur, er verbirgt und verfremdet auch.

      »Goethes dauernde Fremdheit«, so überschrieb Joachim Fest eine noble Rede, mit der er sich für die Verleihung der Goethe-Plakette der Stadt Frankfurt bedankte. Fests Titel zielt auf zweierlei: wie sehr Goethe der Nation, die sich so gern seines Namens bedient, im Grunde fremd geblieben ist, aber auch, wie sehr er jene, die sich ihm zu nähern versuchten, immer wieder befremdete und abstieß. Schon Schiller bekannte: »Öfters um Goethe zu sein, würde mich unglücklich machen: er hat auch gegen seine nächsten Freunde kein Moment der Ergießung, er ist an nichts zu fassen … Er machte seine Existenz wohltätig kund, aber nur wie ein Gott, ohne sich selbst zu geben … Ein solches Wesen sollten die Menschen nicht um sich herum aufkommen lassen.« Dieses wahrhaft entsetzliche Resümee inspirierte Thomas Mann dann zu seiner Schiller-Erzählung »Schwere Stunde«.

      1912 plante Franz Kafka, laut Tagebuch, einen Aufsatz des Titels: »Goethes entsetzliches Wesen«. Wenige Wochen später vermeldet das Tagebuch: »Goethe, Trost im Schmerz«. Was nun, Entsetzen oder Trost? Offensichtlich löst Goethe beide Reaktionen, beide Gefühle aus. Seine Widersprüchlichkeit entspricht genau seiner Größe. Und Entsetzliches und Tröstlich-Erhebendes liegen bei ihm noch näher beisammen als die beiden Eintragungen in Kafkas Tagebuch, ja sie sind oft ineinander verwirkt bis zur Ununterscheidbarkeit. Schon deshalb ist Goethe das Gegenteil von einem populären Autor. Zur Popularität gehört Eindeutigkeit, die Eindeutigkeit Schillers etwa.

      »Warum stehen sie davor? / Sind doch Türe da und Tor! / Kämen sie getrost herein, / Würden wohl empfangen sein«: Um eine Bildunterschrift zu der 1827 von O. Wagner verfertigten Zeichnung seines Hauses am Frauenplan gebeten, lieferte Goethe diesen – ziemlich geschwindelten – Vierzeiler. Wahrhaftiger war wohl seine Tagebucheintragung von 1778: »Ich bin nicht zu dieser Welt gemacht. Wie man aus seinem Haus tritt, geht man auf lauter Kot.« Tatsächlich waren ihm die impertinenten Goethe(haus)gaffer genauso zuwider wie die Goethe-Indifferenten, die Masse, über die er skandalöse Sätze geschrieben hat, etwa diesen: »Gestern tief in dem Geschwirre der Messegeleits-Zeremonien fiel mir Ariostens Wort vom Pöbel ein: wert des Tods, vor der Geburt.« Eine andere seiner Auslassungen über die Masse ist schon schwerer abzuweisen: »Nichts ist widerwärtiger als die Majorität: denn sie besteht aus wenigen kräftigen Vorgängern, aus Schelmen, die sich akkomodieren, aus Schwachen, die sich assimilieren, und der Masse, die nachtrollt, ohne nur im mindesten zu wissen, was sie will.«

      Kein Zweifel: Sich selbst zählte er zu den kräftigen Vorgängern, und sein Lebensmotto könnte lauten: »Sagt es niemand, nur den Weisen, / Weil die Menge gleich verhöhnet …« Ihm schien »edlen Seelen vorzufühlen wünschenswertester Beruf«. Noch der Greis gestand Eckermann: »Liebes Kind, ich will Ihnen etwas vertraun … Meine Sachen können nicht populär werden; wer daran denkt und dafür strebt, ist in einem Irrtum. Sie sind nicht für die Masse geschrieben, sondern nur für einzelne Menschen, die etwas Ähnliches wollen und suchen.«

      Nun war es allerdings gerade der junge Goethe-Anbeter Eckermann, der diesen Irrtum, Goethe populär machen zu wollen, beging: Seine Gespräche mit Goethe haben das bis heute nachwirkende Goethebild vom Olympier, vom tönenden Gips-Denkmal in die Welt gesetzt. Durch dieses Buch, das doch lediglich die letzten neun Jahre eines dreiundachtzigjährigen Lebens weniger spiegelt als in ein majestätisches Biedermeier projiziert, wird Goethe jener »joviale Alterspräsident der europäischen Literatur, der auf die verschiedensten Fragen prompt mit druckreifen Aphorismen antwortet« (Josef Hofmiller). Derselbe Nietzsche, der Eckermanns Gespräche mit Goethe als das beste deutsche Buch überhaupt rühmte, beklagte, dass Goethe in der Geschichte der Deutschen »ein Zwischenfall ohne Folgen« gewesen sei. Dass diese Folgenlosigkeit eben auch mit Eckermanns Goethe-Zubereitung zu tun hatte, wie konnte ihm das entgehen? Auch bei den Goethe-Bewunderern also ebenso viele Widersprüche wie beim Objekt ihrer Bewunderung?

      Schon dem jungen Gottfried Keller, den es schmerzte, »daß das große Genie (Goethe) einen solchen Privatcharakter oder vielmehr Privatnichtcharakter hatte«, ging der Goethekult nicht nur deswegen fürchterlich auf die Nerven: »Es existiert eine Art Muckertum im Goethe-Kultus, das nicht von Produzierenden, sondern von wirklichen Philistern, vulgo Laien, betrieben wird. Jedes Gespräch wird durch den geweihten Namen beherrscht, jede neue Publikation über Goethe beklatscht – er selbst aber nicht mehr gelesen.« Ein gelesener Autor war Goethe im Grunde tatsächlich nur einmal, mit seinem »Werther«. Alles Spätere und Weitere war Lektüre für Wenige. Der eminent schwierige »Hesperus« des Jean Paul war, gemessen am vergleichsweise süffigen »Wilhelm Meister«, ein Bestseller.

      Als 1832 Goethe starb, war das der führenden deutschen Zeitschrift, dem »Stuttgarter Literaturblatt«, keine Notiz wert, obwohl diese Zeitschrift bei Cotta erschien, dem Verlag also, der das ausschließliche Verlagsrecht an Goethes Werken innehatte.

      Der Mann der Stunde, ja des Jahrhunderts war Schiller. Ihm und nicht Goethe wurde kaum fünf Jahre später in Stuttgart das erste Denkmal errichtet, das nicht einen Feldherrn oder Regenten zeigte, sondern einen Schriftsteller. Wieder einige Jahre später, 1849, blieb der hundertste Geburtstag Goethes in Deutschland fast unbemerkt, während ein Jahrzehnt darauf, bei Schillers Hundertstem, ganz Deutschland in einen Begeisterungstaumel ohnegleichen geriet. Man – genauer: das sich emanzipierende deutsche Bürgertum – verzieh Goethe den Höfling nicht, den


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