Die Welt verdient keinen Weltuntergang. Peter Hamm

Die Welt verdient keinen Weltuntergang - Peter Hamm


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vorweisen können, er stand mit jedem neuen Gedicht auch auf dem moralischen Prüfstand. Doch ebendiese moralische Hypothek war es nun wiederum, die so viele Gedichte – und Dichter – erdrückte, sie ins völlige Verstummen trieb oder aber, noch schlimmer, ins Predigen. Das übermächtige Gefühl der Verantwortung für den Zustand des menschlichen Gewissens schlug sich genauso oft als ästhetisches Defizit nieder wie moralische Bedenkenlosigkeit oder naive Arglosigkeit.

      Schon vor Kriegsbeginn hatte Bertolt Brecht sein programmatisches Gedicht »An die Nachgeborenen« geschrieben, in dem er die Unmöglichkeit, noch arglos zu sprechen, beklagte: »Was sind das für Zeiten, wo / Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist / Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!« Diese Brecht-Zeilen wurden in den literarischen Nachkriegsdebatten fast so häufig zitiert wie Adornos Auschwitz-Verdikt, zumal wichtige Lyriker der Nachkriegszeit noch zur Schule des naturmagischen Gedichts in der Nachfolge Oskar Loerkes und Wilhelm Lehmanns zählten und sich im Krieg mittels einer relativ unangreifbaren Naturlyrik in »das Gespräch über Bäume« gerettet hatten (so Peter Huchel, Günter Eich, Karl Krolow, Elisabeth Langgässer, Oda Schäfer, Horst Lange und Johannes Bobrowski). Spät in den sechziger Jahren, nicht lange vor seinem Freitod, hat Paul Celan noch mit einem Gedicht Brecht geantwortet, das schlechthin jede Form eines unschuldigen Sprechens verwirft: »EIN BLATT, baumlos, / für Bertolt Brecht: // Was sind das für Zeiten / wo ein Gespräch / beinahe ein Verbrechen ist, / weil es soviel Gesagtes / mit einschließt?« Die »Tendenz zum Verstummen« ist diesem Gedicht ebenso eingegraben wie die Forderung an den Dichter, das Unmögliche möglich zu machen und das Unsagbare zu sagen. Solches Sagen aber impliziert eine radikale Absage an jede geläufige Art des Sprechens, es verlangt eine neue, ganz andere, eine wahrhaft unerhörte Sprache.

      Rekapituliert man heute die Lyriksituation nach 1945, ergreift einen Bestürzung, denn kaum irgendwo findet sich der Versuch, das Unsagbare zu sagen, vielmehr zeigt sich vorherrschend eine unsägliche Unversehrtheit, von der bereits die Titel der Gedichtbände künden, die damals herauskamen: »Des alten Mannes Sommer« (Rudolf Alexander Schröder), »Stern über der Lichtung« (Hans Carossa), »Entzückter Staub« (Wilhelm Lehmann), »Der Laubmann und die Rose« (Elisabeth Langgässer), »Die Silberdistelklause« (Friedrich Georg Jünger), »Mittagswein« (Anton Schnack), »Die Holunderflöte« (Peter Gan), »Unter hohen Bäumen« (Georg Britting) lauteten einige dieser Titel, und sogar »Die heile Welt« (Werner Bergengruen) wurde damals dem deutschen Lyrikleser, der inmitten der Verwüstung und Zerstörung hauste, allen Ernstes aufgetischt. Verräterisch auch noch der Titel der ersten repräsentativen Nachkriegs-Anthologie deutschsprachiger Gegenwartslyrik: »Ergriffenes Dasein«!

      Um wie viel angemessener und das heißt weniger ergriffen als vielmehr entsetzt und empört hatten deutsche Dichter noch auf die Katastrophe des Ersten Weltkrieges reagiert. »Menschheitsdämmerung« betitelte Kurt Pinthus 1920 seine aufsehenerregende und folgenreiche Anthologie neuer deutscher Dichtung, in der die expressionistische Generation erstmals geschlossen auf den Plan trat und gewissermaßen als Vollstrecker von Nietzsches Testament eine gottlose und schuldbeladene Gesellschaft beklagte und anklagte.

      »Abgelegene Gehöfte«: Auch dieser Titel eines 1948 erschienenen Gedichtbandes von Günter Eich wirkte eher idyllisch, signalisierte jedenfalls nicht, dass gerade ein Zivilisationsbruch wie nie zuvor stattgefunden hatte. Doch finden sich in diesem Eich-Gedichtband neben vielen vor dem Krieg und im Krieg geschriebenen Naturgedichten, die eher das Misstrauen gegen den Innerlichkeitskult der sogenannten Inneren Emigration zu nähren vermögen, erstmals auch Gedichte, die ihr Vokabular zwar weitgehend aus dem alten Fundus der Naturlyrik beziehen, aber von einer Schwermut durchwirkt sind, aus der eine tiefe Irritation der Welt- und Ich-Erfahrung spricht. Wenn diese auch ihren geschichtlichen Grund nirgends konkret benennt (was Günter Eich veranlasste, sich später von diesen frühen Gedichten zu distanzieren), so erscheint sie doch nicht nur als Affekt bloßer Furcht oder Ohnmacht, sondern enthält auch einen subversiven Kern, nämlich den der Verweigerung jeglicher Positivität.

