KOMPASS - Zürcher Kompetenztraining für Jugendliche mit Autismus-Spektrum-Störungen. Maya Schneebeli

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die Kontrollpersonen bedeutend besser ab, wenn sich die Objekte interagierend und scheinbar mit impliziten Absichten bewegen (z. B. Austricksen).

      Die Folgen einer fehlenden Theory of Mind oder der mangelnden Fähigkeit der Intersubjektivität (Remschmidt et al. 2006, S. 47) zeigen sich vor allem im sozialen Bereich: Die nonverbalen Hinweisreize eines Menschen, wie Prosodie oder Mimik, werden nicht beachtet, d. h. sie werden nicht verwendet, um Rückschlüsse hinsichtlich dessen Gedanken und Gefühle zu ziehen (Baron-Cohen et al. 2001). Subtilere soziale Vorgänge, wie Stimmungen, Witze oder Sarkasmen, werden nicht verstanden (Poustka et al. 2008). Zudem ist das Verhalten anderer Menschen ohne eine Theory of Mind weder verständlich noch vorhersagbar.

      Nach der Übersichtsarbeit von Bruning et al. (2005) finden sich Defizite der Theory of Mind auch bei anderen psychiatrischen Störungsbildern, wie schizophrenen und bipolaren Erkrankungen. Diese entwickeln sich aber erst im Verlauf der Erkrankung und bilden sich nach der Remission wieder zurück. Zudem weisen auch Kinder mit einer Aufmerksamkeitsstörung Schwierigkeiten mit der Theory of Mind auf.

      Untersuchungen zur Theory of Mind nutzen sehr unterschiedliche Aufgabenstellungen und kommen zu unterschiedlichen Ergebnissen (Bruning et al. 2005). Die Theory of Mind scheint mit dem Mentalisierungssystem zusammenzuhängen, welches als Netzwerk zwischen den Temporalregionen, den Parietalregionen, dem medialen präfrontalen Kortex und der Amygdala fungiert und bei Menschen mit Autismus eine geringere Aktivierung zeigt (Frith 2001; Castelli et al. 2002). Bei Betroffenen wird eine reduzierte funktionelle Verbindung zwischen dem bei Mentalisierungsaufgaben hoch aktiven extrastriatalen Kortex und dem superioren temporalen Sulcus an der Verbindungsstelle zwischen Temporal- und Parietalregion beobachtet (Castelli et al. 2002). Die Autoren schließen auf eine Art Flaschenhals bei der Interaktion zwischen verschiedenen Wahrnehmungsprozessen. Eine besondere Rolle bei der Verarbeitung von Informationen von Gesichtern spielt der Gyrus fusiformis (Schultz et al. 2003). Diese Region scheint auch zusammen mit anderen Regionen (Amygdala, Temporalregionen, medialer präfrontaler Kortex, inferolateraler frontaler Kortex, superiore temporale Sulci) eine Rolle bei der sozialen Attribuierung von wahrgenommenen Situationen zu spielen (Schultz et al. 2003). Menschen mit Autismus zeigen zum Beispiel bei der Verarbeitung von Gesichtern signifikant weniger rechtshemisphärische Aktivierung im Bereich des Gyrus fusiformis als Kontrollpersonen (Bruning et al. 2005). Ferner geben auch Untersuchungen über die Augenbewegungen interessante Hinweise auf die Ursachen der sozialen Defizite: Menschen mit Autismus beobachten zum Beispiel in Gesprächen eher die sich bewegende Mundpartie oder unwesentliche Details und die verbalen Äußerungen, während sich Kontrollpersonen auf die Augenpartie konzentrieren sowie nonverbale Hinweise wie die Blickrichtung verfolgen und dadurch oft Informationen erfassen, noch ehe sie verbalisiert werden, oder solche, die im Gegensatz zum verbalen Inhalt stehen (Klin et al. 2003).

      Zentrale Kohärenz und globale versus lokale Informationsverarbeitung

      Die Zentrale Kohärenz (Happé und Frith 2006) ist die Fähigkeit, übergreifende (soziale) Muster und den gesamten Kontext zu erfassen. Frith (1989) konzeptualisierte sie als die spontane Tendenz normal entwickelter Menschen, Reize zu einem kohärenten, bedeutsamen Ganzen zu integrieren. Wahrnehmung und Denken werden im Sinne der Gestaltpsychologie und der kognitionspsychologischen Theorie der Feld(un)abhängigkeit durch zentrale Kohärenz bestimmt: Reize (Menschen, Objekte, Situationen, Gefühle) werden immer in Bezug auf ihren Kontext gesehen und zu einer höheren Ordnung im Sinne einer kohärenten Gestalt zusammengefügt.

      Bei den Autismus-Spektrum-Störungen ist die Fähigkeit zur zentralen Kohärenz nur schwach ausgeprägt. Dagegen ist die Tendenz sehr stark, Reize isoliert und kontextfrei zu verarbeiten (Frith und Happé 1994; Happé 1997; Müller 2008). Diese Befunde könnten die Resultate aus Untersuchungen mit dem Hamburg-Wechsler-Intelligenztest (Tewes et al. 2000) erklären, wonach Menschen mit Autismus überdurchschnittlich gut im Subtest Mosaike abschnitten (Shah und Frith 1993; Happé 1997) oder bei den sogenannten Embedded Figures (Witkin et al. 1971) einfache Figuren finden, welche im Kontext einer komplexeren Figur lokalisiert werden müssen (Happé 1997; Happé et al. 2006). Zur Lösung dieser Aufgaben ist es von Vorteil, sich auf Details zu konzentrieren und ein Ganzes segmentiert wahrnehmen zu können.

