Die Welt verdient keinen Weltuntergang. Peter Hamm

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sei, beschimpfte ihn der rebellische Börne. Heute, zwanzig Jahre nach einer Rebellion, die jene Verhältnisse, die sie verändern wollte, nur noch stabilisierte, sind wir nicht mehr leichtfertig genug, Glück, Bequemlichkeit und Mäßigung als unbedingt reaktionäre Attribute zu denunzieren. Unser Bedarf an Zerschlagung, Chaos und Maßlosigkeit ist ebenso einigermaßen gedeckt wie unser Bedarf an einer politisierenden Bedürfnisliteratur, die ihre winzigen Wahrheiten auch stilistisch nur in kleinster Münze auszuzahlen in der Lage ist.

      »Der große Stil entsteht, wenn das Schöne den Sieg über das Ungeheure davonträgt«, das meinte Nietzsche mit Blick auf Goethe. »Den höheren Stil lehret die Liebe dich nur«, so deklarierte es Goethe selbst in den »Römischen Elegien«. Kein anderer Autor unserer Literaturgeschichte ließ sich so gern und so gut wie er von Liebe belehren, das ist sicher. Der Fünfundsiebzigjährige schrieb dann noch den beherzigenswerten Satz: »Wer mich nicht liebt, der darf mich auch nicht beurteilen.«

      Martin Walser, dem es lange Zeit ziemlich schwerfiel, Goethe zu lieben, weil er sich unmittelbarer zu denen hingezogen fühlte, die Selbstbewusstsein nur fingieren konnten, den Märtyrern der Literatur, die für ihn identisch sind mit Kleinbürgern, sieht inzwischen Goethe seine großbürgerliche Herkunft großzügig nach und hat hinter dem Selbstbewusstseins-Panzer des Weimarer Repräsentanten einen ganz anderen Goethe entdeckt, einen, dessen »vorsätzliche Güte« ihn mehr anzieht »als die vorsätzliche Ungüte, die jetzt in der Kunst so prächtig gedeiht«, einen, dessen Angezogensein »von dem jeweils Lebendigsten« ihn dazu befähigte, wenn schon nicht die deutsche Gesellschaft, so doch »das Gefühl und die Sprache aus dem Hof- und Kirchendienst zu befreien«.

      Walsers Goethefindungs-Prozess scheint symptomatisch für die Wandlungen des Goethe-Bildes seit den Gründerjahren und ihrer »Sophienausgabe«. Wenn Walser etwa als Goethes »größtes Lebenswerk … seine Gemeinschaft mit der sechzehn Jahre jüngeren Christiane Vulpius«, der von der Weimarer Gesellschaft geschnittenen Kleinbürgerin, preist, preist er nichts anderes als Cioran, eben Goethes großartige Mittelmäßigkeit, die ihn auch dazu befähigte, Klassenschranken zu ignorieren. Undenkbar allerdings, dass zu der Zeit, als die »Sophienausgabe« seiner Werke veranstaltet wurde, irgendwer Goethe ausgerechnet wegen seiner Beziehung zu Christiane gerühmt hätte – oder wegen seiner großartigen Mittelmäßigkeit! Die Epoche musste erst entsetzlich viel Extremes erzeugen, um diesen mittleren Goethe schätzen zu lernen.

      Jede Zeit, jede Generation hat ebenso ihren Goethe, wie jeder einzelne Leser seinen Goethe hat, jeweils konstruiert nach dem akuten Empfindungsbedürfnis. Die »Goethe-Gott-Puppe«, die Thomas Mann in seiner »Lotte in Weimar« auftreten ließ, Thomas Mann, dieser sich bei Goethe »ankumpelnde Imitator …, der sich für jedes konservative Gelüst rücksichtslos Zitate holte bei ihm« (Martin Walser), sie ist nur eine, wenn auch eine äußerst abstoßende Goethe-Vergegenwärtigung. Tatsächlich ist bei dieser Allnatur Goethe immerzu das zu holen, was die eigene Sehnsucht und die eigene Tendenz momentan gerade braucht. Goethe war sich, selbstredend, auch dessen bewusst: »Gewöhnlich hören die Menschen etwas anderes, als was ich sage«, schrieb er an Zelter – und dann folgt der für Goethes manchmal so abstoßende und dann wieder so anziehende Gelassenheit bezeichnende Zusatz: »und das mag denn auch gut sein«.

       Erstdruck in: DIE ZEIT, 4. 12. 1987.

      »Der Krieg wird nicht mehr erklärt, sondern fortgesetzt«

       Deutschsprachige Lyrik nach 1945

      Wer sich anschickt, die Entwicklung der deutschsprachigen Nachkriegslyrik in einer auch nur einigermaßen repräsentativen Auswahl zu dokumentieren, der gelangt rasch an einen Punkt, an dem immer mehr Fragezeichen sein Unternehmen begleiten, zumal wenn dieses für lyrikverwöhnte amerikanische Augen bestimmt ist. Angesichts der Wohltemperiertheit, die das Gros jener Gedichte kennzeichnet, die in den letzten Jahrzehnten zwischen Berlin und Wien, Hamburg und Zürich entstanden sind, muss ihn ebenso Resignation befallen wie angesichts der sprachlichen Unvermittelbarkeit dessen, was aus der neueren deutschsprachigen Dichtung unverwechselbar und bedeutsam herausragt.