      Eichs Gedichtband »Abgelegene Gehöfte« enthält zudem zwei Gedichte, die neben Paul Celans »Todesfuge« zu den berühmtesten Nachkriegsgedichten überhaupt wurden: »Latrine« und »Inventur«. Beide verdanken sich der Erfahrung des Lagers, allerdings keines deutschen Konzentrationslagers, sondern eines amerikanischen Gefangenencamps am Rhein, und der Autor, der dort unter kläglichsten Bedingungen zu existieren gezwungen ist, weiß doch, dass er ein Recht auf Klage angesichts der Gräuel, die nicht zuletzt durch deutsche Armeen geschahen oder doch begünstigt wurden, nicht hat. Illusionslosigkeit ist daher erstes Gebot und zu dieser zählt vor allem die Einsicht in die Fragwürdigkeit des Guten, Alten, Wahren, Schönen, sprich: die Fragwürdigkeit einer humanistischen kulturellen Tradition, die Auschwitz zu verhindern weder die Kraft noch den ernstlichen Willen besaß. Wenn Günter Eich im Gedicht »Latrine« auch noch nicht auf den Reim und damit auf versöhnlichen Wohlklang verzichtet, so reimt sich in seinem Gedicht doch auf Hölderlin Urin (»Irr mir im Ohre schallen / Verse von Hölderlin. / In schneeiger Reinheit spiegeln / Wolken sich im Urin«). Das galt 1948 und auch noch einige Jahre später in Deutschland als ebenso unerhörte Provokation wie die nackte Aufzählung der lebensnotwendigen Utensilien eines Gefangenen im nunmehr reimlosen Gedicht »Inventur«, dessen hartnäckiges understatement bereits Eichs Bruch mit der naturmagischen Schule antizipierte.

      Im selben Jahr 1948 wie »Abgelegene Gehöfte« erschien auch ein erster Band »Gedichte« des 1903 geborenen Peter Huchel, der mit dem vier Jahre jüngeren Günter Eich nicht nur die literarische Herkunft aus der Vorkriegs-Schriftstellergruppe, sondern auch das Schicksal der Inneren Emigration teilte, d. h., die meisten der Gedichte, die Huchel vorlegte, waren entweder vor dem Krieg oder unter den Bedingungen des Krieges und der Nazi-Diktatur entstanden. Auch Peter Huchel hatte, wie vorsichtig und hilflos auch immer, gesellschaftlich-politische Sachverhalte mit den Mitteln einer naturmagischen Metaphorik zu benennen versucht: »o öder Anhauch bleicher Lippen, / mit Blut und Regen kam der Tag, / da auf des Flusses steingen Rippen / das Morgenlicht zerschmettert lag«. Auch Huchels Gedichte legitimierte nur die verweigerte Positivität und die Schwermut, die sie gegen jede Vereinnahmung durch die Nazis geschützt hatte.

      Eine wirklich adäquate Sprache für die Epoche der großen Verfolgungen und Verwüstungen fand Huchel erst dann, als er selbst zu den Verfolgten gehörte und Opfer einer neuen Gewaltherrschaft, diesmal einer kommunistischen, wurde, die sich in Ostdeutschland mit Hilfe Sowjetrusslands etabliert hatte. Huchel war ihr übrigens zunächst keineswegs ablehnend gegenübergestanden, wie sowohl sein 1948 entstandener Gedichtzyklus »Das Gesetz«, der die sowjetzonale Bodenreform preist, als auch die Tatsache zeigt, dass Huchel sich ab 1949 zum Chefredakteur der im Auftrag der Ost-Berliner Akademie der Künste erscheinenden Zeitschrift »Sinn und Form« küren ließ. Das Schlussgedicht seines Gedichtbandes, »Heimkehr« betitelt, endet entsprechend mit einer Hoffnungsperspektive. Aber die Figur, an die sich diese Hoffnung knüpft, ist keine konkrete, sondern eine mythische, und dieser zur Urmutter stilisierten wendischen Bäuerin, die in ihr zerstörtes Dorf heimkehrt, haftet – bei allem Respekt vor Huchel sei das gesagt – noch ein Rest jener Mütter- und Bauernverklärung an, wie sie nahezu nahtlos von der faschistischen in die kommunistische Ästhetik überführt wurde: »Aber am Morgen, / es dämmerte kalt, / als noch der Reif / die Quelle des Lichts überfror, / kam eine Frau aus wendischem Wald. / Suchend das Vieh, das dürre, / das sich im Dickicht verlor, / ging sie den rissigen Pfad. / Sah sie schon Schwalbe und Saat? / Hämmernd schlug sie den Rost vom Pflug. // Da war es die Mutter der Frühe, / unter dem alten Himmel / die Mutter der Völker. / Sie ging durch Nebel und Wind. / Pflügend den steinigen Acker, / trieb sie das schwarzgefleckte / sichelhörnige Rind«.

      Heimkehrer ganz anderer Art gab es, als dieses Huchel-Gedicht entstand, nämlich jene Schriftsteller, die von den Nazis vertrieben worden waren und nun in ihre deutsche Heimat zurückkehrten. Der bedeutendste von ihnen, der von McCarthy-Hysterie aus den USA verjagte Bertolt Brecht, sollte in Ostdeutschland bald den stärksten, freilich auch den lähmendsten Einfluss auf die jüngeren Lyriker dort ausüben, die Brecht meist sogar habituell kopierten. Doch bevor hier Brecht und seine Folgen ins Blickfeld geraten, soll erst jener gedacht sein, die nicht mehr heimkehrten, entweder weil sie nicht mehr wollten oder nicht mehr konnten, wie etwa Gertrud Kolmar, die 1943 nach Auschwitz deportiert worden war.

      Von Gertrud


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