Die Welt verdient keinen Weltuntergang. Peter Hamm

Die Welt verdient keinen Weltuntergang - Peter Hamm


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Der 1911 geborene westfälische Dichter Ernst Meister, der von der Sprachphilosophie Martin Heideggers und von der Theologie herkam, hatte kurz vor Hitlers Machtergreifung bereits einen Gedichtband publiziert (der ihm den Ruf eines »Kandinsky der Lyrik« eintrug), nach 1933 aber geschwiegen. In der Nachkriegszeit blieb er, obwohl jetzt in kurzer Folge relativ viele Gedichtbände von ihm herauskamen, so gut wie unbeachtet, vermutlich weil man seine Lyrik für gedanklich überfrachtet hielt. Tatsächlich war für Ernst Meister Dichten immer – im Sinne Paul Valérys – identisch mit Denken. Seine Lyrik bezieht ihre eigene Tiefenwirkung vom endlosen »Erstaunen darüber, dass überhaupt etwas sei und nicht vielmehr nichts« (E. M.). Sie ist in einer Art stoischer Meditation auf den endlichen Stillstand des Universums gerichtet, nicht auf Sozietät also, sondern auf Transzendenz. Ihr Charakteristikum ist die permanente Reduktion: Ernst Meister »löst die Extensität des Satzes auf zugunsten der Intensität des Einzelwortes und seiner ihm innewohnenden Bewegung« (Gregor Laschen). Dieses Reduktionsverfahren und die Konzentration auf das Unsagbare rückt Meisters Lyrik in die Nähe der späten Lyrik Paul Celans, auf die sie gelegentlich auch direkt antwortet.

      In den Jahren der Rückbesinnung und Revisionen kamen auch einige jener unentwegt und unerschrocken experimentierenden Autoren wieder zur Geltung, die sich als Nachfahren des Barock, des Surrealismus oder Dadaismus verstanden und dem Ernst der Stunde ihren verspielten Unernst entgegensetzten, in Lautgedichten, Textcollagen, Dialektgedichten, Bildgedichten und öffentlichen Aktionen. Sieht man von dem Siebenbürgener Oskar Pastior ab, der wohl der radikalste unter ihnen war und bei dem die Lust am Sprachspiel sich stets mit einem erkenntnistheoretischen Impetus paart, so stammen die meisten von diesen Autoren aus der sogenannten Wiener Gruppe, so Gerhard Rühm und H. C. Artmann, beide Virtuosen der ironischen Aneignung fremder, verschollener oder verachteter literarischer Muster (H. C. Artmann darüber hinaus der Erwecker des Dialektgedichts, das bei ihm alle Gemütlichkeit abgelegt hat und aus Herzensgrund böse ist). Die größte Breitenwirkung unter allen experimentellen Autoren war dem 1925 geborenen Wiener Ernst Jandl beschieden, der tangential zur »Wiener Gruppe« seine Sprachexperimente entwickelte und mit seinem Gedichtband »Laut und Luise«, den jahrelang kein Verleger hatte drucken wollen, Ende der siebziger Jahre für gewaltige Irritation im literarischen Betrieb sorgte.

      Die meisten der sogenannten seriösen Literaturkritiker hielten damals Jandls Gedichte überhaupt nicht für Gedichte, einer verglich sie sogar mit »Säuglingslallen«. Tatsächlich hat Jandl eine Vorliebe für primitive – besser: kindliche – Sprachgesten. Radikaler Sprachzweifel verbindet sich bei ihm mit einer enormen Lust am Sprachspiel, am Zerschlagen oder Verschieben der Syntax. Der Laut, die Lautwirkung, sind Jandl wichtiger als der syntaktische Sinnzusammenhang. Natürlich sind Jandls Lautgedichte ganz an seine Stimme, an den öffentlichen Auftritt gebunden, weswegen Jandl-CDs noch erfolgreicher sind als Jandl-Bücher. Übersetzbar sind leider lediglich jene Gedichte, die den syntaktischen Zusammenhang einigermaßen wahren. Ein Teil von ihnen ist – wie etwa der Zyklus »Der gewöhnliche Rilke« – amüsante Abwehr von Sakrosanktem und Sanktioniertem, die Jandl jener Gewöhnlichkeit preisgibt, die auch das Seinsfundament alles ästhetisch Ungewöhnlichen bildet: Auch Rilke tropft die Nase, auch ihn drückt der Schuh, auch er muss auf den Abort.

      Und wie geht es nun weiter? Zu Beginn der neunziger Jahre scheint alles disparat, anything goes – rien ne va plus. Es herrscht ein buntes Treiben von Stilrichtungen und Autoren, denen nur noch eines gemeinsam ist: das verlorene Gott- und Weltvertrauen. Auch den jungen und jüngsten Dichtern, die übrigens in dem Maße an Zahl zuzunehmen scheinen, in dem Lyrik an öffentlicher Bedeutung abnimmt, ist nichts sakrosankt – und wenn sie sich ästhetisch überhaupt an Früherem orientieren, dann eher an Experimenten der Jandl-Art oder an amerikanischer Pop-Poesie als am hermetischen Gedicht der Paul Celans oder Ernst Meisters. Das appellative Gedicht ist diskreditiert, das hermetische hat alle Möglichkeiten erschöpft. Die Wahrheiten sind so gründlich verbraucht wie die Irrtümer, weithin herrscht jene blasse Beliebigkeit, die den Namen Postmoderne trägt.