      Bei Menschen mit Asperger-Syndrom scheint die Zentrale Kohärenz weniger beeinträchtigt zu sein als beim Frühkindlichen Autismus (Jolliffe und Baron-Cohen 2001; Beaumont et al. 2008). Eine Hypothese besagt, dass diese Beeinträchtigung erst ab einer bestimmten zu verarbeitenden Informationsmenge auftritt (Jolliffe et al. 2001), währende eine andere Hypothese postuliert, es handle sich um keine Schwäche, sondern die Fähigkeit zur Zentralen Kohärenz sei auf einem Kontinuum anzuordnen (local versus global coherence) und durch zwei unterschiedliche, aber gleichwertige Informationsverarbeitungsstile, die globale und die lokale Informationsverarbeitung (local versus global processing), repräsentiert (Happé et al. 2006). Menschen mit Autismus setzen zwar öfters den detailorientierten Verarbeitungsstil ein, können aber bei Aufgaben, die explizit eine ganzheitliche Verarbeitung fordern, in diesen wechseln. Somit geht es möglicherweise weniger um eine Schwäche der globalen Verarbeitung und eher um eine auffallende Stärke der Detailorientierung. Müller (2008) gibt eine Übersicht über verschiedene Aufgaben, bei denen sich dieser Verarbeitungsstil anschaulich zeigt, und diskutiert die Vor- und Nachteile dieser Informationsverarbeitung. Befunde, wonach die Eltern – besonders die Väter – von Menschen mit Autismus ebenfalls signifikant öfter einen Verarbeitungsstil der Local Coherence anwenden, sprechen dafür, dass dieser Stil auch in der nicht klinisch auffälligen Bevölkerung im Sinne eines Broader Autism Phenotype vorhanden ist und durchaus Vorteile mit sich bringt (Happè et al. 2001). Zur Interpretation von sozialen Situationen ist eine ganzheitliche und kontextgebundene Wahrnehmung unentbehrlich (Berger et al. 2003, zit nach Happé et al. 2006). Die Theorie der schwachen zentralen Kohärenz kann einen Teil der sozialen Schwierigkeiten von Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung erklären. Die anatomischen Strukturen hinter der Zentralen Kohärenz sind noch unklar.

      Exekutive Funktionen

      Bei den exekutiven Funktionen (Pennington und Ozonoff 1996) geht es um das Lösen von Problemen, um die Fähigkeit zu planen und zielgerichtet zu handeln (von Cramon und von Cramon 2000). »Exekutive Funktionen stellen Denkprozesse höherer Ordnung dar, die für die Verhaltensplanung, -steuerung und -kontrolle entscheidend sind. Sie umfassen: Handlungsplanung, Impulskontrolle, Kontrolle der Aufmerksamkeit und der motorischen Funktionen, Widerstand gegen Störungen, die Unterdrückung (Inhibition) drängender, aber den Handlungsablauf störender Reaktionen sowie Zielgerichtetheit, organisierte Suche und Flexibilität in Denken und Handeln (im Sinne von Generierung neuer Lösungsmöglichkeiten)« (Remschmidt et al. 2006, S. 44).

      Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung zeigen Defizite in den exekutiven Funktionen (Verté et al. 2006), die auch bei verschiedenen anderen psychischen Erkrankungen auftreten, wie zum Beispiel bei der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung, dem Tourette-Syndrom oder Störungen des Sozialverhaltens (Pennington et al. 1996). Es fehlt ihnen an der ausreichenden Inhibition, um zielgerichtet planen zu können und sich nicht ablenken zu lassen. Diese fehlende Inhibition wird auch bei der Kontrolle von Emotionen sichtbar: Menschen mit einem Asperger-Syndrom zeigen beispielsweise oftmals die Tendenz impulsiv und aggressiv zu reagieren, wenn sie wütend sind. Sie scheinen nicht in der Lage zu sein, erst nach alternativen Verhaltensweisen zu suchen, sondern reagieren häufig sofort mit physischer Gewalt, ohne zu überlegen (Sofronoff et al. 2007). Auch Veränderungsängste, die autismus-typischen Spezialinteressen und das fehlende vorausschauende Denken (z. B. Gefahren erkennen) lassen sich durch eine Störung der exekutiven Funktionen erklären (Ozonoff et al. 1991a; Freitag 2009).

      Ein immer wieder benutztes Paradigma, um die exekutiven Funktionen zu erfassen, stellt das Testverfahren Turm von London (Tucha und Lange 2004) dar. Bei diesem Test geht es darum, einen aus verschiedenen Bestandteilen bestehenden Turm nachzubauen, wobei jeder Schritt gut geplant werden muss. Verschiedene Studien, unter anderem die von Manjiviona und Prior (1999), konnten die Schwierigkeiten aufzeigen, die Menschen mit einem Asperger-Syndrom mit dieser Aufgabe haben. Das kognitive Profil im Bereich der exekutiven Funktionen unterscheidet sich innerhalb des autistischen Spektrums nur unwesentlich (Verté et al. 2006): Kinder mit Asperger-Syndrom, High-Functioning-Autismus


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