Die Welt verdient keinen Weltuntergang. Peter Hamm

Die Welt verdient keinen Weltuntergang - Peter Hamm


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Was uns, nach den letzten Kriegen und gescheiterten Revolutionen, bereits wieder als Zeugnis von Goethes Lebensklugheit vorkommen mag, erschien seinen jüngeren progressiven Zeitgenossen unannehmbar. »Stabilitätsnarr« nannte ihn Börne und – eine Spur respektvoller – »einen Adler, der unter einer Dachtraufe nistet«. Beethoven schrieb nach der Teplitzer Begegnung an seinen Verleger: »Goethe behagt die Hofluft sehr, mehr als einem Dichter ziemt. Es ist nicht vielmehr über die Lächerlichkeit der Virtuosen hier zu reden, wenn Dichter, die als die ersten Lehrer der Nation angesehen sein sollten, über diesem Schimmer alles andere vergessen können.« Das war wohl exakt das, was man in Deutschland damals über Goethe dachte, es bestand das dringende Bedürfnis nach Lehrern der Nation; doch Goethe war etwas weniger und viel mehr zugleich, nämlich Lehrer der Einzelnen.

      Und seine Nation, sein Vaterland musste nicht erst erkämpft werden, sondern bestand schon längst: »Das Wahre war schon längst gefunden, / Hat edle Geisterschaft verbunden. / Das alte Wahre, fass es an!« Das alte Wahre, das war für Goethe das organische, das Ganze, die Natur – und mit ihr konnte das erwachende Deutschland wenig anfangen. Auch die Natur war nur als domestizierte genehm, als Ausbeutungsfeld und als Kulisse, als Zweck. Im Namen der Natur aber verwarf Goethe gerade Zweckdenken und Zweckdichter: »Natur und Kunst sind zu groß, um auf Zwecke auszugehen, und haben’s auch nicht nötig, denn Bezüge gibt’s überall und Bezüge sind das Leben

      Bezüge bedeuteten ihm mehr als Behauptungen, Polarität mehr als Parteinahme. »Mir scheint …, dass sich alles gut verbindet, wenn man den Begriff der Polarität zum Leitfaden nimmt …«, schrieb er zur Erläuterung der »Farbenlehre«. Die in Hegels Dialektik »konkret« genannte Einheit von Gegensätzen versuchte auch Goethe an allen Erscheinungen wahrzunehmen. Mit »elbischer Dichtergesinnungslosigkeit«, die Thomas Mann ihm attestierte (um die eigne zu legitimieren), hat das nichts zu tun.

      Im Übrigen sah Goethe im Alter etwa die Französische Revolution, die er zunächst so schroff abgelehnt hatte, sehr wohl als »Folge einer großen Notwendigkeit«, auch wenn ihm ihre direkte Übertragung auf Deutschland, sicher zu Recht, immer noch nicht möglich schien. »Das kollektive Wesen, das den Namen Goethe trägt« – es ist der Greis Goethe, der sich selbst so charakterisiert –, hatte sich entferntere Ziele als bloß politisch-parteiische gesteckt. »Willst du ins Unendliche schreiten, / Geh im Endlichen nach allen Seiten«: so eine Maxime sorgte bei der aufs Endliche orientierten verspäteten Nation – bei den Deutschen – nicht für Beliebtheit. Dass Goethe allerdings geradezu undeutsch gewesen wäre, lässt sich auch nicht behaupten; gerade an deutschen Defiziten partizipierte er heftig, man denke nur an seine Angst vor Unordnung. »Es liegt nun einmal in meiner Natur, ich will lieber eine Ungerechtigkeit begehen, als eine Unordnung ertragen«: Dieser so eminent deutsche Satz Goethes ist ebenso wenig zu retten wie seine philiströse »Lebensregel«: »Willst du dir ein hübsch Leben zimmern, / Mußt dich um’s Vergangne nicht bekümmern«, eine Devise, an die sich nach 1945 die kurz zuvor gerade wieder einmal zu heftig erwachte Nation getreulich gehalten hat.

      Als der Tod sich nicht länger abweisen ließ und ans Zimmern eines hübschen Lebens wahrlich nicht mehr zu denken war, kümmerte sich Goethe auch dergestalt ums Vergangne, dass er sich Briefe, die er ein halbes Jahrhundert zuvor geschrieben hatte, von den Empfängern zurückerbat: Er wollte sich ein hübsches Nachleben zimmern. Goethe war ums künftige Goethe-Bild penibel besorgt und wahrscheinlich desto mehr, je weniger Echo sein Werk in seinen letzten Lebensjahren auslöste. Dass er sein Nachleben sichern wollte, indem er das eigne Bild so abschliff und aufs Gesunde und Lebenstüchtige hinbog, wie es durch Eckermann – dem er sich ja bewusst so präsentierte – auf uns gekommen ist, darin darf man wohl auch seine Angst am Werk sehen, die Angst, mit dem Tod im Rachen des »ewig verschlingenden, ewig wiederkäuenden Ungeheuers« zu verschwinden, das für ihn Natur auch war – und die menschliche Gesellschaft ohnehin.