      Auch die Schubladen jener jungen DDR-Lyriker und DDR-Dissidenten, von denen man nach der Wiedervereinigung gehofft hatte, sie würden überquellen vor verborgenen verbotenen Schätzen, erwiesen sich als leer oder jedenfalls ziemlich unergiebig. Die meisten dieser Jungen hatten ihre Energie offenbar für die krampfhafte Nachahmung jener lyrischen Muster verbraucht, die im Westen schon wieder museal geworden waren. In der DDR, wo »alle entmündigt waren« und »die beste Zuflucht ein geschlossener Mund« war, wie es in einem Gedicht von Durs Grünbein heißt, durfte man sich vielleicht nur noch an jene »Ruinenwerte« halten, von denen in Grünbeins Dresden-Gedicht die Rede ist: Nur das Ruinöse in allen seinen Ausformungen schien dort imstande, der staatlich verordneten Positivität Widerpart bieten zu können. Wenn Durs Grünbein erklärte, »das Zeitalter Solschenizyns« sei »endgültig vorbei«, so sollte das heißen, dass die Schrecken und Katastrophen der Epoche nicht länger mit den Mitteln der Aufklärung oder mit Widerstand beantwortbar seien, sondern nur noch mit Sarkasmus und Zynismus oder am besten mit purer Idiotie, wie sowjetische Autoren der inoffiziellen Szene – etwa Wladimir Sorokin oder Dmitri Prigow – das vorgemacht hatten, die »mit dem spezifischen totalitären Material so frei umgingen wie jenseits des Atlantik die Pop-Art mit den Zeichen der Werbe- und Warenwelt« (Grünbein).

      »Subversion durch Affirmation«, nach dieser Grünbein-Devise verfahren heute viele der jüngeren ehemaligen DDR-Dichter, für die Wirklichkeit nur noch als Wirklichkeit aus zweiter Hand existiert, in der die Synthetics herrschen und schlechthin alles Ersatz ist – sogar das Leben selbst: »Was heißt schon Leben? / Für alles gibt’s Ersatz« (Durs Grünbein). Anything goes – rien ne va plus.

      November 1993 (Vorwort für eine nie erschienene Anthologie deutschsprachiger Lyrik nach 1945, die Joachim Sartorius für einen US-amerikanischen Verlag herausgeben sollte).

      Gedichte und Katastrophen

       Zu einer außergewöhnlichen Anthologie von Wulf Kirsten

      Ohne Lyrik-Anthologien wäre das literarische Leben arm. Lyrik erreichte seit jeher ihre Leser vorzugsweise über Anthologien und oft leisteten diese auch Erweckungsdienste für junge angehende Dichter, die hier ihre Vorbilder und Meister entdeckten und vielleicht auch die Erkenntnis, dass noch kein Meister vom Himmel gefallen ist. Für den jungen Wulf Kirsten war ein solches Erweckungserlebnis die 1947 von Wolfgang Weyrauch im Aufbau-Verlag herausgegebene Anthologie »Die Pflugschar«, die seinen eigenen lyrischen Versuchen eine Richtung wies und ihn zugleich zum besessenen Sammler von Lyrik machte, der irgendwann fast zwangsläufig selbst zum Anthologisten werden musste.

      Walter Benjamin unterschied drei Arten von Anthologien: jene, die einen bedeutenden Dichter zum Herausgeber haben, dessen Lyrik-Auswahl »eingestandenermaßen oder nicht normativen Charakter« hat und deshalb selbst als »Dokument der hohen Literatur« gelten darf, dann jene, deren Herausgeber als Person zurücktritt und sich rein informative Ziele gesetzt hat, zuletzt die »unerfreulichste Gattung«, die »als müßiges Spiel eines Unberufenen ein undeutliches Ineinander eklektischer und informatorischer Gesichtspunkte« darstellt. Zweifelsohne zählten Rudolf Borchardts Anthologie »Ewiger Vorrat deutscher Poesie« und die drei von Stefan George und Karl Wolfskehl herausgegebenen Auswahlbände »Deutsche Dichtung« für Walter Benjamin zur ersten, die meisten anderen Anthologien aber zur unerfreulichen letzten Kategorie. Und Kirstens Anthologie?

      Zwar hat auch der 1934 bei Meißen geborene Wulf Kirsten ein eigenes lyrisches Werk von Bedeutung geschaffen, ohne das die deutschsprachige Nachkriegslyrik entschieden ärmer wäre, aber Kirsten entspricht in nichts dem herrischen Typus Borchardt oder George. Diese sahen sich als Führer durch die deutsche Literatur-Landschaft und bekannten sich zu »wählerischer Grausamkeit«, die etwa die Eliminierung der Droste und Rückerts aus Georges und Wolfskehls Anthologie sowie die Verstümmelung der darin enthaltenen Heine-Gedichte zur Folge hatte. Der Anthologist Wulf Kirsten hingegen versteht sich eher als Diener der Dichter, als ihr sorgsamer und gerechter Herbergsvater, den neben seiner stupenden Belesenheit ein leidenschaftlicher Enthusiasmus leitet, der ihn vor Akademismus bewahrt.

      Die Aufgabe, die Kirsten sich für seine Anthologie gestellt hat, nämlich einen ganz neuen Blick auf die von ungeheuren gesellschaftlichen und ästhetischen Umbrüchen


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