Die Welt verdient keinen Weltuntergang. Peter Hamm

Die Welt verdient keinen Weltuntergang - Peter Hamm


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späte, deren Anspielungsreichtum kaum mehr zu erschließen ist und die an der Grenze des Sagbaren angesiedelt ist, weitgehend kryptisch. Manchmal gerät sie in die Nähe jenes Stammelns, das Celans Hölderlin-Gedicht im Gedichtband »Niemandsrose« (1963) geradezu zur Pflicht erhob: »Käme, / käme ein Mensch, / käme ein Mensch zur Welt, heute, mit / dem Lichtbart der / Patriarchen: er dürfte, / spräche er von dieser / Zeit, er /dürfte / nur lallen und lallen, / immer-, immer- / zuzu. // (›Pallaksch. Pallaksch.‹)« Auf beschränktem Raum über das wahrhaft Unerhörte von Celans Poesie auch nur einigermaßen Substanzielles auszusagen, ist leider ebenso unmöglich wie deren adäquate Übersetzung in andere Sprachen. Es sind da allenfalls Annäherungen möglich oder Echos. Doppelt erstaunlich, dass gerade Paul Celans Stimme außerhalb des deutschen Sprachraums früh Gehör fand und über seine Poesie in fremden Sprachen inzwischen weit mehr gelehrte Abhandlungen verfasst wurden als in Deutschland.

      Eine kritische Anmerkung, Celans berühmtestes Gedicht betreffend, scheint an dieser Stelle unerlässlich. Gab Ingeborg Bachmann (die übrigens erst durch die Begegnung mit Celan als Dichterin ganz zu sich selbst kam) mit ihrem Gedicht »Alle Tage« der von der Restauration abgestoßenen deutschen Jugend so etwas wie ein poetisches Manifest an die Hand, so lieferte Paul Celan mit seiner »Todesfuge« den jungen Nachkriegsdeutschen das Gedicht, mit dem sich gleichzeitig die Schuld der Väter grell illuminieren und ästhetisch kompensieren ließ. Was später eine ganze Generation rebellischer Studenten von Herbert Marcuse lernte, nämlich dem »affirmativen Charakter der Kunst« zu misstrauen, hätte sich an der »Todesfuge«, deren allzu verführerische Metaphorik dem unerträglichen Leiden in den Lagern nachträglich ästhetischen Genuss abpresst, bestürzend exemplifizieren lassen. Celan war sich dieser Problematik bald bewusst, weswegen er den Abdruck der »Todesfuge« in Anthologien und Lesebüchern untersagte und sie bei seinen Lesungen nie mehr vortrug.

      Ist Paul Celans Lyrik letztlich ein verzweifelter Versuch, die Grenzen des Sagbaren zu erweitern und zu überschreiten, weswegen etwa Umgangssprachliches in sie so wenig Eingang fand, wie sie den Fundus alltäglicher Banalitäten berücksichtigt, so spielen ebendiese eine beträchtliche Rolle in den Gedichten zweier junger Dichter, die sich 1956 und 1957 erstmals mit Gedichten hervortaten (die ihr Wesentliches später aber in der Prosa, im Roman und im Essay, leisten sollten): Günter Grass und Hans Magnus Enzensberger. Im Jahr 1956 waren sowohl Gottfried Benn wie Bertolt Brecht gestorben, aber nicht nur deswegen bedeutete dieses Jahr eine Zäsur in der Entwicklung unserer Nachkriegslyrik. Die Bundesrepublik hatte sich wirtschaftlich stabilisiert und ihr sogenanntes Wirtschaftswunder geschaffen, und die DDR, die den Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953 unbeschadet überstanden hatte, hatte sich politisch konsolidiert und war nicht, wie etwa Ungarn, von einer neuen Zerreißprobe bedroht.

      Selbstbewusstsein also hier wie dort, und auffallend war denn auch, mit welchem Selbstbewusstsein der junge Grass und der junge Enzensberger hier und der junge Günter Kunert dort die jeweilige literarische Szene betraten. Schon die Titel der Gedichtbände von Grass und Enzensberger, die beide kurioserweise ein Tier im Wappen führen, signalisierten die neue Stimmung: »Die Vorzüge der Windhühner« (Grass) und »Die Verteidigung der Wölfe« (Enzensberger). Also Groteske und Ironie statt Pathos und Klage: der Titel von Grass ein Plädoyer für kindliche Einbildungskraft und für die Loslösung vom Boden der Tatsachen mittels Phantasie, der Enzensberger-Titel Indiz dafür, wie niederdrückende Betroffenheit nun einer neuen Unbefangenheit und einem Übermut gewichen ist, die den Umstand, dass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist, ziemlich ungerührt ins Gesicht sehen. In der neuen Wohlstandsgesellschaft, so zeigen diese Gedichte, lässt sich wieder hedonistisch und lustvoll amoralisch sein. Beide Dichter verbergen nach Möglichkeit ihren aufklärerischen Impetus hinter der Clowns-Maske (Grass) oder der Zyniker-Maske (Enzensberger), beide geben sich gern vorsätzlich kindlich und liefern sich der Magie der gewöhnlichen Gegenstände und Dinge aus, die sie wie Spielsachen behandeln und durcheinanderwürfeln, nicht ohne gut gespieltes Entsetzen über den üblen Effekt, den ihre Aktivitäten anrichten. Auch dem Vergnügen am schlechten Geschmack lässt sich bereits frönen, es kündigt sich Pop-Art an.