      Überhaupt seine Angst! Wie hat er sich bemüht, sie zu kaschieren, sie zu leugnen, er, der doch die Schönheit »eine Tochter der Angst« nannte! Man sollte ja nicht vergessen, dass das neugeborene Kind Wolfgang drei Tage lang um sein Leben zu kämpfen hatte und wie bereits den Sechsjährigen die »schrankenlose Willkür der Natur« entsetzt hat, als er 1755 vom Erdbeben in Lissabon hörte. Hier, in den frühen traumatischen Erfahrungen der Zerstörung und des Kampfes gegen den Tod, hat der »Dämon des Schreckens« eine der Wurzeln gelegt für Goethes Hypersensibilität und sein zeitlebens beharrlich verfolgtes Harmonisierungs- und Ganzheitsprogramm.

      An Frau von Stein schrieb Goethe im Juni 1787 aus Rom: »Übrigens habe ich glückliche Menschen kennenlernen (dürfen), die es nur sind, weil sie ganz sind, auch der Geringste, wenn er ganz ist, kann glücklich und in seiner Art vollkommen sein, das will und muss ich nun auch erlangen, und ich kann’s, wenigstens weiß ich, wo es liegt und wie es steht, ich habe mich auf dieser Reise unsäglich kennen lernen.« Diesen Brief schrieb kein glücklicher, kein ganzer, sondern ein ziemlich zersplitterter Mensch (und dass Goethe erst in Italien zu sich zu finden begann und die alte Angst ein wenig abschütteln konnte, ist noch einmal ein bezeichnendes Kapitel im Buch »Goethe und die Deutschen«). Das Harmoniegefühl der Griechen, das er so pries, hatte er selbst sicher nicht, er hätte es sonst schwerlich in Italien suchen müssen; der »harmonische Mensch« Goethe ist ebenso eine Legende wie der gesunde Goethe, allerdings konnte er, wie Gottfried Benn betonte, »seine Zusammenbrüche gut verschleiern«.

      »Ich suchte mich vor diesem furchtbaren (dämonischen) Wesen zu retten, indem ich mich nach meiner Gewohnheit hinter ein Bild flüchtete«, so lesen wir’s im »Wilhelm Meister«. – Bild, das bedeutet Flucht – Goethe sagt es selbst –, und wie seine Reise nach Italien Flucht war, so war Flucht seine lebenslange Abwehr des Tragischen, des Negativen; bekanntlich ertrug er das Bild des Gemarterten am Kreuze nicht, auch diesem wollte er ausweichen, wenn er Beerdigungen mied. Und Flucht war wohl auch sein Ausweichen in das, was er für Naturwissenschaft hielt, was aber doch mehr Naturglaube war. »Goethes morphologische Betrachtungsweise«, sagt Adolf Muschg, »ist ja nichts anderes als die Entdeckung eines ›heilsgeschichtlichen Prinzips‹ in der Natur! Und im Grunde bleibt es für Goethe ein Leben lang die einzige Form von Geschichte, die ihn interessiert, während er in der politischen Weltgeschichte keinen Sinn zu erkennen vermag. Sinnvoll wird die Geschichte durch die immanente Autorität eines Gesetzes, und bei den Subjekten durch den Glauben an dieses Gesetz, der sich zu dessen Wahrnehmung und frommen Anschauung steigert.«

      Auch noch sein Insistieren auf der reinen Anschauung ist Flucht, Flucht vor der eigenen Ruhelosigkeit und Getriebenheit in die Ruhe der Naturbetrachtung. »Die verfluchte Unnatur«, so hat er Kleist abgewehrt, dem die Flucht in die ruhige Naturbetrachtung nicht gelang, sondern nur in einen inmitten der Naturkulisse schön inszenierten Freitod. Aus seiner »Campagne in Frankreich« wissen wir, wie Goethe dem verzweifelten Plessing (den er – wohl auch im Versuch seiner Abwehr des Tragischen – incognito aufsuchte) riet, »… man werde sich aus einem schmerzlichen, selbstquälerischen, düstern Seelenzustande nur durch Naturbeschauung und herzliche Teilnahme an der äußern Welt retten und befreien; schon die allgemeinste Bekanntschaft mit der Natur, gleichviel von welcher Seite, ein tätiges Eingreifen, sei es als Gärtner oder Landbebauer, als Jäger oder Bergmann, zieht uns von uns selbst ab.« Darauf also kommt es an: sich von sich selbst abzuziehen. Selbstwerdung durch Selbstminimalisierung.

      Cioran hat einmal Goethes »großartige Mittelmäßigkeit« nicht etwa polemisch angeprangert, sondern gepriesen. Großartig ist diese Mittelmäßigkeit, weil ein so maßloser, so von Gegensätzen zerrissener Mensch wie Goethe sich permanent zwang, statt der Extreme das Mittlere anzustreben, sein Maß in der Mäßigung zu finden, auch auf die Gefahr hin, philiströs zu erscheinen. Seine großartige Mittelmäßigkeit ist seine Humanität. Und zu dieser gehört eben auch, dass Goethe stets ein Feind alles Finsteren und ein der Schöpfungsformel »Es werde Licht!« Verpflichteter blieb. Der sich 1775 den »herrlichen Morgenstern« zum Wappen wählte, schrieb im »Divan«: »Laß mich nicht so der Nacht, dem Schmerze, / Du Allerliebstes, du mein Mondgesicht, / O du mein Phosphor, meine Kerze, / Du meine Sonne, du mein Licht.« Dass wir fürs Licht geboren sind, das war seine Überzeugung: »Wär’ nicht das Auge sonnenhaft, / Die Sonne könnt’ es nie erblicken. / Läg nicht in uns des Gottes eigne Kraft, / Wie könnt’


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