KOMPASS - Zürcher Kompetenztraining für Jugendliche mit Autismus-Spektrum-Störungen. Maya Schneebeli
sie in der Literatur oft zu einer eigenen Gruppe, der des High-Functioning-Autismus zusammengefasst. Die ICD-10 und das DSM-IV kennen keine entsprechende nosologische Klassifikation. Diese hat sich jedoch in der Praxis bewährt, um die Kinder zu beschreiben, welche sich im Verlauf ihrer Entwicklung phänomenologisch vom Frühkindlichen Autismus weg hin zum Asperger-Syndrom entwickeln (Poustka et al. 2008).
1.1.6 Autismus-Spektrum-Störungen
Es ist stark umstritten, ob es sich bei den zuvor beschriebenen Störungen tatsächlich um unterschiedliche Störungen handelt (Schopler et al. 1998, zit. nach Solomon et al. 2004). Aufbauend auf empirischen Arbeiten (Lord et al. 2000; Lord et al. 2001, zit. nach Poustka et al. 2008) sind Theorien entwickelt worden, wonach sich die autistischen Störungen nicht kategorial voneinander unterscheiden, sondern auf einem Kontinuum anzuordnen sind, bei welchem sich die Symptomatik nicht qualitativ, sondern quantitativ bezüglich des Ausprägungsgrads unterscheidet (Poustka et al. 2008). Besonders umstritten ist die Frage der Unterscheidung zwischen Asperger-Syndrom und Atypischem Autismus (Koyama et al. 2007). Häufig wird daher von Autismus-Spektrum-Störungen gesprochen, welche sowohl den Frühkindlichen Autismus als auch das Asperger-Syndrom und den Atypischen Autismus beinhalten (Remschmidt et al. 2006).
Vom Begriff der Autimus-Spektrum-Störungen sind gemäß dem aktuellen Forschungsstand die Begriffe »autistische Züge« und »Broader Autism Phenotype« abzugrenzen. Beide besagen, dass es Menschen gibt, die verschiedene Verhaltensmerkmale zeigen, die denjenigen von Menschen mit Autismus entsprechen, obwohl nicht alle notwendigen Kriterien für eine klinische Diagnose erfüllt sind. Meistens sind soziale und kommunikative Beeinträchtigungen zu beobachten, während repetitive Verhaltensweisen, sensorische Auffälligkeiten und manchmal auch eingeschränkte Interessen fehlen (Skuse 2010).
1.2 Das klinische Bild des Asperger-Syndroms
Die besonderen Verhaltensmerkmale von Menschen mit einer Störung aus dem autistischen Spektrum führen zu Einschränkungen und Beeinträchtigungen im alltäglichen Umgang und im Zusammenleben mit ihren Mitmenschen. Kinder mit Asperger-Syndrom werden zwar früh von den Eltern und weiteren Bezugspersonen – gerade auch im Vergleich zu möglicherweise vorhandenen Geschwisterkindern – als »anders« erlebt, fallen aber meist erst beim Eintritt in eine feste soziale Gruppe auf, also in einer Spielgruppe, dem Kindergarten oder der Schule. Zuvor war jedoch das Spielverhalten meist schon qualitativ auffällig, da Imitations-, Rollen- und Phantasiespiele oftmals fehlten. In der Kleinkindzeit dominieren Schwierigkeiten mit der Emotionsregulation zum Beispiel bei Veränderungen oder Neuem, dominantes Spiel- und Interaktionsverhalten, eine auffällige Spielentwicklung mit eher sich wiederholenden und unflexiblen Spiel- und Interessenmustern und wenig Rollen- und Phantasiespiel sowie »ungezogene« Verhaltensweisen, welche soziale Konventionen verletzen. Manchmal entwickeln sich auch erst in der mittleren Kindheit als problematisch erlebte Verhaltensweisen, wenn die Komplexität der sozialen Interaktionen und der organisatorischen Anforderungen in der Schule zunimmt.
Menschen mit Asperger-Syndrom wirken trotz ihres sozialen Interesses, das sich immer wieder neben den Phasen des Rückzugs zeigt, sehr auf sich bezogen, wenig an partnerschaftlichem Austausch interessiert sowie oft unempathisch, emotional wenig schwingungsfähig und dadurch gefühlskalt. Sie suchen weniger geteilte Aufmerksamkeit und stellen seltener geteilte Freude her. Die impliziten und meist subtilen Regeln (z. B. Teilen) und Konventionen (z. B. Grüßen) des sozialen Zusammenlebens verstehen sie oft nicht und verhalten sich dementsprechend so, dass sie als unsozial, egoistisch oder schlecht erzogen erlebt werden.
Diese Kinder verfügen nicht über das notwenige Verhaltensrepertoire, um mit anderen entsprechend den gegebenen Konventionen zu interagieren. Gemäß der Studie von Knott et al. (2006) nehmen Kinder mit Asperger-Syndrom und High-Functioning-Autismus ihre sozialen Schwächen durchaus wahr: Im Schnitt schätzen sie ihre sozialen Fertigkeiten (z. B. Umgang mit Gruppen, Affektregulation) und Kompetenzen (z. B. Entwicklung von Freundschaften) signifikant tiefer ein (eine Standardabweichung) als die gleichaltrige Kontrollgruppe. Die Eltern schätzen die sozialen Möglichkeiten sogar noch tiefer ein (fast zwei Standardabweichungen unter dem Mittel der Kontrollgruppe), sie stimmen jedoch mit den Kindern darin überein, in welchen Bereichen die Schwierigkeiten liegen.