      Günter Grass, der in den fünfziger Jahren seinen Wohnsitz noch in Paris hatte und sich primär als Zeichner und Bildhauer verstand, nahm offenkundig den in Paris lebenden Bildhauer Jean Arp zum Vorbild, dessen dadaistische Gedichte damals eine Neuausgabe erlebten. Enzensbergers Vorbilder sind, trotz etlicher Benn- und Brecht-Reminiszenzen, schwerer zu bestimmen. Dieser eminent bewegliche Geist war von Anfang an in der weiten Welt zuhause und brachte von überall her Anregungen mit. Nicht von ungefähr wurde er Deutschlands ergiebigster Anthologist (der uns in seinem 1960 erschienenen »Museum der modernen Poesie« erstmals bekannt machte mit vielen Portalfiguren der Moderne, die wir bis dahin gerade nur dem Namen nach gekannt hatten). Nicht von ungefähr auch, dass Enzensberger den Begriff von der »Weltsprache der modernen Poesie« geprägt hatte (der damals so einleuchtete, wie er heute fragwürdig erscheint). Der gewandte Umgang mit dieser Weltsprache verlieh Enzensbergers frühen Gedichten ihren attraktiven Anstrich, erweist sich von heute aus gesehen aber auch als ihr Handicap. Enzensberger verlässt sich zu oft, übrigens auch im Essay, auf seine Kunst der Überraschung. Anders formuliert: Das Kostüm war ihm stets wichtiger als der Körper. Das verleiht seinem Werk bei aller Brillanz etwas merkwürdig Anämisches und erklärt dessen Hang zur Unentschiedenheit, wie ihn etwa Enzensbergers Bakunin-Gedicht verrät: »Es war damals wohl zu früh, wie immer, / oder zu spät. Nichts hat dich widerlegt, nichts hast / du bewiesen, / und darum bleib, wo du bist, oder, meinetwegen, / kehr wieder«.

      Enzensberger hat viele Rollen durchgespielt, er hat ebenso die Autonomie der Kunst verteidigt wie den Tod der Literatur verkündet, er hat in Kuba den Revolutionär und anderswo den Reaktionär gespielt, für den die Apokalypse ein Aphrodisiakum ist. Mit dem jungen Brecht könnte er als Motto über sein Werk schreiben: »In mir habt ihr einen, auf den könnt ihr nicht bauen.« Bei den jüngeren DDR-Dichtern machte zunächst dieser frühe anarchische B. B. Schule, sodann der späte didaktisch dürre Brecht, der vielleicht etwas zu genau zu wissen meinte, in welche Richtung sich der Weltgeist zu bewegen hatte. Was man bei Dichtern wie Grass oder Enzensberger an Entschiedenheit vermissen mochte, hatten die DDR-Dichter der fünfziger Jahre an Entschiedenheit entschieden zu viel. Wo die im Westen allzu selbstzufrieden und narzisstisch den Monolog pflegten, verwechselten sich die im Osten mit Missionaren. Sie hatten von Brecht zwar die Kunst des Verbergens der Kunst zu lernen versucht, kopierten seine Lakonie und sein understatement, aber die meisten ihrer Gedichte hatten sozusagen keine Halt gebende Mitte, weil sie die realsozialistische Realität mit ihren Widersprüchen ausklammerten und entweder nur nach rückwärts oder nur nach vorwärts gerichtet waren, entweder einen bereits besiegten Faschismus oder aber eine rosige sozialistische Zukunft beschworen.

      Unfreiwillig verrieten allerdings auch die poetischen Antifa-Pflichtübungen noch etwas über die realsozialistische Misere, die Analogien zwischen beiden Systemen ließen sich auf Dauer kaum ausblenden. Weswegen die über sich selbst erschreckten Dichter sich immer häufiger in jene Sprache flüchteten, die Brecht – mit Blick auf die Innere Emigration der vierziger Jahre – »Sklavensprache« genannt hatte. Sie legten sich antike Masken an, bedienten sich der Parabel und Allegorie, schrieben Epigramme und schufen nicht etwa den offiziell geforderten sozialistischen Realismus, sondern einen sozialistischen Hermetismus.

      Der eigenwilligste von ihnen, Günter Kunert, 1929 in Berlin geboren, hatte als Sohn einer Jüdin eine »staatlich verpfuschte Kindheit« erlebt. Er empfand die DDR mit ihrer antifaschistischen Führung und Programmgebung zunächst als Alternative zum restaurativen deutschen Weststaat. Seine frühen Gedichte, deren vorherrschendes Thema das Nichtvergehen der Vergangenheit ist, zeigen ihn als freundlichen Skeptiker, der alle großen und erhabenen Worte meidet und seine Gedichte im Sinne Brechts als Gebrauchsgegenstände versteht. Der Hang zum Parabelhaften ist früh ausgebildet bei Kunert und äußert sich, wie etwa im Gedicht »Unterschiede«, in der Form kunstvoller Simplizität: »Betrübt hörte ich einen Namen aufrufen: / Nicht den meinigen. // Aufatmend / Höre ich einen Namen aufrufen: / Nicht den meinigen«. Der Mensch als bloßes Aufruf-Objekt, der entgegen allen Verheißungen auch im Sozialismus entfremdete Mensch, rückt in Kunerts Lyrik dann zunehmend in den Mittelpunkt. Und je tiefer die Kluft zwischen der sozialistischen Verheißung und der sozialistischen Realität wird, desto subjektiver, monologischer und komplizierter wird Kunerts Kunst. Je entschiedener sie alle einmal erlernten Rituale abwehrt, desto


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