      Deutsch ist offenkundig keine Weltsprache mehr. Ein deutsch schreibender Dichter ist nicht mehr von vornherein im Vorteil gegenüber einem polnisch, tschechisch oder schwedisch schreibenden. Im Konzert der modernen Weltpoesie wird jedenfalls eine englische oder romanische – auch eine russische – Stimme weit eher und besser vernommen als eine deutsche. So ging von keinem deutschsprachigen dieses Jahrhunderts, nicht einmal von Rilke (erst recht nicht von Benn und Brecht), eine vergleichbare epochale und d. h. innovatorische Wirkung aus wie etwa von Walt Whitmans »Leaves of Grass«, Wallace Stevens’ »The Man with the Blue Guitar«, T. S. Eliots »The Waste Land«, William Carlos Williams’ »Paterson«, W. H. Audens »The Age of Anxiety«, Robert Lowells »For the Union Dead« oder zuletzt noch von Allen Ginsbergs »Howl« (um nur die allerwichtigsten jener englischsprachigen Gedichtbände zu nennen, die das Bild der modernen Poesie weit über den englischen Sprachraum hinaus geprägt haben). Ironischerweise erzielte nur ein einziger deutscher Dichter – und zwar einer aus dem achtzehnten Jahrhundert – so etwas wie eine moderne Weltwirkung, es war Friedrich Hölderlin, der allerdings auch im deutschen Sprachraum erst von Dichtern unseres Jahrhunderts in seiner wahrhaft überragenden Bedeutung erkannt worden war.

      Die Ursache für die mangelnde Welthaltigkeit der lyrischen Durchschnittsproduktion einerseits und die eingeschränkte Weltwirkung der bedeutenden Ausnahmeerscheinungen unter den modernen deutschsprachigen Lyrikern andererseits ist aber nicht nur im Sprachlichen gegründet, sondern mehr noch im Geschichtlichen, nämlich in der Diskontinuität ihres Erscheinungsbildes, die eine Folge der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft von 1933 bis 1945 ist. In einem Land wie den USA und aus einer Perspektive wie jener der Zeitschrift »Poetry«, die 1912 begründet wurde und bis zum heutigen Tage die englischsprachige Lyrikentwicklung kontinuierlich kommentiert und begleitet, kann man sich vermutlich nur schwer vorstellen, was es für einen jungen deutschsprachigen Dichter der vierziger und fünfziger Jahre bedeutete, von jeder Entwicklung der modernen deutschen und erst recht der modernen Weltpoesie abgeschnitten zu sein. So fragwürdig der Begriff von der »Stunde Null«, mit dem in Deutschland gern der Beginn der Nachkriegszeit belegt wurde, politisch auch war (weil er implizierte, es sei davor nichts gewesen, und also der Verdrängung diente), so fraglos traf er auf die literarische Situation zu.

      In den zwölf Jahren von 1933 bis 1945 hatte nicht nur nichts, woran man später hätte anknüpfen können, entstehen dürfen, es war auch alles, was von der Moderne der Vorkriegszeit einer kontinuierlichen Weiterentwicklung wert gewesen wäre, als ›entartet‹ geächtet gewesen. Und erst recht wurde der Blick über die Landes- und Sprachgrenzen hinaus unter Strafe gestellt. Das erklärt, warum dann, als Ende der vierziger Jahre Einflüsse von draußen ebenso wieder erfolgten, wie die Wiederfindung der eigenen Moderne möglich war, diese Einflüsse oft eine eher negative Wirkung ausübten. Sie waren so überwältigend neu, dass sie zumeist ziemlich ungefiltert und unreflektiert übernommen wurden und entsprechend epigonale Resultate zeitigten. Es gab in Deutschland plötzlich lauter kleine deutsche Eliots, Pounds, Éluards, Benns und Brechts.

      Weit mehr noch als derartig formalästhetische Probleme machten aber moralische Aporien den deutschen und österreichischen Nachkriegsdichtern zu schaffen. Der Zivilisationsbruch, der soeben stattgefunden hatte, war so über alle Maßen unfassbar und ungeheuerlich, dass er eigentlich jedem Fühlenden die Stimme verschlagen musste. Nur noch der Schrei oder schamhaftes Verstummen schienen eine einigermaßen angemessene Reaktion darauf. Die »Tendenz zum Verstummen« attestierte denn auch Paul Celan, selbst ein Überlebender des Holocaust, dem neuen Gedicht insgesamt. Bezeichnenderweise wurde in den Lyrikdebatten der Nachkriegszeit und noch bis in die siebziger Jahre hinein kein anderer Satz so häufig zitiert und so heftig diskutiert wie jener des aus dem amerikanischen Exil nach Frankfurt zurückgekehrten Kulturphilosophen Theodor W. Adorno, der besagte, es sei barbarisch, ja unmöglich, nach Auschwitz noch ein Gedicht zu schreiben. Mit gleichem Recht hätte Adorno freilich dekretieren können, es sei barbarisch, nach Auschwitz noch weiter essen und atmen zu wollen.

      So viel jedoch ist sicher: ohne Reflexion der anthropologischen Möglichkeit Auschwitz ließ sich kein deutsches


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