Dieser Mangel an sozialen Fertigkeiten verhindert, dass die Betroffenen zeitgerecht bestimmte Meilensteine der kindlichen Entwicklung bewältigen und befriedigende familiäre Beziehungen und Kontakte zu Gleichaltrigen pflegen können. Im Vergleich zu Gleichaltrigen haben Kinder und Jugendliche mit Asperger-Syndrom in der Folge weniger Freunde (Koning und Magill-Evans 2001). Aufgrund ihrer geringeren sozialen Responsivität sind sie in Gruppen, die sich nicht primär über ein gemeinsames Interesse definieren, oft nicht integriert und nehmen eine Außenseiterposition ein: Sie werden durch Gleichaltrige und Geschwister sozial ausgegrenzt und geschnitten, geschlagen und geplagt oder sogar gemobbt (Little 2001). Attwood (2018) zeigt auf, dass Kinder mit Asperger-Syndrom sowohl wegen ihrer passiven, zurückgezogenen, unsicheren Art als auch ihrer aktiven, dominierenden, sozial ungeschickten Verhaltensweise von anderen Kindern eingeschüchtert und tyrannisiert werden. Das Risiko wird dadurch erhöht, dass sie unstrukturierte, freie Zeiten (z. B. Pausen) oft alleine verbringen, über einen geringen sozialen Status verfügen und sich kaum zu wehren wissen (Attwood 2018.). Kinder mit Asperger-Syndrom fühlen sich einsamer (Bauminger und Kasari 2000), verfügen oft über ein unreifes oder ungewöhnliches Konzept von Freundschaft (Botroff et al. 1995, zit. n. Attwood 2000) und erleben Freundschaften als weniger unterstützend (Bauminger und Kasari 2000).
Menschen mit Asperger-Syndrom wirken kommunikativ unbeholfen, indem sie Gespräche nicht angemessen beginnen, aufrechterhalten und beenden. Das etwas oberflächliche soziale Plaudern zur Festigung des Kontakts oder zur Überbrückung gemeinsam verbrachter Zeit (Small Talk) fehlt oft. Gespräche verlaufen meist nach einem von zwei Mustern: Entweder ergibt sich ein eher starrer Wechsel von Fragen und unkommentierten Antworten oder der Betroffene beginnt über ein ihm wichtiges Thema zu monologisieren, ohne Kommentare, Fragen oder Hinweise des Gegenübers hinsichtlich eines geringen Interesses am Gesprächsgegenstand ausreichend zu beachten. Schnell können sich im Gespräch Missverständnisse ergeben, da die Betroffenen weniger zwischen den Zeilen lesen und daher das Gemeinte nicht aus dem faktisch Formulierten ableiten können. Unbeabsichtigt können sie verletzende Bemerkungen machen, da sie sich zu wenig bewusst sind, wie das Gesagte vom Gegenüber aufgenommen wird. Sie zeigen wenig Körpersprache oder eine übertriebene, was sich auch in einer eher flachen Mimik oder im Grimassieren ausdrückt, und sie verstehen nonverbale Signale nicht als Hinweis, wie eine Aussage zu interpretieren ist. Subtile Zeichen werden meist nicht verstanden. Ihre Formulierungen wirken oft nicht altersgemäß, mal zu altklug, dann wieder zu naiv. Ihre Stimme ist meist wenig moduliert, zeigt wenig Betonungen oder andere Rhythmisierungen und kann auch zu laut oder zu leise sein.
Sobald die besonderen Interessengebiete der Menschen mit Asperger-Syndrom in das Gespräch einfließen, werden ihr großes Wissen und ihre diesbezügliche Konzentrationsfähigkeit deutlich. Dieses Wissen ist eher lexikalischer, sachlicher und oft technischer Natur und ignoriert manchmal die Einbindung in größere Zusammenhänge. Die Betroffenen zeigen eine hohe Motivation, sich damit auch auf Kosten von sozialen Aktivitäten zu beschäftigen. Schon in jungen Jahren kann ein hinsichtlich der kognitiven als auch sozialen Komponenten auffälliges Spielverhalten beobachtet werden (z. B. kein Imitations-, Rollen-, Phantasie- oder Gruppenspiel).
Menschen mit Asperger-Syndrom wirken oft bis in das Erwachsenenalter motorisch ungeschickt und gestalten motorische Tätigkeiten unökonomisch. Sie haben Mühe, sich auf Neues, Unerwartetes einzulassen und reagieren entsprechend unflexibel bei Veränderungen von Abläufen oder geplanten Aktivitäten, bei spontanen Ideen, wie auch auf jahreszeitlich bedingte Veränderungen (z. B. Kleiderwechsel). Manche zeigen sensorische Überempfindlichkeiten vor allem gegenüber Geräuschen, aber auch Gerüchen und Geschmacksempfindungen, Helligkeit oder bestimmten Berührungen zum Beispiel durch Kleider. Jugendliche schenken einer angemessenen Körperpflege häufig wenig Beachtung.
Menschen mit Asperger-Syndrom sind schneller als andere und leicht zu irritieren und verfügen manchmal über eine ungenügende Emotionsregulation, sodass für Außenstehende ganz unerwartet heftige emotionale Ausbrüche zu beobachten